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Wirklichkeitsbejahung und Adressierungskunst

Ich stelle mir Birk Meinhardt als einen glücklichen Menschen vor. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob Herr Meinhardt wirklich glücklich ist. Der Satz klingt aber zum Einstieg so optimistisch und auch ein bisschen literarisch. Wie immer ist das Unglück aber der verlässlichere Partner. Wenn man Meinhardts Buch "Wie ich meine Zeitung verlor" liest, so kann man unschwer die dunklen Augenblicke in seinem beruflichen Leben der letzten Jahre ausmachen. In dem Buch beschreibt Meinhardt die langsame Entfremdung von "seiner" Süddeutschen Zeitung. Als preisgekrönter Journalist musste er feststellen, dass einige von ihm verfasste Geschichten und Reportagen nicht mehr veröffentlicht wurden. Offensichtlich passte der Chefredaktion der Tenor und die Stoßrichtung der vorgelegten Texte nicht. Inhaltlich ging es bei den drei beanstandeten Reportagen um das Investment-Banking der Deutschen Bank und den daraus resultierenden Schieflagen, um den US-Stützpunkt Rammstein und den amerikanischen Drohnenkrieg und schließlich um den Prozess eines zu Unrecht verurteilten Rechtsextremen (Alle drei Texte sind in dem Buch abgedruckt).

Insbesondere beim letzten "Fall" kann man unschwer erahnen, warum der Text nicht das Papier der Süddeutschen Zeitung erreichen konnte. Birk Meinhardt kommt zu dem Schluss:

"Das ist ja ein Dauerzustand geworden: einer Haltung Ausdruck zu verleihen und nicht mehr der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit um die Teile zu reduzieren, die nicht zur Haltung passen, und dafür die Teile überzubetonen, die sich mit der Haltung decken (...)." S. 87
Birk Meinhardt: Wie ich meine Zeitung verlor: ein Jahrebuch. Berlin: Das Neue Berlin, 2020, S. 87

Wobei der Begriff Haltung, wie Birk Meinhardt an anderer Stelle anmerkt, nicht greift, so man Haltung als Ausdruck des Selbstdurchdachten und des Eigenständigen begreift. Stattdessen hat sich "die" Haltung von diesen Mühen befreit und dient nur noch zur selbstgerechten und selbstgewissen narzisstischen Selbsterhöhung, die (persönlich und politisch) kostenlos über jene Standpunkte herfallen kann, die nicht von der Mainstream-Moral gedeckt sind. Dabei handelt es sich bei dieser Art von Haltungsgesinnung keineswegs nur um die passive Übernahme gängiger Meinungen, sondern - siehe Zitat oben - um das aktive Blockieren bzw. aktive Befeuern von unliebsamen bzw. genehmen Wirklichkeitsausschnitten.

Aber wird man einwenden: Haben wir nicht alle unsere Haltungen, die, eben weil sie aus Wirklichkeiten und Meinungen zusammengesetzt sind, nicht 'objektiv' sein können. Ja natürlich: zum einen jedoch ist die Einforderung von unbedingter Objektivität selbst schon das Resultat eines verengten Haltungskorridors. Zum anderen geht es um die Frage, wie und ob ich mich von dem "Anderen" noch adressieren lasse und ob ich diese Adressierung als ein erstrebenswertes Gut anstrebe - die Eröffnung einer möglichen Antwort, nicht einer Reaktion (Abwehr).

Gesinnungshaltung ist also eine Immunisierungsstrategie, die die eigene Identität maximal stabilisiert. Das fällt insbesondere dann ins Gewicht, wenn wir nicht mit einer Außenseitermeinung konfrontiert werden (die Welt ist eine Scheibe), sondern auf eine hegemonische Formation des Denkens und Meinens treffen. Eine beliebte und gängige Form das "gesagte Andere" von vornherein seiner Legitimität zu berauben, ist der Satz, dass diese Aussage, diese Meinung, diese Aktion etc., den falschen Leuten, der falschen Partei, der falschen Seite in die Hände spielen. Die Logik dahinter: die Antwort auf eine Frage darf nicht gehört werden, weil diese Antwort unter Umständen dazu beiträgt, dass davon (politische) Positionen (in größeren Kontexten) profitieren, die auf keinen Fall mehr akzeptabel sind.

Man erkennt die Durchschlagskraft dieser "Strategie“, wenn man eine Argumentations- und Äquivalenzkette bildet, die quer zum Mainstream steht "(das Zeichen einer Meinungsführerschaft besteht auch darin, dass die meisten ihrer Träger vergessen, dass ihrer Meinung nicht ein natürliches Resultat des richtigen Seins ist, sondern auf einer – unbewussten - Entscheidung beruht). Man stelle sich einen "rechten" Menschen vor, dem bewusst ist, dass die Klimakrise ein ernsthaftes Problem ist, dies aber nicht öffentlich aussprechen kann und will, weil damit die "Linke" Auftrieb bekäme, die wiederum die Wirtschaft enteignen und unsere Freiheit massiv beschneiden wollen. Das hört sich absurd an? Ist es aber nicht. Man muss nur die Perspektive drehen. Hier ein weiteres Beispiel aus unserer Realität.

