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Wüste, Tod und Musik – Teil 1: Mihaly Vajda

Mihaly Vajda

Ich kannte den ungarischen Philosophen Mihaly Vajda nur sehr oberflächlich, hatte ihn vor vielen, vielen Jahren anlässlich einer Arendt-Tagung gesehen und einige Worte, Sätze mit ihm gewechselt. Ein Freund von mir hatte engeren Kontakt und besuchte ihn letztes Jahr in Budapest. Mihaly zeigte sich besorgt über die ungarische Entwicklung und erzählte, wie im Nachwende-Ungarn Viktor Orban ihn, den Dissidenten, der kommunistischen Kollaboration bezichtigt hatte (Schon 1973 schloss ihn die herrschende kommunistische Partei aus und verhängte ein Berufsverbot). Darauf erwiderte Vajda: ja natürlich Viktor, man kannte und duzte sich, ich bin ein kommunistischer Geheimagent. Zu diesem offensichtlichen Witz verzog Orban keine Miene. Da hätte Vajda gewusst, so der Bericht meines Freundes, dass Orban keinen Humor hätte und gefährlich sei.

Nun ist Mihaly Vajda am 27. November 2023 im Alter von 88 Jahren in Budapest verstorben. Seine Eltern waren assimilierte Juden und überlebten den Holocaust, weil Budapest von der russischen Armee umschlossen war und die Deportation nicht mehr stattfinden konnte. Ganz sicher wird ihn der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023, bei dem auf israelischer Seite 1.139 Menschen ermordet oder im Kampf getötet wurden, sehr mitgenommen haben. In seinem 2016 auf Deutsch erschienenen Essayband „Meine Gespenster“ schreibt er in dem Essay „Wer ist Jude in Mitteleuropa?“, dass er zwar keine allgemeingültige Definition geben möchte, aber dass neben den Religiösen, den Zionisten und denen, die zu einer jüdischen Gemeinschaft gehören, es vor allem die sind, die eine ironische Distanz zu den Dingen haben, die als Juden zu betrachten seien. Diese Verhaltenskultur, so Mihaly Vajda weiter, lässt sich nun auch bei Menschen mit nichtjüdischer Herkunft finden, aber: so what. Wir können uns alle über dieses jüdische Erbe freuen.

Geister

Damit sind wir inmitten der Debatte über unsere Geschichte und über die Geister, die uns heimsuchen. In der Auseinandersetzung mit Jaques Derrida, ebenfalls ein Philosoph mit jüdischen Wurzeln, beginnt der Essay mit den Sätzen: „Jaques Derrida ist tot. Dennoch ist er hier unter uns. ‚Sein Geist‘ ist unter uns.“ (41) Und der Essay endet damit, dass wenn der Geist – und man müsste hier im Sinne Derridas und Vajdas den bestimmten, bestimmenden, maskulinen Artikel großschreiben, also – wenn DER Geist seine Geister, Gespenster und Phantome verschlingt, dann verzehrt er sich selbst (S. 53), dann wird die Welt zur Wüste. Es ist also nicht nur so, dass wir, um mit Heidegger zu sprechen, der in diesem Essay auch seine Auftritte hat, in die Welt geworfen sind, d.h. mit der geschichtlichen, kulturellen, sozialen, sprachlichen und sonstigen ‚Ausstattung‘ vorliebnehmen müssen, in die wir unabwendbar hineingeboren wurden, nein, wir müssen in dieser Welt auch die offenen Fragen, die uneingelösten Versprechen, die Schuld und Schuldigkeiten übernehmen, die auf familiärer und kollektiver Ebene uns mitgegeben wurden. Bei dieser ‚Übernahme‘, man kann sie nicht einmal eine feindliche nennen, handelt es sich nicht um eine Frage des Willens, auch wenn es sich um einen guten Willen handeln sollte. Die Heimsuchung (von geistigen Gespenstern) ist insofern ein Automatismus, als dass die einzige Möglichkeit ihr zu ‚entkommen‘, eben darin besteht, die Welt gewaltsam zu schrumpfen (für sich und/oder für die Anderen). Nebenbei: die Heimsuchung ist ein großes Thema der jüdischen (d.h. auch unserer) Kultur, zum Beispiel: Was macht man mit einer ererbten Heimsuchung, die man nicht (mehr) versteht (Kafka); wie kann man eine Heimsuchung im Traum entschlüsseln (Freud); in welchen Zwischenräumen kann man die Heimsuchung in Freiheit verwandeln (Arendt).

30. August 2024