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Zu Besuch: Heute, die Wahrheit bei den Grünen

Die Mauer der Wahrheit

Zu jener Zeit als die deutsche Mauer noch stand und ich als Jugendlicher das Gymnasium besuchte, begab es sich, dass im Rahmen der Theater-AG die jährliche Schulaufführung vorbereitet wurde. Ich fand damals diese Art der hochkulturellen Betätigung eher lächerlich – jeder und jede, der oder die einen Hauch von Coolness für sich beanspruchte, war natürlich nicht mit von der Partie. Gespielt werden sollte „Die chinesische Mauer“ von Max Frisch. Bekanntlich wird das Stück nicht von Optimismus getragen und angesichts der damaligen historischen Kalt-Kriegs-Bedrohung durch die Atombombe ist der von Max Frisch getätigte Rückblick auf die Geschichte nicht gerade ein Mutmacher. Der zyklische Kreislauf der immer wieder durchbrechenden menschlichen Unzulänglichkeiten - Gewalt, Zynismus - begleitet die Menschheit zuverlässig durch die Geschichte.

Schließlich mussten noch einige kleinere Rollen besetzt werden und so wurden nochmals diejenigen gefragt, deren Ablehnung oder Desinteresse nicht vollumfänglich schien. Ich stimmte also zu, vielleicht um die soziale und konstruktive Ader meines Seins nicht gänzlich versiegen zu lassen – ich weiß es nicht mehr genau. Ich sollte demnach den Pontius  spielen, was erstens nur wenig Text-Repetition verlangte und zweitens auch inhaltlich ganz in Ordnung war. Aus Kostengründen bestand meine römische Rüstung aus bemalter Pappe, was bei der Aufführung dazu führte, dass ich beim Erschienen auf der Bühne einige unfreiwillige Lacher auf meiner Seite hatte, die mich so irritierten, dass ich mich bei dem kurzen Text auch noch verhaspelte.

Mein Texteinsatz hob an mit der Frage „"Was ist Wahrheit?" (Max Frisch: Die Chinesische Mauer: eine Farce; ( Version für Paris, 1972), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S. 20) Einige Zeilen später fragte sich Pontius dann: „Wie kann ich entscheiden, was Wahrheit ist." (ebda.) Zumindest ahnte ich schon damals, dass diese doch sehr grundsätzlichen Fragen und Erwägungen gar nicht einfach zu beantworten sind. Die entsprechende Passage aus der Bibel, Johannesevangelium, stellt sich wie folgt dar. Pilatus fragt als Vertreter der weltlichen Ordnung, ob Jesus der König der Juden sei. Darauf kommt die geschichtsträchtige und berühmte Antwort „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ (Joh. 18, 36). Jesus macht also dem römischen Statthalter klar, dass er überhaupt keine Ambitionen auf eine politische Intervention hat und zudem auch gar keine weltliche Macht besitzt. Nun fragt Pilatus nochmals nach, warum er dennoch ein König sei. Und an dieser Stelle kommt die Wahrheit ins Spiel. Bibel, bzw. Jesus: „Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.“ (Joh. 18, 37).

Für Pilatus, also einem Organisator, Kommandeur und Politiker, muss diese Antwort reichlich unverständlich gewesen sein. Wahrheit hatte in seinem täglichen Leben wahrscheinlich so viel Relevanz, wie die Frage nach einem schönen Fernsehabend. Bestimmt gab es für ihn so etwas wie Wahrheit, in der Form, dass die (beobachtbaren) Tatsachen mit den Aussagen übereinstimmen können, oder eben auch nicht – aber die Verkündung einer spirituellen Wahrheit, die keinen unmittelbaren (Macht-) Anspruch auf die Welt geltend machte, musste für ihn wie ein Hirngespinst wirken. In diesem Sinne wird auch seine Antwort etwas plausibler, die bekanntlich in der oben schon gestellten Frage mündete: „Was ist Wahrheit?“ (Joh. 18, 37) Das ist keineswegs nur ein opportunistischer Relativismus, sondern das Erstaunen darüber, dass jemand Energie investiert, um einen „neuen“ weltlosen Wahrheitsbegriff zu verkünden und sich damit auch noch Ärger einhandelt. Was immer dieser Wahrheit auch sein mag, unter rechtlich, politischen Gesichtspunkten schien Pilatus diese Wahrheit nicht relevant gewesen zu sein. Wie anders ist seine Antwort auf die an die jüdischen Ankläger zu verstehen, denen er in Bezug auf Jesus kurz mitteilt: „Ich finde keine Schuld an ihm.“ (Joh. 18, 37)

