Das Pfeifen im Walde ist sprichwörtlich. Gefahr droht und das Peifen, also im weitesten Sinne eine musikalische Aktion, versucht die Situation zu entschärfen, versucht den eigenen Mut wieder zu finden. So ist Musik, wie fest oder lose diese Verbindung auch gesponnen wird, immer auch ein guter Wegbegleiter, der sich uns zugesellt, ohne dass wir genau wissen, woher er eigentlich kommt. Vermutungen:
“Der beste Beweis, dass die Musik keineswegs menschlicher Natur ist: Sie ruft nie die Vorstellung der Hölle hervor.”
E. M. Cioran: Von Tränen und Heiligen; Frankfurt/M. 1988 (1986), S. 30
So die Hölle die Ausweglosigkeit markiert, so die Musik die Möglichkeit vieler und anderer Ausgänge. Sie trägt ihren Vermittlungsraum, zumindest ein Teil dieses Raumes, praktischer Weise gleich mit. Und wo Vermittlung mitschwingt, ist es um alle Einseitigkeiten geschehen. Nicht nur ist Musik Schichtung, Differenz und Rhythmus, sondern ein Oszillieren:
"Denn es gibt in der Primärgestik aller Musik einen Dualismus von Ausfahrt und Heimkehr."
Peter Sloterdijk: Weltfremdheit. Frankfurt am Main, 1993, S. 301
Als Jugendlicher war für mich diese Bewegung unendlich wichtig, da sie - auch in ihren trivialeren Varianten - ein anderes Leben verhieß, indem nicht nur bestehende Formen negiert wurden, sondern ein anderes Sein, wie rudimentär auch immer, eingelöst wurde:
"Die beiden ewig konkurrierenden Beschreibungen der Pop-Musik, insbesondere ihrer heroischen Momente in Gegenkultur, Punk und Rave - großes glückliches Ja und großes sarkastische Verweigerung - bilden eine Einheit: ein Nein im Modus des Ja und umgekehrt."
Diederichsen, Diedrich. Über Pop-Musik. Kiepenheuer & Witsch, 2014, S. XIII
Mögen sich das Ja und das Nein auch kompliziert verhaken, so übersteigt die Musik diese eigenartige Dialektik doch wiederum im Sinne einer grundlegenderen Bejahung. Nicht eigentliche Bejahung dessen was ist, sondern des vielfach ge- und entfalteten Seins (der Schichtungen, Differenzen, Rhythmen, s.o.). Und weiter:
“Es gibt keine Kultur - von den Indern der Upanischaden bis zu den Juden der Psalmen, von den Babylonieren bis zu den Azteken, von den Ägyptern bis zu den Japanern, von den Sufis bis zu den Balinesen -, die nicht weiß und erfahren hat: Musik ist ein Lobgesang.”
Joachim-Ernst Berendt: Das Dritte Ohr. Vom Hören der Welt; Reinbek 2004 (1985); S. 368
Und es gibt ganz wenige Bücher, die mich in Bezug auf ein Thema mit solcher Sachkenntnis, Freundlichkeit und Leidenschaft adressiert haben, wie dieses Buch von Joachim-Ernst Berendt. Zur Person: Berendt wäre vor gut einem Monat 100 Jahre alt geworden (* 20. Juli 1922 in Berlin-Weißensee; † 4. Februar 2000 in Hamburg). Als Musikjournalist und Musikproduzent hat er sich nach dem Krieg nicht nur in Deutschland für die Vermittlung und Förderung der Jazz-Musik verdient gemacht. Insbesondere sein 1953 veröffentlichtes Jazzbuch wurde ein großer Erfolg. Und schon in den Zitat-Widmungen zu Beginn des Buches wird seine eigene Denkungsart sichtbar: "Man lernt nichts kennen, außer man liebt es. Goethe / Du mußt lieben, um spielen zu können. Luis Armstrong / Der wichtigste Beitrag, den du für die Tradition leisten kannst, ist, deine eigene Musik machen - eine neue Musik. Anthony Davis / In der Musik gibt es etwa, das mehr ist als Melodie, mehr als Harmonie: die Musik. Guiseppe Verdi".
Und ganz sicherlich hat diese Denkungsart und dieser Ton wiederum mit seiner Hinwendung zu den philosophischen und spirituellen Dimensionen der Musik zu tun, mit denen er sich später auseinandersetzte. Anfang der 80er Jahre sendete der Südwestfunk das zweiteilige Radio-Feature „Nada Brahma. Die Welt ist Klang“, aus dem auch das gleichnamige Buch entstand. Einige Jahre später erschien von Berendt „Das Dritte Ohr. Vom Hören der Welt“, aus dem schon weiter oben zitiert wurde und in dem das Hören in seiner zentralen Bedeutung für unseren Weltbezug entfaltet wird. Dabei arbeitet Behrendt nicht nur die existentiellen, sondern auch die (gesellschafts-) politischen Implikationen heraus, die mit dem Hören verbunden sind. Exemplarisch dafür, mag das folgende Zitat stehen.
