Wüste, Tod und Musik – Teil 3: Gespenster
Es gibt vielfältige Beziehungen des Islams zur Musik. Auch wenn es keine islamische Sakralmusik gibt (Ausnahme Sufismus), so wird Musik doch im Kontext von feierlichen und familiären Anlässen – beispielsweise Hochzeiten oder Militärmusik- als legitim, d.h. als halal angesehen. So haben im Kontext des Dschihadismus die „Naschids“, früher Volksfrömmigkeitslieder, heute Mobilisierungs-, Kampfeinstimmungs- und Durchhaltesongs, an Bedeutung gewonnen, obgleich Musik bei Fundamentalisten eigentlich nicht erlaubt ist. Problematisch gilt jedoch jede Form der Musik, die sich mit weltlichen Dingen beschäftigt, die nicht islamkompatibel sind, wie zum Beispiel Sex und Gewalt.
Hingegen hat die westliche Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts u.a. die Populärmusik hervorgebracht, die spätestens nach dem 2. WK als Rock-, Beat- und Pop-Musik auch inhaltlich und textlich fast alle Themen der Kultur bespielt hat, oftmals verknüpft mit diversen Tabubrüchen. Das Themenspektrum reicht von Liebe, Sex, Drogen, Gewalt, Depression, Spiritualität bis hin zu antireligiösen Gefühlen, um nur einige Sujets exemplarisch zu benennen (überflüssig zu erwähnen, dass auch musikalisch die Stilrichtungen sich immer weiter ausdifferenziert haben und neue hinzugekommen sind: elektronische Musik, Metal, Rap, Hiphop, Techno). Sicherlich gibt es keinen Generalnenner für diese Art von Musik (hier Pop-Musik genannt): jedoch umfasst sie spezifisch ambivalente Momente, sofern sie den Augenblick feiert, die Flucht oder Abkehr von den Zwängen einer – wie auch immer – einengenden Wirklichkeit nicht nur verspricht, sondern – zumindest für ‚3-Minuten‘ - auch umsetzt und zugleich der sogenannten Realität ein implizites oder explizites Nein entgegensetzt. Des Weiteren ist sie eine höchst individuelle Angelegenheit, als dass sie die persönliche Beziehung zur Musik, die Identifikation mit den Songs voraussetzt, ansonsten wäre die Leidenschaft, Begeisterung und ‚Wirkungsmächtigkeit‘, kurzum der umfassende Lebenseinfluss weder möglich noch verständlich. Zugleich stiftet sie jedoch auch Gemeinschaft, insofern sie modische Erkennungszeichen für die Zugehörigkeit zu musikalischen Identifikationsmustern kreiert und diese verstärkt. Es gibt Live-Events, bei denen die Fans ihren individuellen Identifikationshorizont überschreiten, der gleichwohl (und fast immer) noch die Voraussetzung für das gemeinsame Erlebnis bleibt.
All das setzt einen sehr emphatischen und vielleicht auch ideell eingeengten Begriff von Pop-Musik voraus. Unbestritten ist, dass die kommerzielle Musikindustrie ein großer Treiber für die Musikproduktion und -distribution ist, dass es sich in vielen Fällen um ein Jugendphänomen handelt, dass viele Menschen (Pop-)Musik gedankenlos und beiläufig konsumieren, es als reine (eskapistische) Unterhaltung sehen usw.
Nichtsdestotrotz bleibt die Pop-Musik auch ein Zeichen des Genießens, ein Zeichen des Widerstands (gegen die Autoritäten, gegen die Moral, gegen die Arbeitswelt) und auch ein Zeichen der Alltagstranszendierung in einer größtenteils säkularen Welt. Und jedes Konzert und jedes Festival ist auch die gemeinsame Feier der so verstandenen Individualität, da die Gemeinsamkeit nichts weiter verlangt als die fast voraussetzungslose Bejahung der dargebotenen Musik.