Hannah Arendt schrieb in ihrem Essay „Wahrheit und Politik“:
„Wer nichts will als die Wahrheit sagen, steht außerhalb des politischen Kampfes, und er verwirkt diese Position und die eigene Glaubwürdigkeit, sobald er versucht, diesen Standpunkt zu benutzen, um in die Politik selbst einzugreifen.“
Hannah Arendt. Wahrheit und Politik. In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Übungen im politischen Denken I. Serie Piper 1421. München: Piper, 1994, S. 364 (1966)

Offenbar war Jesus nicht daran gelegen, seine Glaubwürdigkeit in dieser Hinsicht zu schmälern.

Es ist Zeit. Der grüne Parteitag.

Parteitage dienen sicherlich nicht der Wahrheitsfindung. Vielmehr handelt es sich um eine Inszenierung, bei welcher der eigenen Partei und dem eigenen Personal möglichst viel öffentliche Aufmerksamkeit zugeführt werden soll. Gezeigt und gesagt werden plakativ die wichtigsten politischen Antworten, möglichst untermalt von der allumfassenden Begeisterung der restlichen Parteimitglieder. Um die Angelegenheit noch etwas bunter, schillernder, weltläufiger und kompetenzgesättigter zu gestalten und um zu zeigen, dass man keineswegs nur im eigenen Saft schmort, empfiehlt sich der Einsatz von Gastredner!innen. So auch beim Parteitag von Bündnis 90 / Die Grünen, der vom 11. bis 13. Juni 2021 aufgrund der Corona-Lage als ein digitaler Parteitag abgehalten wurde. Zum einen konnte der frühere Siemens-Chef Joe Kaeser gewonnen werden, der über den Anspruch einer „sozial-ökologischen Marktwirtschaft“ sprach und appellierte, das marktwirtschaftliche Element bei diesem Dreiklang nicht zu vergessen. Als weitere Gastrednerin trat die Autorin und Publizistin Dr. Carolin Emcke auf. Die Vita u.a. wie folgt: Magister-Abschluss bei Jürgen Habermas, Promotion bei Axel Honneth, Trägerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2016 und des Verdienstkreuzes am Bande 2017 (Letzteres ist in ihrem wohlgepflegten Wikipedia-Eintrag zu Ihrem Leben nicht aufgeführt). Aufsehen erregte ihr kleiner Video-Vortrag bei den Grünen durch den folgenden Satz, mit dem Sie auf die Denunziationskraft antiaufklärerischer Elemente hinweisen wollte:

„Es wird sicher wieder von Elite gesprochen werden. Und vermutlich werden es dann nicht die Juden und Kosmopoliten, nicht die Feminist:innen und die Virolog:innen sein, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscher:innen.“*

CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak kritisierte dies als Verharmlosung des Antisemitismus, was als politisches Manöver dann auch ziemlich schnell nach hinten los ging. Aber auch Ex-Grünenchef Cem Özdemir sprach davon, dass Vergleiche mit dem Hass, dem Menschen jüdischen Glaubens ausgesetzt sind, sind nicht angemessen seien. Dieser Sturm im Wasserglas legte sich schnell, womit aber auch über die ernsthafteren Einwände bezüglich der Rede und des obigen Satzes hinweggegangen wurde. So merkt Bernd Stegemann auf cicero.de an, dass Carolin Emcke sich selbst und ihrem politischen Milieu, also auch den Grünen. einen Opferstatus zugesprochen hat, der auf eine Art Unkritisierbarkeit hinausläuft. Thomas Wessel - auf ruhrbarone.de - sieht bei Emcke eine eigenartige Zuspitzungslogik am Werk, die sich bewusst im Ungefähren aufhält. So spricht sie von der Macht der Plattformökonomien, die die Kommunikation privatisiert und an der Unterscheidung von richtig und falsch kein Interesse haben. Wessel weist zu Recht daraufhin, dass Emcke in diesem Zusammenhang zwar von populistischen Manipulatoren und antiaufklärerische Bewegungen spricht, aber nicht genauer auf diese eingeht. Es heißt bei Emcke einfach:

„Die antiaufklärerischen Bewegungen brechen nicht lokal und spontan auf, sondern sie werden international und strategisch gezüchtet, um Misstrauen zu schüren. Das ist die Ambition aller autoritären Bewegungen und Regime, dass es nichts mehr Gemeinsames geben soll.“

Thomas Wessel kommt zu dem Fazit, dass die Rolle der Kassandra durch Emcke bei solch trüber Ausgangslage noch etwas Schubkraft braucht, um nicht an ungefährer Langeweile einzugehen, womit dann wiederum die Erwähnung der Juden durch Emcke plausibel wird.

Schaut man sich das Emcke-Video an, wie sie schwarz gekleidet, eingerahmt von zwei Bücherregalen, streng in die Kamera schaut und mit eindringlichen Worten anhebt: „Es ist Zeit für eine neue Aufklärung“, so sehen wir hier in der Tat eine reife Mischung aus protestantisch-gestrenger Predigt und kassandrischer 5-vor-12 Rhetorik. Denn laut Emcke geht es in der politischen Arena inzwischen nicht mehr nur darum, sich mit einzelnen Falschaussagen zu beschäftigen. Es ist alles viel dramatischer. Nach 18 Sekunden heißt es:

„Es ist Zeit endlich die Frage nach der Verbindung von Demokratie und Wahrheit zu stellen.“

Und in Minute 4:40, nachdem die Subjekte der Wahrheitsverdrehung als international agierende und strategisch gezüchtete antiaufklärerische Bewegungen entlarvt wurden (s.o.) stellt Carolin Emcke fest:
„In Frage gestellt wird die Möglichkeit des verbindlichen Wissens selbst.“
Und nach 6:30 Minuten heißt es schließlich:
„Nur eine Demokratie, die sich der Wahrheitsorientierung verpflichtet fühlt, ist eine.“

Muss man diese Dramatik wirklich ernst nehmen? Gehört Klappern nicht zum Handwerk? Und Frau Emcke wird nicht von Luft und Liebe leben. Nur ist es eine gute Idee, die Wahrheit so in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung zu stellen? Und handelt es sich bei der Wahrheitsrhetorik nicht um eine Verkennung der politischen Sache selbst?

Die Axt bei den Grünen

In dem schon weiter oben erwähnten Essay von Hannah Arendt beschäftigt sich diese ausführlich mit dem Zusammenhang zwischen Wahrheit und Politik. Für Arendt ist klar, dass die Meinung, nicht die Wahrheit, zu den unersetzlichen Voraussetzungen aller politischen Macht gehört.

„Das heißt aber, dass innerhalb des Bereichs menschlicher Angelegenheiten jeder Anspruch auf absolute Wahrheit, die von den Meinungen der Menschen unabhängig zu sein vorgibt, die Axt an die Wurzeln aller Politik und der Legitimität aller Staatsformen legt.“
Hannah Arendt. Wahrheit und Politik. In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Übungen im politischen Denken I. Serie Piper 1421. München: Piper, 1994, S. 364 (1966)

Man könnte die Sache mit dem Hinweis beenden, dass der Versuch, Wahrheit in die Politik einzuführen, die konstitutiven „Zutaten“ der Demokratie, wie Meinungen, Pluralismus und Freiheit mittelfristig vernichtet.** Aber Arendt hätte nicht einen relativ umfangreichen Essay geschrieben, wenn die Sache mit der Wahrheit und der Politik nicht noch andere Aspekte umfassen würde. Sie schreibt, dass Wahrheitsansprüche durchaus unterschiedlicher Art sein können: es gibt die mathematische Wahrheit (Dreiecks-Winkelsumme = 180°), die wissenschaftliche Wahrheit (Erde dreht sich um die Sonne), die philosophische Wahrheit (besser, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun) und die Tatsachenwahrheit (Im Ausgust 1914 fielen deutsche Truppen in Belgien ein). (ebda. S. 340).