“Und die Aggressivität, die die Psychologen als Folge der Überbetonung des Sehsinns beobachtet haben, gewinnt ihr wahres Gewicht in Bezug auf das, was sie für unsere Zivilisation bedeutet, erst dann, wenn gleichzeitig die entsprechenden Ergebnisse für den Hörsinn beachtet werden: Rezeptivität, Milde, Feminität, Verständnis, Zurückhaltung, Aufnahmefähigkeit, Offenheit, Toleranz.”
Joachim-Ernst Berendt: Das Dritte Ohr. Vom Hören der Welt; Reinbek 2004 (1985); S. 56
Der Spiegel brachte am Tag von Berendts Tod, also am 04.02.2000, unter der Überschrift „Jazzpapst Joachim-Ernst Berendt ist tot“, die Meldung: „Berendt, der Wegbereiter des Jazz in Deutschland, ist in Hamburg bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Berendt war Autor des meist verkauften Jazzbuches der Welt und 1945 Mitbegründer des Südwestfunks.“
Die besondere und tragische Pointe dieses bemerkenswerten Lebens wird hingegen in dem Wikipedia-Eintrag zu seiner Person nachgereicht:
„Auf dem Weg zu einer Vorstellung seines Buches „Es gibt keinen Weg. Nur gehen.“ überquerte er trotz des roten Ampelsignals eine Straße.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Joachim-Ernst_Berendt Stand 21.08.2022
Aber vielleicht war es im eigentlichen Sinne kein Unfall, sondern die tragische Veranschaulichung seiner Einsicht, dass wir an den zugespitzten visuellen und technischen Imperativen unseres Zeitalters Schaden nehmen werden. Hingegen lautet sein Plädoyer für eine keineswegs esoterische Spiritualität, die Schwingungs- und Rhythmuspotentiale des Universums und des Menschen ernst zu nehmen (also das Universum als Musikinstrument, das Individuum als Manifestation des Universums zu begreifen). So wir umgekehrt aufhören, auf das zu hören, was mit uns in einer schwingenden Beziehung steht, werden wir implodieren oder überrollt. *
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* Es ist ermutigend, dass auch in dem rationalitäts- und fundierungsverliebten Fachgebiet der Soziologie inzwischen an diese Gedanken angeknüpft werden kann und einige Lockerungsübungen möglich sind. Siehe zum Beispiel: Hartmut Rosa: Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin, 2016
23. August 2022
Als junger Mensch, ich war vielleicht neunzehn oder zwanzig, die Szene spielt also in den 8oer Jahren, kann ich mich an einen Besuch bei einem Freund erinnern, ich würde sagen: damals mein bester oder besser, mein interessantester Freund, der mir ein Buch zeigte, das er kürzliche gekauft hatte: Jean Baudrillard, Titel „Der symbolische Tausch und der Tod.“ Das Buch hatte einen grauen Einband, kein Hardcover, der wiederum aus gröberen, d.h. ungestrichenen festeren Papier bestand. Es hatte etwas Raues, Direktes, Ursprüngliches. Ich habe noch ein kleines Rimbaud-Buch, Seiten-Sprünge von 1986, ebenfalls bei Matthes & Seitz verlegt, das die gleiche Einband-Qualität aufweist.
(Nebenbei: darin die berühmten Worte „ES DENKT MICH. (…) ICH ist ein ANDERER.“
Arthur Rimbaud: Seiten-Sprünge. Debatte 26. München: Matthes & Seitz, 1986.S. 24
In diesem Zusammenhang, der sich noch gar nicht hergestellt hat, auch schön:
„Kapitalisten Könige Parlamente: Krepiert!
Gewalt, Gesetz Geschichte: Kratzt ab!
Das steht uns zu: Blut! Blut!
Die Flamme des Goldes!“
Ebda, S. 73 – Ja, die Jugend!)
Vielleicht irre ich auch, was den Einband angeht. Der Titel sollte jedoch über die Jahre fest im Gedächtnis verankert bleiben, obwohl ich damals gar nicht wußte, was in dem Buch verhandelt wird. Ich habe es erst viele Jahre später gelesen. Aber der Titel „Der symbolische Tausch und der Tod.“ war eine poetische Chiffre, eine noch ausstehende Verheißung für ein umfassendes, wenn auch esoterisches Seinsverständnis (Die französische Originalausgabe von 1976 heißt übrigens"L'échange symbolique et la mort"). Ich bin heute der Meinung, dass Baudrillard mit vielen seiner theoretischen und politischen Ausführungen neben der Spur liegt. Aber wie mir scheint, hat ein zentrales Motiv seines Denkens, das in dem besagten Titel auch schon angelegt ist, weiterhin Gültigkeit. Nämlich die Abkehr von einem linken ökonomischen Determinismus (1976!) hin zu einem Denken, das - nennen wir es hier der Einfachheit halber - das ‚undenkbare Andere‘ zum Anstoß für ein ‚anderes Sein‘ nimmt.