Der Schauspieler Jan Liefers hat mit anderen Schauspielern kleine 1-2 minütige Videos gedreht und veröffentlicht, in denen auf satirische und auch sehr witzige Weise die Corona-Maßnahmen der Regierung kritisiert werden (allesdichtmachen.de). Also eine völlig legitime Meinungsäußerung, die man inhaltlich und ästhetisch nicht gut heißen muss, die sich aber auf getroffene politische Entscheidungen bezieht, die für einige Menschen gravierende – wirtschaftliche, psychische - Folgen hat. Zudem wird an keiner Stelle der Videos jemand persönlich beleidigt oder angegriffen. In einem WDR-Interview mit Liefers, geführt von Martin von Mauschwitz, lautet der erste Satz wortwörtlich:

"WDR: Ich will ehrlich sein, Herr Liefers, wir haben uns heute über Sie geärgert."
(nachzulesen: https://www1.wdr.de/nachrichten/allesdichtmachen-interview-liefers-100.html)

Meine erste Frage an Martin von Mauschwitz wäre, ob er ein solches Eingangsstatement beispielsweise Angela Merkel entgegengehalten hätte, nachdem diese eine Entscheidung verkündet hätte, mit der Herr von Mauschwitz nicht einverstanden gewesen wäre: "Frau Bundeskanzlerin, wir haben uns heute über Sie geärgert". Die Unangemessenheit dieser journalistischen Einlassung wäre sofort ins Auge gefallen und es ist zu vermuten, dass Herr von Mauschwitz arge Probleme mit seinem Arbeitgeber bekommen hätte. Das muss er in obiger Causa nicht befürchten. Es wurde in der Presse gemeldet, dass der nordrhein-westfälische SPD-Politiker und WDR-Rundfunkrat Garrelt Duin (53) forderte, dass Jan Josef Liefers (und Ulrich Tukur, der ebenfalls ein allesdichtmachen-Video veröffentlicht hat) zukünftig nicht mehr in ihren "Tatort"-Rollen zu sehen sein sollten, was er einige Stunden später dann relativierte.
Weiter im Interview:

"WDR: Aber in dem Video bedienen Sie exakt das Narrativ der Corona-Leugner, der Rechtsextremen und "Lügenpresse"-Schreihälse. Und die feiern Sie heute richtig ab. Davon haben Sie sich distanziert heute Nachmittag. Sind Sie wirklich so naiv?"

Man könnte nun trefflich darüber streiten, ob erstens das zitierte Narrativ, zudem exakt bedient wird und zweitens, um welches Narrativ es sich genau handelt. Aber es geht hier um die Struktur der "Anklage", die einfach eine Meinung desavouiert, indem sie sie mit einem anderen Kontext in Verbindung bringt.
Auffällig wird die Perfidität dieser Vorgehensweise und ihrer impliziten Unterstellungen // wir bilden eine Äquivalenzkette = kritischer Standpunkt gegen Corona-Maßnahmen > die Rechten sehen das auch so > alle Rechten sind menschenverachtend > kritischer Standpunkt ist menschverachtend // nun deshalb, weil Liefers nicht inhaltlich antwortet, sondern die Struktur dieser Gleichsetzung am Beispiel einer anderen Erfahrung ans Licht bringt:

"Liefers: Wissen Sie, wann jemand zu mir gesagt hat: 'Sind Sie so naiv?' Das war … Zentralkomitee in der DDR an der Schauspielschule. Ich kenne solche Fragen."

Übrigens weiß Birk Meinhardt eine ähnliche Geschichte zu erzählen. Die FDJ-Zeitung, bei der er als Sportreporter arbeitete, lehnte unliebsame Artikel mit der Begründung ab, dass das den Klassenfeind in die Hände spielen könnte. Es wird also nicht von ungefähr kommen, dass die Menschen mit ostdeutschen Biografien scheinbar ein feineres Sensorium dafür haben, wenn mit der Macht der guten Gesinnung darüber entschieden wird, was der Fall ist.

Während man sich im Namen der offenen Gesellschaft, der Toleranz und der Pluralität auf die Schulter klopft, räumt man auf der anderen Seite alles scham- und gewissenlos ab, was der "guten" und eigenen Sache nicht dient. Schon bei der Flüchtlingskrise war zu beobachten, dass die Medien das erzeugen, was sie sodann umso heftiger bekämpfen, zum Beispiel die zweifelnden Stimmen, die fragten, ob die Folgen dieser ungeplanten Einwanderung für alle Beteiligten wirklich vorteilhaft sein werden. Im Falle von allesdichtmachen.de muss man immerhin sagen, dass der Meinungskorridor sich etwas weitete. Armin Laschet bezeichnete den Berufsverbotsvorschlag als Skandal und nicht wenige Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger fanden die Aktion witzig, legitim und gut.

Das Rätsel stellt sich, warum ausgerechnet jene Kräfte, die den Pluralismus so eindringlich beschwören, ihn so oft mit Füßen treten. Scheinbar wird der politische Streit immer mehr von einer Wertegesinnung abgelöst, von der man in vielen Fällen nicht einmal sagen kann, dass sie sich zu einer Ideologie verdichtet. Auffällig bleibt, dass man von dem politischen Gegner gar nichts empfangen kann und will, auch wenn die Wirklichkeit diesbezüglich eine ganz andere Sprache spricht. So als ob sich auch die Wirklichkeit zuvorderst an der Wertegesinnung auszurichten hätte, unabhängig davon, ob der Gestaltungswille auf einem Fundament ruht, das die Umsetzung auch nur ansatzweise ermöglicht. Pluralismus entsteht in diesem verengten und verengenden Kontext nicht mit und aus der anderen Meinung, sondern bezieht sich allein auf die subalternen und schweigenden „Mitstreiter“, die in ihrer kulturellen und sozialen Differenz nicht stören und paternalistisch betreut werden können.

Hingegen: Ist politisches Handeln nicht jener Wettstreit, bei dem es um die Adressierungskunst der Akteure geht, jener Wettstreit, bei der die je eigene Identität und Wirklichkeitswahrnehmung mit ausgesetzt wird. Das Skandalon in heutiger Zeit: die genuin politischen Stimmen werden von jenen pseudo-politischen Positionen deshalb diskreditiert, weil die sich selbst, und damit dem Politischen, nicht trauen.

30. April 2021