Arendt interessiert sich dabei insbesondere für den Unterschied zwischen den Vernunftwahrheiten, deren Gegensätze für sie Irrtum, Illusion oder bloße Meinung sind, zu den Tatsachenwahrheiten, deren Gegensatz die Lüge ist. Dabei mag es zunächst erstaunlich anmuten, dass Arendt am Lügen ausdrücklich hervorhebt, dass es ein Handeln ist und es „zu den wenigen Daten gehört, die uns nachweislich bestätigen, dass es so etwas wie Freiheit gibt.“ (ebda. S. 353) Wahrhaftigkeit, so Arendt weiter, trägt hingegen wenig zum politischen Geschehen der Veränderung der Welt bei.

Halten wir also fest, dass für Arendt mathematische oder wissenschaftliche Wahrheiten keine Rolle in der politischen Praxis, also im Handeln, spielen können. Das besagt nicht, dass zum Beispiel die falsche statische Berechnung eines Hauses, das daraufhin einstürzt, nicht zu politischen Diskussionen führen kann. Vielleicht geht es dabei um Verantwortlichkeiten, Qualifikationen etc. Aber die mathematischen Prinzipien der Berechnung selbst werden dabei kaum Diskussionsgegenstand sein. Allerdings kann man gegen Arendt kritisch einwenden, dass die Wissenschaften keineswegs ein machtfreier Raum sind. Inzwischen ist hinlänglich bekannt, dass in vielen Wissenschaften das Handeln in Form von Netzwerken, Veröffentlichungspraxis, Reputationsmanagement etc. zur Durchsetzung der eigenen Wahrheitsansprüche durchaus eine große Rolle spielt. *** Insofern befinden sich die Wissenschaften keineswegs in macht- und handlungsfreien Räumen, was umso mehr gelten dürfte, je mehr diese Wissenschaften den oder die Menschen und seine Handlungsweisen zum Subjekt ihrer Forschung auserkoren haben.

In Bezug auf die philosophischen Wahrheiten weist Arendt darauf hin, dass allein die Moralphilosophie hier so etwas wie Evidenz und Beweise liefern kann, indem sie ihre Wahrheit in Form eines Beispiels manifestieren kann. Wenn die philosophische Wahrheit in ihrer reinsten Form nur für den Menschen im Singular gilt, kann die Moralphilosophie immerhin durch Exempel und Beispiele die Abstraktheit der Prinzipien auf konkrete Zusammenhänge herunterbrechen und so versuchen die Vielen zu überreden. Damit sind aber nicht die prinzipiengeleiteten Wahrheiten an sich für die „Verbreitung“ verantwortlich, sondern das Handeln derjenigen, die die Anderen zu überzeugen versuchen. Das Funktionieren oder Nicht-Funktionieren dieser „Logik“ ist immer dann gut zu beobachten, wenn die hochgehaltenen moralisch universelle Grundsätze, die auf einer abstrakten Ebene quasi kostenlos zu haben sind (wer kann z.B. ernsthaft etwas gegen die Würde des Menschen haben), dann in „Vergessenheit“ geraten oder fraglich werden, wenn die daraus folgenden Konsequenzen unmittelbar das eigenen Leben betreffen (Natürlich lassen sich im Umkehrschluss die moralischen Grundsätze vertreten, wenn die Suppe der Konsequenzen von anderen ausgelöffelt werden muss).

Wenn Emcke in dem Video eine neue Aufklärung anmahnt und dabei den moralischen und epistemischen Relativismus anklagt, handelt es sich um ein doppeltes Missverständnis. Entweder gilt die Wahrheit, dann sind die moralischen und epistemischen Ansprüche dieser Art im politischen Raum deplatziert und letztendlich gefährlich. Oder diesen Ansprüchen betreten explizit die politische Arena, womit sie nicht relativistisch, sondern politisch sind. Dann müssen sie auch bereit sein, sich den unterschiedlichsten Standpunkten und Meinungen aussetzen und sich diesen zu stellen.