“Und die Naivität des (liberalen oder revolutionären) humanistischen Denkens liegt darin, nicht zu sehen, dass seine Ablehnung des Todes im Grunde die gleiche wie die des Systems ist: die Ablehnung von etwas, was dem Wertgesetz entgeht.”
Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod; Berlin 2005 (1976), S. 273
Daher bleibt umgekehrt auf symbolischer Ebene der Tausch, auch wenn er reale Dinge - wie zum Beispiel beim Schenken - mitumfasst, immer ein ‚paradoxer‘ Tausch, weil man keine Werte austauscht, die nach einem Wertesystem in Beziehung gesetzt werden können, sondern im Grunde genommen etwas teilt, das niemand besitzt und für das es keinen Maßstab gibt, den man sich aneignen könnte. Vielleicht könnte man sagen: Der symbolische Tausch ist eine Teilung von etwas, das es nicht ‚gibt‘, uns aber (oder deshalb) affiziert. Das hat etwas – im freudschen Sinne – Unheimliches, ganz im Gegensatz zur Kommunikation, in der wiederum versucht wird, das Wertgesetz auf symbolischer Ebene einzuführen, indem die ‚Information‘ zur Wert-Einheit wird, die bruchlos vom Sender zum Empfänger und wieder zurück transferiert werden kann (In gleicher Weise tauschen / schenken wir heute keine Dinge mehr, sondern begleichen Außenstände, die immer im richtigen Verhältnis zueinander stehen müssen; aber so einfach ist das auch nicht).
In diesem Sinn kommt man dem Tod (und dem Sein) immer dort näher, wo der Tausch, das Geschäft, die Transaktion nicht aufgeht. Daraus lassen sich zahlreiche Schlussfolgerungen ziehen, zum Beispiel - sehr witzig - , dass der Kunstmarkt der Tod der Kunst ist. An den Rändern des Lebens spielt das Leben mit den größten Einsätzen. Deshalb sind Drogen und ihr Konsum ein äußerst sensibles Thema, weil man mit ihnen in die Tektonik ganzer Gesellschaften eingreift (das Handels- und Konsumverbot, das für zahlreiche Drogen gilt, führt – unschwer ist diese Wendung zu erahnen - zur Wiederkehr des Verdrängten, dergestalt, dass Drogenanbau und die Distribution eine äußerst große Schattenökonomie bilden, die durch umfassende Gewalt sich auszeichnet. Und vielleicht ist auch hier die Gewalt ein Zeichen dafür, dass es keine ‚reine‘ Ökonomie geben kann). Im Eskapismus, in der Bewusstseinserweiterung und im körperlichen, geistigen oder finanziellen Ruin teilen uns Drogen mit, dass es keine normale Lebensökonomie gibt.
"Jeder Drogenkonsum beruht auf einem Gegengeschäft. Wer sich darauf einlässt, der bietet eine selbstverständliche Funktion seines Körpers - vorausgesetzt alles dort befindet sich in einem guten Zustand -, um eine außergewöhnliche Fähigkeit einzutauschen. Ein gutes Hautbild beispielsweise kann zum Tauschobjekt werden, eine unproblematische Leberfunktion, ein zuverlässiges Gedächtnis. Möglicherweise auch Lebenszeit. Unter Umständen das Leben selbst."
Alexander Wendt: Kristall: eine Reise in die Drogenwelt des 21. Jahrhunderts. Tropen Sachbuch. Stuttgart: Tropen, 2019. S. 9
Das Gegengeschäft, das wir mit den Drogen eingehen, geht oftmals nicht auf. Wir bekommen immer mehr oder immer weniger von dem, was wir wollen, that’s life. Dennoch: das Drogenproblem der Moderne besteht nicht aus den Drogen – Wie Alexander Wendt anmerkt, stammen fast alle Drogen der Moderne aus der Schweiz oder Deutschland, weil: „Nirgends stand zwischen 1860 und 1930 die Wissenschaft der Chemie höher.“ Ebda, S: 65 -, sondern darin – so könnte eine These lauten –, dass wir mit den Drogen den Tod (und das Leben) nicht teilen, sondern uns durch die Drogen oftmals arbeits- und freizeittechnisch optimieren wollen: die Inwerksetzung eines ökonomisch grundierten Exzesses: drogeninduzierte Todesverdrängung.