Umgekehrt ist die Vermutung, dass Individualität in der arabischen Welt nicht zum Kernbestand des geistigen Lebens gehört, nicht abwegig. Auch wenn ‚Mentalitätsbeschreibungen‘ und / oder sozialpsychologische Betrachtungen in der Gefahr stehen, unangemessen zu verallgemeinern, so dürften zum Beispiel die Schlüsse, die der Psychotherapeut Burkhard Hofmann in seinem Buch „Und Gott schuf die Angst. Ein Psychogramm der arabischen Seele“, in der er seine therapeutischen Erfahrungen mit arabischen Patienten beschreibt, auch ein Stück arabischer Wirklichkeit treffen (Burkhard Hofmann: „Und Gott schuf die Angst. Ein Psychogramm der arabischen Seele“ München 2018, Droemer-Verlag). Statt Individualität ist in der arabischen Welt das Bekenntnis zur Gemeinschaft, dass sich Einordnen in die Gruppe, die Unterordnung unter religiöse Vorgaben zwingend, so Hofmann. Nicht umsonst heißt ‚Islam‘ „Sich ergeben“ (in den Willen Gottes), „Sich hingeben“ (an Gott) und auch „Sich Unterwerfen“ (Unter Gott). Insofern stoßen westliche Therapieformen, so Hofmann weiter, die auf Autonomie und Individualität gründen, oftmals schnell an ihre Grenzen, da der ‚Patient‘ bei Problemkonstellationen und Deutungen umgehend auf die Wahrheit des Islam (Koran, Hadithen, Tradition) zurückgreifen würde. Statt Zweifel und Ambivalenzen würde die Gewissheit des Glaubens, der zudem in seiner Wahrheit die Überlegenheit der eigenen Religion bezeugt, ins Werk gesetzt.
Als Angstauslöser macht Hofmann jedoch das Begehren nach Autonomie aus, das im arabischen Islam hart und umfassend in die Schranken gewiesen wird. Was im Westen den Kern unserer Lebensweise ausmache (und auch: ein Problem unserer Lebensweise), nämlich als Einzelwesen mit je eigenen Gefühlen, Ideen und Wünschen zu leben und wahrgenommen zu werden (und was je eigene Probleme und Fraglichkeiten mit sich bringt), fände im arabischen Raum wenig Unterstützung. Der Islam als Staatsreligion, der nicht nur das spirituelle, sondern auch das politische, soziale und kulturelle Leben dominiert, würde für eine unzureichende Autonomiebildung in allen Lebensbereichen sorgen. Der Islam schafft, so Hofmann weiter, eine Atmosphäre der sozialen Totalüberwachen, die einerseits feste Orientierung verspricht, andererseits jedoch ein Klima des Zwangs und sexueller Bedrückung entstehen lässt.
Vielleicht könnte man mit Rekurs auf Hoffmann sagen, dass die die Angst der arabischen Seele (so es sie denn gibt) der Höhenangst ähnelt, die weniger die Angst vor der Höhe als die Angst davor bezeichnet, dass man dem Sog der Höhe nachgeben könnte. Die Angst vor der Separation ist nicht (nur) die Angst davor separiert zu werden, sondern auch davor, der Faszination einer Welt zu erliegen, die mich als Individuum erschafft und verschlingt (Dekadenz). Angst erzeugt Schuld und Schuld erzeugt Gehorsam und so dreht sich der Kreis der Unterwerfung. Natürlich mag eine solche grobe Konklusion auch arrogant sein, da sie zu unterschlägt, dass spiegelbildlich das ‚westliche Leben‘ (das es in dieser Verallgemeinerung auch nicht gibt) mit seinen permanenten Bindungssprengungen und forcierten Entortungsproduktionen oftmals auch sehr destabilisierend und angsterzeugend in das Seelenleben seiner Zeitgenossen eingreift.
Dem Begehren nachgeben und Gespenster töten
Das Psytrance-Festival war ein Wüstenfestival, bei dem Psychedelic Trance gespielt wurde. Ziel: Spaß haben, yes. Aber auch: anknüpfend an eine hippieeske Denkungsart: Bewusstseinserweiterung, Liebe, psychische Selbsterfüllung. Sicherlich auch eine (internationale) Szene, aber ebenso eine temporäre und vermischte Gemeinschaft. In der Wüste sich (selbst) genießen (und taucht hier nicht auch die Assoziation an die Sufis auf, die in der Musik und im Tanz einen Weg zum spirituellen Rausch sehen?).