Kommen wir zu den Tatsachenwahrheiten zurück, die Arendt in diesem Essay so wichtig sind. Wie schon erwähnt, ist die Lüge, die die Tatsachenwahrheit negiert, weder eine a-politische, noch eine dramatische Handlungsweise. Eine singuläre Lüge verletzt die Welt nicht umfänglich und wird unsere Weltbezüge auch nicht grundlegend erschüttern. Jedoch sieht Arendt in der organisierten Lüge, in der umfassenden Propaganda, so wie sie totalitären und diktatorischen Systemen zu eigen ist (also ein exklusiv modernes Phänomen), sehr wohl eine große Gefahr. Lügen und Totalfiktionen ersetzen nicht die Wahrheit, sondern wirken welt-destabilisierend und führen zum Zynismus:

„Denn das Resultat ist keineswegs, dass die Lügen nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird.“
Hannah Arendt. Wahrheit und Politik. In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Übungen im politischen Denken I. Serie Piper 1421. München: Piper, 1994, S. 361 (1966)

Werden die Tatsachenwahrheiten permanent destabilisiert, so gerät die gesamte Wirklichkeit aus den Fugen. Damit zeigt sich aber auch ein anderer Aspekt dieser geschichtlichen Tatsachenwahrheiten. Sie sind also solche das Resultat vorhergehender (politischer) Entscheidungen, und damit weder geschichtlich notwendig oder von der Geschichte determiniert, noch können sie den weiteren Fortgang der Geschichte vorgeben. Sie sind realitätsgesättigte Verdichtungen, die dank ihrer bezeugten Gravitationskraft weiteres gemeinsames Handeln herausfordern und inspirieren. Vor allem, und auch dies betont Arendt, kann man die (geschichtliche gewordene) Wirklichkeit nur Verstehen, wenn die Fakten und Ereignisse als eine Geschichte erzählt werden, in dem die Fakten ihre ursprüngliche Beliebigkeit verlieren (ebda. S. 367).

Auch in diesem Zusammenhang noch ein Beispiel aus dem Video. Emcke beklagt die Lüge vom „Bevölkerungsaustausch“ und die Lüge von der „Hygienediktatur.“ Nun kann man sowohl den einen als auch den anderen Begriff aus guten Gründen in die Nähe von verschwörungstheoretischen Wirklichkeitsverzerrungen stellen. Unbestreitbar bleibt aber, dass beide Begriffe von einer Tatsachenwahrheit motiviert werden – in einem Fall die Zuwanderung nach Deutschland 2015, die im Saldo 1,14 Mio. betrug und im anderen Fall die einschneidenden Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Krise. In diesem Sinne könnte man alternative Erzählungen - z.B.: die Migration als Glückfalls oder: das Hygienevernunftregime - ebenfalls als Lügen bezeichnen: Besser aber als das, was sie sind: politische Meinungen, mit den es sich auseinanderzusetzten gilt.

Wird die Wahrheit in die Politik hineingetragen, handelt es sich meist um angstbesetzte Diskurse, die jene Probleme verstärken, die sie vorgeben zu bekämpfen. Von daher würde ich es gerne hören, wenn Carolin Emcke auf der Bühne als Pontius Pilatus in „Die Chinesische Mauer“ sagen würden: „Wie kann ich entscheiden, was Wahrheit ist." Das ist keine Diffamierung, sondern eine Hoffnung.


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* Scheinbar gibt es das Video auf Youtube nur noch in einer kritisch kommentierten Fassung - https://www.youtube.com/watch?v=uF3Hlelg5yc

** Der französische Theoretiker Claude Lefort schreibt:
"In meinen Augen ist das Wesentliche, dass die Demokratie sich dadurch instituiert und erhält, dass sie die Grundlagen aller Gewissheit auflöst.” Claude Lefort: Die Frage der Demokratie; in: U. Rödel (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie; Frankfurt/M. 1990 (1983); S. 296
In diesen Zusammenhang gehört auch der Hinweis von Lefort, dass in der Politik der Platz des Souveräns leer ist.

*** Das sich wissenschaftliche Wahrheit nicht aus sich selbst ergibt, hat am provokantesten wohl Paul Feyerabend auf den Punkt gebracht:
"Es gibt also keinen klar formulierbaren Unterschied zwischen Myhten und wissenschaftlichen Theorien."
Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang =: Against method.; Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 597. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2016, S.385

30. Juni 2021