Der Stoff, aus dem einige bemerkenswerte Science Fiction-Romane sind, handelt von Drogen, die so perfekt sein sollen, dass der Tod (als schlechtes Hautbild, schlechtes Gedächtnis, schlechte Leberfunktion) nicht wiederkommt. Klassiker wie "Schöne neue Welt" (1932) von Aldous Huxley oder "Der futurologische Kongreß" (1971) von Stanisław Lem, um nur zwei berühmte Bücher zu nennen, sind hier einschlägig. In gewisser Weise handelt auch Christoph Höhtkers Roman „Schlachthof und Ordnung“ von einer solchen Droge. Ihr Name lautet Marazepam und sie wird im Roman als Marom R. durch den Pharmakonzern Winston Pharma and Medical Care Deutschland Ltd. vertrieben. Die Wirkung ist so erstaunlich, dass die Konsumenten sogar Dankesbriefe an den Konzern schreiben:
"Marom R hat mich abgedichtet, meinen Kopf uneinnehmbar gemacht. Ich bin friedlich und frei, und ich habe Lust, Dinge zu tun. Ich bin aktiv und abends aber schlafe ich wie ein Stein. (...) Es ist, als hätte Marom in mir eine wärmende, unauslöschliche Flamme entzündet; manchmal glaube ich sogar, Marom selber ist diese Flamme."
Christoph Höhtker: Schlachthof und Ordnung: Roman. Zürich: weissbooks.w, 2020. S. 52 f.
Hört sich gut an, auch wenn sich herausstellt, dass der – eigentlich nicht notwendige (sic) – Entzug sich schwierig gestaltet. Die Droge scheint den Tod abzuweisen, ihn fast zum Verschwinden zu bringen. Doch dieser kehrt an anderer Stelle wieder: es gibt Schusswechsel, Familiendramen, Tote.
Auch einer der Protagonisten des Buches, Patrick Esnèr, hat zum Tod eine innige Beziehung. Er arbeitet für einen französischen Schlachtkonzern als Pressesprecher. Nach außen verkauft er das Produkt, das geschlachtete Tier, und den Prozess des Schlachtens professionell und weist auf die Fortschritte für das Tierwohls hin. Nach der Arbeit lässt er seinen Lebensfrust in sadistischer Weise an den Schweinen aus, indem er ihnen vor der Schlachtung die Nasen abschneidet. Zudem ist er unzufriedenes Mitglied in der sozialistischen Partei und möchte perspektivisch als Manager bei dem schon erwähnten Marazepam-Pharmakonzern einsteigen. Folgende Stelle ist gleich auf den Anfangsseiten des Buches zu finden, auch wenn sie für den weiteren Verlauf der Handlung nicht besonders wichtig ist (aber wer weiß das schon):
"Patrick Esnèr hatte es eilig. Mit langen Schritten eilte der Dreiundvierzigjährige über den windigen Firmenparkplatz, ließ bereits aus zwanzig Metern Entfernung per Fernbedienung die Türschlösser aufspringen und warf sich kurz darauf mit einem energischen Schwung in den mattschwarzen, schon etwas angejahrten, jedoch weiterhin relativ zuverlässigen und zeitgemäßen sowie relativ bis völlig unerheblichen Citroen DXC E-Wavecross."
Christoph Höhtker: Schlachthof und Ordnung: Roman. Zürich: weissbooks.w, 2020.S. 24
Die Erwähnung eines Automobils, zumal eines bestimmten Automobils, ist in einem Roman natürlich überterminiert, könnte man vermuten (ich kann mich an Paul Auster-Romane erinnern, wo der ‚Held‘ zum Beispiel einen Saab fährt; oder der Nachwende-Roman von Lutz Seiler “Stern 111“, wo ein „Schiguli“ eine wichtige Rolle spielt usw.). Ein Automobil verkörpert schon durch seinen Wortsinn - übersetzt ‚Selbstbeweger‘ - ein Fortschritts- und meist auch ein Freiheitsmonent; man denke an die vielen Roadmovies. Obwohl in dem Höhtker-Roman Autos durchaus eine Rolle spielen, wird im obigen Zitat explizit auf die völlige Unerheblichkeit des Automobils der Marke Citroen hingewiesen. Die Attribute zuverlässig und zeitgemäß lassen den Puls nicht höherschlagen. Wenn man den zwei Jahre später erschienen neuesten Roman von Michel Houellebecq liest, der im Wahljahr 2027 spielt, könnte man fast meinen, dass hier eine Antwort auf die von Höhtker ausgerufene Mediokratisierung der französischen Automarke gegeben wird.
