“Du, Schlaf, der oft dem Grame Lindrung verleiht, Entziehe mich mir selbst auf kurze Zeit.”
William Shakespeare: Ein Sommernachtstraum; Zürich 1979 (1595/96 ), S. 48
Selbst-Entzug - entspannend, wenn das Ich nicht mehr auf Ich-Droge ist.
23. April 2014
"Weil es endlich an der Zeit ist, dem armen tugendhaften Menschen eine Erholung zu vergönnen; weil der Ausdruck ‘ein tugendhafter Mensch’ im Munde der Menschen hohl und wertlos geworden ist; weil sie den tugendhaften Menschen sozusagen in ein Pferd verwandelt haben und es keinen Schriftsteller gibt, der nicht mit ihm herumkutschierte und es mit der Peitsche und allem, was ihm sonst noch in die Hand kommt, antriebe; weil sie den tugendhaften Menschen dermaßen zermartert haben, dass jetzt auch nicht ein Schatten von Tugend mehr an ihm zu finden ist, sondern von dem Körper nur die Rippen und die Haut übriggeblieben sind; weil es eine Heuchelei ist, wenn sie den tugendhaften Menschen an den Wagen rufen; weil sie den tugendhaften Menschen gar nicht achten."
Nikolai Gogol: Die toten Seelen; Frankfurt/M. / Leipzig 2003 (1842); S. 307 f.
Heute spannt man nicht den tugendhaften, sondern den selbstgemanageten Menschen vor den Karren des produktiven Lebens, was den Vorteil bietet, dass man durch Selbstkasteiung sich eigenhändig das Fleisch vom Körper peitscht, in der Hoffnung etwas schneller voran zu kommen. Aber nicht nur peitschen, auch mal streicheln. Ist gut für die Seele und die Haut.
16. April 2014
"Oder ist das Leben aller Menschen so wie das von uns ordentlichen Leuten - wie das Leben der Ashburnhams, der Dowells, der Ruffords - ein zerbrochenes, gewitteriges, quälendes und unromantisches Leben, zuzeiten von Schmerzensschreien, von Torheiten, von Tod und tausend Ängsten gezeichnet?"
Ford Madox Ford: Die allertraurigste Geschichte; Zürich 1978 (1915); S. 230
Ja, aber auch ein freudiges, eindrückliches, überschwengliches, unglaubliches, unbegreifliches Leben, zuzeiten von Glücksrufen, von Hilfsbereitschaft, von Geburt und vielen neugierigen Momenten gezeichnet.
Die Mittelmäßigkeit des ordentlichen Lebens entsteht nicht dadurch, dass es nur ‘schlecht’ oder mal so und mal so ist, sondern dass die Dinge immer auf eine bestimmte Art und Weise sein sollen. Die Spießigkeit des Reihenhausbesitzers mit geometrisch angelegten Vorgarten unterscheidet sich hier z.B. nicht von einer autonomen Szene mit ihren eingefrorenen Denkschablonen (wobei ich mich seit jeher frage, wie jemand sich ‘autonom’ nennen kann, ohne sofort in schallendes Gelächter auszubrechen).
10. April 2014
"Das Gebot des alten Despotismus lautete: ‘Du sollst nicht.’ Das Gebot der totalitären Systeme hieß: ‘Du sollst.’ Unser Gebot ist: ‘Sei.’"
George Orwell: 1984; Frankfurt/M. - Berlin - Wien 1976 (1949); S. 235
Überwachung wühlt nicht mehr in den Tiefen des Sinns. Als ob es jemanden interessieren würde, was wir unseren Tagebüchern anvertrauen: gestern traurig, heute voller Hoffnung, morgen verliebt und dann noch die Verdauung, so als wüsste ich, wie es um mich bestellt ist.
Dagegen Milliarden und Billionen von - an sich trivialen - Daten, über die man Algorithmen laufen lassen kann, die neue Algorithmen und neue Muster finden: männliche Studenten die x-Stunden die Woche im Internet Pornographie konsumieren, mit einer bestimmten Kreditkarte Lebensmittel mit einem Zuckeranteil von x-Prozent einkaufen, dabei x-mal im Jahr einen Frisör aufsuchen und als Verkehrsmittel vor allem Fahrrad und Bahn nutzen, werden mit x-prozentiger Wahrscheinlichkeit vor ihrem x-ten Lebensjahr heiraten und mit x-prozentiger Wahrscheinlichkeit vor ihrem x-ten Lebensjahr einen Herzinfarkt erleiden. Frauen, die mehr als 2 x im Jahr sich im Ausland aufhalten, mehr als eine Fremdsprache sprechen und häufiger als 2 x am Tag in einem sozialen Netzwerk aktiv sind, werden mit einer Wahrscheinlichkeit von x-Prozent eine Führungsposition bekleiden und mit x-prozentiger Wahrscheinlichkeit psychisch erkranken. Kein Klischee, das nicht bestätigt oder durchbrochen werden könnte.
Daher lautet die angstvolle Frage nicht mehr, was der Andere (ein Platzhalter für viele freundliche Institutionen) über mich als konkrete Person weiß, wieviel er von meinem Wissen und Bewußtsein er sich angeeignet hat, sondern ob die Algorithmen gefunden und berücksichtigt werden, welche mich mit meinem Verhalten und meinen Besonderheiten umfassend repräsentieren.
6. April 2014
"Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest in dem Lande, daß dir der HERR, dein Gott, gibt.”
Exodus 20,12
… weh mir, spricht Hölderlin, wo nehm’ ich, wenn es Winter ist die Blumen und wo den Sonnenschein. Aber wer kann über seine Lebenshälfte wirklich, also nicht nur spekulativ nachträglich sprechen? Plötzlich - Herzinfarkt, Krebs, in anderen Weltgegenden Autobomben, und woanders auch, wo kleine Menschen nicht können zählen bis 2.
Aber hier, eine Generation noch vor mir, habe ich geehrt genug? Und was bin ich alles schuldig geblieben, und was, nicht im Gebot verzeichnet, ist die Klage die ich führen könnte? Aber nach mir die nächste Generation; vor-pubertär/pubertär nimmt sich das ‘Kind’ oder probiert zuweilen die Freiheiten, die mit der Ehre und dem Ehren nichts zu tun haben. Nicht schlimm, denn das ist nun die Hälfte, egal was kommt.
6. April 2014
"Was ist alles, was in Jahrtausenden die Menschen taten und dachten, gegen einen Augenblick der Liebe?"
Friedrich Hölderlin: Hyperion oder ein Eremit in Griechenland; Frankfurt/M. 1979 (1797-1799); S. 71
Mit Hölderlin: Das schöne und schreckliche im und am Leben ist, dass alle Last - und im umgekehrten Fall auch alle Freude -, alle Schichtungen des gesammelten Lebens, gleich welcher Art, in einem Augenblick relativiert werden und verglühen können (Was ist alles … gegen?). Dagegen die Ebene des Lebens: Das gute Leben besteht nicht aus einer kontinuierlichen Kette solch ‘liebender’ (das wäre Hybris) oder dunkler’ Augenblicke (das wäre die Hölle), sondern aus der Fähigkeit, nach solchen Augenblicken weiter leben zu können. Vermutungsweise.
6. April 2014