Könnte der Gegensatz größer sein zu den Hamas-Terroristen, die ihre ekstatische Freude nicht nur in der Tötung ihrer Feinde finden, sondern explizit und zur Schau gestellt haben: Vergewaltigung, sexualisierter Gewalt, Folterung, Zerstückelung von Menschen, auch von Kindern, Verschleppung von Menschen, Geiselnahme. Der Firnis der Kultur ist dünn. Das gilt für viele Zeiten, für viele Regionen, für viele Menschen und Gruppen. Und jeder Konflikt hat seine eigene Geschichte mit seinen eigenen Verletzungen und Ungerechtigkeiten. Nichtsdestotrotz: das, was die Hamas hier vollbracht hat und was vielfach in der arabische / islamischen Welt bejubelt wurde und wird, ist mehr als eine para-militärische Aktion. Die freudig ausgeführte und zur Schau gestellte enthemmte Grausamkeit wirkt, als hätte jemand ein Ventil geöffnet, so dass ein ungeheurer Überdrück entweichen konnte. Aber taugt eine Metapher, die eine quasi mechanische Kausalität unterstellt? Andererseits: kann man versuchen dies zu verstehen, ohne eine kollektive Psychodynamik in Betracht zu ziehen? Hat hier ein Begehren sich selbst nachgegeben und die Auslöschung seiner eigenen Grundlage herbeiimaginiert? Oder inszeniert sich hier ein neidvolles Begehren, das das Genießen des Anderen, und wo könnte das besser zum Ausdruck kommen als in der Musik, nicht ertragen kann und dieses Genießen zur Instandhaltung seiner eigenen imaginären Reinheit zerstören muss.
Um auf den Anfang zurückzukommen: Vielleicht hat Palästina zu viele Gespenster gesehen, ohne dass ‚sein‘ Geist Wege gefunden hätte, ihnen zu begegnen. "Wenn DER Geist seine Geister, Gespenster und Phantome verschlingt, dann verzehrt er sich selbst." (siehe Teil 1) Dazu passt, dass viele palästinensische Solidaritätsbekundungen in diesem Konflikt diesen Terrorakt nicht verurteilen und ihn sogar als einen Akt des Widerstands umdeuten. Umgekehrt wird Israel vielfach für seine Kriegsführung kritisiert, ohne dass von der Hamas im Gegenzug gefordert wird, die Geiseln auch ohne Vorleistung freizulassen. Während Israel einen Diskurs über die Sinnhaftigkeit seiner kriegerischen Interventionen immerhin zulässt, scheinen die Anhänger von Hamas (und inzwischen auch der Hisbollah) keinerlei Zweifel über die Richtigkeit ihres Handelns zu hegen. Man pflegt die Erzählung des vollkommenen Opfers, für das man sich hält. Und man pflegt die Erzählung des gerechtfertigten und heroischen Kampfes, den man natürlich gewinnen wird. Je nach Situation und Opportunität schaltet man auf die eine oder auf die andere Erzählung um. Damit soll nicht gesagt werden, dass Israel diesen Konflikt nicht auch befeuert und mit illegitimen Maßnahmen wie z.B. der Siedlungspolitik verschärft hätte. Jedoch bedient sich die palästinensische Seite eines Diskurses, der auf eine Auslöschung Israels hinausläuft und der nicht zu ‚verstehen‘ scheint, dass man auch seinen eigenen Gespenstern begegnen muss. Denn: der Terrorakt beim „Psytrance-Festivals Supernova Sukkot Gathering“ wird den Palästinensern nicht nur in ihren schönen Träumen erscheinen.
Gedenken: an die vielen Menschen die sinnlos durch einen Terrorakt bei einem friedvollen Musikfestival gestorben sind. Hoffen und beten: für all die Geiseln, die sich noch in Terrorhaft befinden.
7. Oktober 2024