"Größtenteils vom Staat refinanziert, der damit de facto die nahezu vollständige Kontrolle übernommen hatte, hatte sich der Automobilkonzern darangemacht, die Luxusklasse zurückzuerobern, und sich dabei auf eine einzige seiner Marken konzentriert: Citroen."
Michel Houellebecq: Vernichten. Köln: DuMont, 2022. S. 36
„Vernichten“ ist ein für Houellebecqsche Verhältnisse sehr melancholischer Roman, in der schließlich sogar die zwischenzeitlich sehr brüchige Ehe des Hauptakteurs zu einer guten Form findet, die Eheleute also wieder zueinander finden, auch wenn der Tod des Mannes dieser Wiedervereinigung ein zu frühes Ende setzt. Wie überhaupt der Roman, auch wenn er nicht zu den Besten im Houellebecqschen Oeuvre gehört, nicht nur den Respekt für das Alter und die damit einhergehenden meist unangenehmen Metamorphosen anmahnt, sondern auch die Spiritualität und die Transzendenzbemühungen als ernsthafte Lebensoptionen aufgreift.
Und ist nicht auch die Fiktion des Aufstiegs von Citroen als die weltweit führenden Auto-Luxusmarke in mehrfacher Hinsicht eine Wiederauferstehung, wo doch Citroen in der realen Welt inzwischen in den niederländischen Stellantis-Konzern eingegliedert wurde, zu dem u.a. auch Chrysler, Dodge, Fiat und Opel gehören. Vielleicht berührt mich dieser Roman-Hinweis auch nur deshalb, weil ich selbst einen gebrauchten Citroën C5 Tourer fahre, der sich dadurch auszeichnet, dass es die letzte Citroen-Baureihe ist, die noch hydropneumatisch gefedert wird. Die Druckspeicher für die Federung / Dämpfung sehen dabei aus, wie gestauchte kleine Wok-Töpfe mit einem Deckel, denen man am Boden noch einen kleinen Standzylinder verpasst hat. Wenn man die Motorhaube öffnet, scheint es fast so, als wären sie die Torwächter zur Fahrgastzelle.
Noch eine letzte Wendung, bevor der Text, der sich bis hierhin fast automatisch entwickelt und bewegt hat, zu Ende geht. Mit einer pneumatischen Federung fährt es sich natürlich bequem (Vielleicht auch daher der Werbe-Slogan „Nichts bewegt Sie wie ein Citroen“, der allerdings noch eine andere Bedeutung bekommt, wenn man die Werkstattrechnungen begleichen muss. Auch interessant ist der fast schon existentialistische Slogan aus den 50er Jahren: „Du vin, du pain, du Citroën.“). Aber das Pneuma hat natürlich auch eine lange philosophische und theologische Geschichte. Es ist nicht nur der (Heilige) Geist, der sanft Geist, sondern auch der entflammende Geist, der wiederum das Zerstörerische und das Böse in sich zu bergen vermag (zu Geist, pneuma, spiritus und ruah siehe auch: Jacques Derrida: Vom Geist: Heidegger und die Frage. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988.). Die beiden herbeizitierten Bücher, auch wenn das Auto dort als belangloses Gebrauchs- oder Luxusgut eingeführt wird, heißen schließlich „Schlachthof und Ordnung“ und „Vernichten“. Literatur ist immer auch Pneumologie und diese wiederum ist niemals harmlos. Genauso wenig wie der Tausch und der Tod – und so soll es sein.
28. Juli 2022
Ach, wie schön könnte das Leben sein, wenn die Welt doch schöner wäre. Die Welt hat durchaus schöne Seite, wer könnte dies bestreiten. Und manchmal kann man sich die Welt auch schön denken, oder sie sich schön sehen und hören. Vielleicht muss man sie sich manchmal auch schön trinken. Doch in grossen Krisenzeiten helfen diese Ideen nicht wirklich; das mit dem Trinken vielleicht ein bißchen. Von heute aus betrachtet kommen mir die letzten 20-30 Jahre wie eine grosse Atempause vor, die sich nun ihrem Ende zuneigt. Die Geschichte fängt wieder an, mit aller Macht wild um sich zu schlagen. Dies wirkt umso eigenartiger, als dass auch zuvor, in der 2-WK-Nachkriegsordnung, die Zeit an vielen Stellen still zu stehen schien. Mit den Atomwaffen wurden nicht nur das gegnerische System abgeschreckt, sondern ein wenig auch der Zeitenfluss, so könnte man meinen (Ein Politologe titelte nach '89 furchtsam ereignis-ahnend, aber folgerichtig: "Der Tunnel am Ende des Lichts"). Eine Illusion, denn genug passiert ist nach '45 allemal. Der Schrecken hat viele Gesichter und beizukommen ist ihm scheinbar nicht.
