“Man stelle sich einen Mann vor, der durch Veranlagung und Mißgeschick zu einer blassen Hoffnungslosigkeit neigt - kann irgendeine Beschäftigung geeigneter erscheinen, sie noch zu verstärken, als das fortwährende Umgehen mit unbestellbaren Briefen und ihr Sortieren für die Flammen?”
Herman Melville: Bartleby, der Schreiber, Frankfurt/M., Leipzig 2004 (1853), S. 73
Es gibt Tage, da scheint unser aller Tagesgeschäft daraus zu bestehen, unbestellbare Briefe mit uns herum zu tragen. Das Gebet als Flaschenpost der Seele?
30. Oktober 2016
“Optimist ist mit Notwendigkeit der, dessen Wille noch nicht reif ist für den Tod.”
Philipp Mainländer: Vom Verwesen der Welt und anderen Restposten, Walttrop und Leipzig 2004 (1874), S. 101
Ist das nun ein pessimistisch gefärbter Satz? Und wer ist schon reif für den Tod? Anfänglich, vor jeder Fraglichkeit des Seins (vor jeder Frage als Aufgabe der Philosophie) ein ursprüngliches Ja. Erst auf dieser Folie kann die Frage nach Optimismus oder Pessimismus gestellt werden. Unser Wille, der sich berufen fühlt, zu steuern, ist schon ans Ja-Leben verschuldet.
25. September 2016
“Ein jeder meint es unendlich gut mit der Menschheit, nicht aber mit jedem einzelnen Menschen.”
Karel Capek: Das Absolutum; Berlin 1990 (1922), S. 172
Je abstrakter und ungreifbarer das Ziel unserer Utopien, umso einfacher verschwindet das Widerständige aus dem Bewußtsein.
28. August 2016
'Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang.' Ein Sprichwort-Klassiker aus Schillers Glocke, die bekanntlich nur so von zitierfähigen Weisheiten strotzt. Da der Entstehungsprozess einer Glocke von Schiller mit den einzelnen Lebensabschnitten parallel geführt wird, steht nun beim Guß(!) der Glocke die Ehe an, was lebensphasentechnisch zur nachhaltigen Bindungsfrage überleitet und durch Verwechslung von Eros und Liebe zu einer suboptimalen Entscheidung führen kann, mit den oben benannten Folgen. Allerdings eignet sich der Satz auch zur Umschreibung aller andern gefühlsgesteuerten Fehlleistungen, die bekanntlich im Leben eines jeden Menschen auf breiter Basis nachhallen. Der Wahn ist kurz ...
7. Juli 2016
Wenn man wissen möchte, was postheroisches Leben eigentlich heißt ('heißt' im Heideggerschen Sinne von 'Was heißt denken'), der lese die mittelalte deutsche Popliteratur, in der Heinz Strunk seinen Protagonisten darüber räsonieren lässt, wie angenehm es sein müsste, ein Leben im Halbschlaf zu verbringen (einnicken, dämmern, kurz wieder aufwachen - in: 'Die Zunge Europas') und in der Benjamin von Stuckrad-Barre sich die Harald Juhnksche Definition von Freiheit, 'Keine Termine und leicht einen sitzen' haben, wohlwollend herbeizitiert (in: 'Panikerz').
Was uns das sagt? Die Idee vom guten Leben besteht heute, wenig überraschend, nicht aus der Kultivierung einer Tugend und auch nicht, was näherliegender wäre, aus einem fortgesetzten Exzess, der sich, so könnte man vermuten, im Laufe der Moderne selbst desavouiert hat, sondern in einer Sedierung ohne Zwang. Die scheinbare Ausweglosigkeit der individuellen und gesamtgesellschaftlichen Lebenswirklichkeit lässt sich maximal noch dämpfen, nicht mehr überwinden oder transformieren. Die glücklichen Momente halten die Realität weichgezeichnet auf Abstand.
13. Juni 2016
Was wichtig ist? Ganz einfach. Nennen wir es den Nietzsche-Test.
Bitte die Lücke ausfüllen, ohne den Satz zu einem lächerlichen oder ironischen werden zu lassen:
“Ohne ____ wäre das Leben ein Irrtum.”
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Die Nietzsche Antwort lautet:
“Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.”
Friedrich Nietzsche: Götzendämmerung; Frankfurt/M. 1985 (1888); S. 15
12. Juni 2016