Auch wenn der Schrecken ubiquitär sein sollte und sich sehr oft das Leid hinzugesellt, man also schreckenstechnisch nur selten mit dem Schrecken davon kommt, sind die Schauplätze des Schreckens zeitlich und räumlich durchaus zu verorten. Sie bringen oftmals ihre eigene leidvolle Färbung mit sich, was insofern einen kleinen Trost zu spenden vermag, als dass sie das Erinnern ermöglichen. Und vor dem Schrecken ist manchmal die Ahnung, in der sich Zukünftiges in der Gegenwart ankündigt. Eine sich bewahrheitende Ahnung bringt mehr Kausalität mit sich, als ihr zusteht. 'Es hätte auch ganz anders kommen können', hat dann eine sehr blasse Färbung. Trotzdem frappiert es ungemein, wenn Sätze aus der Vergangenheit herüberwehen, die für die Gegenwart geschrieben sein könnten, wie zum Beispiel in Erich Kästners Faber von 1931:
"Und jetzt sitzen wir wieder im Wartesaal, und wieder heißt er Europa! Und wieder wissen wir nicht, was geschehen wird. Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende."
Erich Kästner: Fabian: die Geschichte eines Moralisten. 5. Auflage 2020. Zürich: Atrium Verlag, 2020; S. 68
Wir sitzen wieder und wieder im gleichen Wartesaal, das wirklich provisorische Leben kündigt sich an, aber die Geschichte wird bestimmt einen anderen Ausgang nehmen, so wie sie es immer tut, wenn die Zeit sich durch sie bewegt. Allein, als eine Verheißung taugt dieser Gedanke wenig.
30. Juni 2022
Ganz sicher gibt es unzählige Themengebiete, die in Frage kommen, wenn man mal über etwas wirklich Deprimierendes schreiben möchte. Unser Verhältnis zu den Tieren gehört auf jeden Fall dazu, wenn auch nicht vollumfänglich. Das Tier ist auch unser Freund, unser Begleiter, unser Beschützer, also vielfach ein Glücks- und Sicherheitsspender - aber natürlich auch eine Nahrungsquelle, die im Zuge der Industrialisierung der Lebensmittelerzeugung nicht nur erbarmungslos ausgebeutet, sondern selbst vollständig der industriellen Herstellung unterworfen wird. Wir alle wissen, dass diese Produktionsweise äußerst selten mit dem Tierwohl in Übereinstimmung zu bringen ist. Zunächst ist schon die reine Masse der getöteten Tiere verstörend, wenn man kurz darüber nachdenkt.
So wurden in Deutschland zum Beispiel im Jahre 2020 53 Millionen Schweine geschlachtet (siehe u.a. : https://www.landwirtschaft.de/landwirtschaftliche-produkte/wie-werden-unsere-lebensmittel-erzeugt/tierische-produkte/schweinefleisch/). Mathematisch gesehen wurden in jeder Sekunde 1,68 Schweinen das Leben ausgehaucht, so diese pneumatische Metapher in vielen Fällen auch nur den Hauch einer Chance hätte, mit der Realität zu korrespondieren. Während das postmortale verkaufsgerechte Zerstückeln der Tiere schmerzfrei abläuft, ist der vorhergehende Tötungsakt nicht immer empfindungsfrei beziehungsweise lebensfern.
In der ausgezeichneten Reihe 'Naturkunden', in denen in kleinen, wundervoll aufgemachten, bebilderten und fadengehefteten Büchern Tiere und Pflanze porträtiert werden, stellt der Kulturwissenschaftler Thomas Macho in seinem Schweine-Essay nüchtern fest:
"Immer wieder geraten etwa Schweine lebend und bei Bewußtsein in die Brühanlagen, 2013 erlitten nach Presseberichten eine halbe Million Schweine diese Tortur." 117
Thomas H. Macho: Schweine: ein Portrait. Naturkunden, No 17. Berlin: MSB, Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, 2015, S 117
In unserer Kultur ist Tod und Leiden ein beliebtes Thema der Verdrängung, so dass man den Tieren zu Ehren sagen könnte, dass auch sie in diesen Vorgang integral mit eingebunden sind. In den meisten Fällen, in denen fleischverzehrende Menschen aufrichtig über die unhaltbaren Zustände der industriellen Tierhaltung reden, kann man nicht einmal von kognitiver Dissonanz ausgehen, da in Bezug auf tierische Nahrung Denken und Handeln so schön und komplett auseinanderfallen, wie das Fleisch vom Knochen, nachdem das Tier gekocht wurde (Zu diesem Themenkomplex gibt es einige Bücher. Zum Beispiel: Jonathan Safran Foer: Tiere essen. Frankfurt am Main: Fischer, 2019.)
Generell ist es kein Geheimnis, dass unsere Lebensweise, insbesondere die der Industriestaaten, auch wenn sie sich Dienstleistungs- und Wissensgesellschaften nennen, den anderen Lebewesen (und natürlich auch der Flora) nicht gut tut. Nach kurzer Suche weiß man folgendes:
- Von geschätzten fünf bis neun Millionen Tierarten verschwinden jährlich zwischen 11.000 bis 58.000 (https://www.landsiedel-seminare.de/weltretter/artensterben.php).
- Täglich werden ca. 150 wildlebende Tier- und Pflanzenarten von der Erde eliminiert (https://www.aktiontier.org/artikel/artenvielfalt-und-artensterben).
- Dazu sind ein Viertel der Säugetierarten, jede achte Vogelart, mehr als 30 Prozent der Haie und Rochen sowie 40 Prozent der Amphibienarten bedroht, vermeldet der WWF (https://www.wwf.de/themen-projekte/artensterben).
Der Mensch zerstört seine eigenen Lebensgrundlagen, heißt es dann. Oder: Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen. Auch wenn das Unbehagen an der eigenen Dummheit meines Erachtens nicht ausreichend sein wird, um ein wirkliches Umdenken zu befördern, ist es doch ein Anfang. In diesem Sinne kann man vielleicht folgende Geschichte lesen, die in einem weiteren Naturkunden-Buch, diesmal von Lothar Franz über Nashörner, wiedergegeben wird:
"So waren auch bald die Rhinozerosse aus vielen Teilen ihres angestammten Nashornlandes verschwunden: Ein einziger Jäger, John Alexander Hunter, schoss mehr als 1600 von ihnen, allein zwischen August 1944 und November 1946 erlegte er 996 Rhinozerosse - im Auftrag der kenianischen Regierung, die das Kamba-Land urbar zu machen wünschte. Später stellte sich heraus, dass Nutzpflanzen hier gar nicht gediehen - die Ausrottung der Rhinozerosse also überflüssig war."
Lothar Frenz: Nashörner: ein Portrait. Naturkunden, No. 36. Berlin: MSB Matthes & Seitz, 2017, S. 69
31. Mai 2022
"Ja, Gewalt ist der Motor der Geschichte, das ist nichts Neues, das gilt für unsere Zeit ebenso wie für Hegels Zeit. Trotzdem frage ich mich, was sie bewirken soll."
Michel Houellebecq: Vernichten. Köln: DuMont, 2022, S. 475
Wahrscheinlich ist es eine sehr moderne Vorstellung, dass die menschliche Geschichte eine Art Gefährt, dass sich nach vorne bewegt. Und dass diese Geschichte von einem Automatismus angetrieben wird, der sich wiederum durch rohe Energie speist. Im nachhegelschen Zeitalter wissen wir jedoch nicht mehr, wohin wir fahren. Vielleicht wird dieser Zustand solange andauern, bis wir bereit sind zu akzeptieren, dass wir nicht mehr angetrieben werden müssen, dass wir Energie nicht in Bewegung umsetzen müssen, dass unsere Geschichte keine Richtung ha - denn ist Gewalt nicht der unebdingte Richtungswille -, was nicht heißt, dass Geschichte sinnlos wäre, ganz im Gegenteil.
30. April 2022
Nicht zufällig ist vieles im Leben zufällig. Ob Assoziationsketten auch dazu gehören? Ich erinnerte mich, dass es ein Paul Auster-Buch gibt, das den Zufall im Namen trägt und in dem ich einige Stellen markiert hatte. Und natürlich spielt der Zufall in diesem Buch eine Rolle, so auch bei dem Protagonisten der Geschichte:
"Einige Wochen las er fast nichts. Dann nahm er eines Abends Ende November ein Buch von William Faulkner in die Hand (Schall und Wahn), schlug es irgendwo auf und stieß mitten in einem Satz auf folgende Worte: <<... bis er eines Tages im tiefsten Überdruss alles auf eine Karte setzt ...>>."
Paul Auster: Die Musik des Zufalls: Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1992, S. 237
Daraufhin habe ich auch das Faulkner-Buch aufgeschlagen, es gibt in ihm keine Markierungen, um Folgendes zu lesen:
"Die Schatten auf der Straße waren so reglos, als wären sie mit einer Schablone aufgezeichnet, mit den schrägen Stiften der Sonne."
William Faulkner: Schall und Wahn: Roman ; mit einer Genealogie der Familie Compson. Diogenes-Taschenbuch. Zürich, 2008, S. 123
Kann man gleich eine schöne Metaphernwelt aufmachen: Wir alle sind Schatten – oder mehr platonisch: das, was wir als wirkliche Welt wahrnehmen, sind nur die Schatten der Dinge (und hatte ich nicht letztens einen aufschlussreichen Text gelesen – von wem nur? –, in dem es um die verdrehte Rezeption dieser Schatttengeschichte ging? Vielleicht finde ich ihn zufällig wieder).
Wir alle leben in Zufälligkeiten. Zufälligkeiten der Vergangenheiten, der Gegenwart und der Zukunft. Unsere Herkunft ist kein Resultat einer Abstimmung, unsere Zukunft größtenteils ungewiss und die Gegenwart ereignet sich in eigenartigen Windungen. Es bedarf schon großer metaphysischer Anstrengungen und / oder großer verschwörungstheoretischer Windungen, aber konvertiert nicht beides, um diesen Zufall negieren zu können. Ein Beispiel:
"Die Beobachtung der Welt zwingt uns, von einem Kosmos zu sprechen und jegliche Zufälligkeit auszuschließen. (...) Wenn der Kosmos aber eine geordnete Einheit darstellt, dann muss auch überall die gleiche Gesetzmäßigkeit herrschen, im Großen wie im Kleinen, wie oben, so unten."
Thorwald Dethlefsen:Schicksal als Chance: das Urwissen zur Vollkommenheit des Menschen. München: Goldmann, 2006, S. 34
Sollte es keinen Zufall geben, so hat das Schicksal entschieden, mich nicht an dieser Erkenntnis teilhaben zu lassen – also in aller Notwendigkeit. Aber vielleicht hat das Schicksal mir auch damit eine Chance gegeben. Was also bedeutet der Zufall? Robert Anton Wilson schlägt zur Erforschung des Denkens das folgende Experiment vor:
"1. Denken Sie so intensiv wie möglich an ein normales 10-Pfennig-(Cent sb)-Stück und stellen Sie sich vor, sie würden eine solche Münze auf der Straße finden. Jedesmal wenn Sie spazierengehen, suchen Sie auf der Strasse nach ihr und versuchen Sie auch weiter, ihr Bild stets vor Augen zu haben. Warten Sie ab, wie lange sie brauchen, um ein solches 10-Pfennig-Stück zu finden."
Robert Anton Wilson: Der neue Prometheus: Die Evolution unserer Intelligenz. Kreuzlingen München: Hugendubel, 2003, S. 23
Er schlägt dann 2. vor, den Fund durch eine selektive Wahrnehmung zu erklären und weiter zu suchen. 3. Soll man sich von der Hypothese leiten lassen, dass das Gehirn alles beeinflusst und dann ebenfalls weitersuchen. 4. soll man die Zeit messen, die zum Auffinden des Geldstückes benötigt wird, und zwar sowohl nach der zweiten als auch nach der dritten ‚Methode‘. 5. Soll man ähnliche Experimente ausführen und beide Theorien vergleichen: selektive Wahrnehmung (Kontrolle) versus Kontrolle durch das Gehirn (Psychokinese).
Wenn wir nicht auf unsere psychokinetischen Fähigkeiten vertrauen, so ist es die selektive Wahrnehmung, die den Zufall zwingt zu verschwinden, ihn gleichsam als Zufall auslöscht. Unser Wille zur Bedeutungsfindung, der mit der selektiven Wahrnehmung verknüpft ist, sorgt dafür, dass bestimmte Ereignisse aus den Zufallskontinuum herausgehoben und ausgegliedert werden. Wir sehen einen schwarzen Raben, danach eine schwarze Katze und es ist Freitag der dreizehnte. Am gleichen Abend stirbt eine uns vertraute Person. Kann das Zufall sein? Etwas anders liegt der Fall bei Sigmund Freud, der in seiner Untersuchung „Zur Psychopathologie des Alltaglebens“ darauf hinweist, dass viele der zufälligen Dinge, die uns widerfahren, nicht so zufällig sind, wie sie scheinen:
“Untersucht man die scheinbar willkürlich gebildete, etwa mehrstellige, wie im Scherz oder Übermut ausgesprochene Zahl, so erweist sich deren strenge Determinierung, die man wirklich nicht für möglich gehalten hat.”
Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltaglebens; Frankfurt/M: 1969 (1904); S. 190
Die scheinbare Zufälligkeit verdeckt dem Bewusstsein, dass unser Unbewusstes unermüdlich bei der Arbeit ist. Man kennt den sprichwörtlichen Freudschen Versprecher, der eine Wahrheit offenbart, die uns – im Angesicht des/der Anderen – in seiner Offenheit unangenehm ist. Demnach determiniert unser Unbewusstes uns auch dort, wo wir uns im Vollbesitz unserer Entscheidungsfreiheit wähnen oder lediglich eine bedeutungslose Zufälligkeit sehen möchten. Selbst ein Unfall kann seine zufällige Unschuld verlieren, wenn er im zum Beispiel im Dienst einer unbewussten Selbstschädigung steht. Andere Fehlleistungen ließen sich hier anschließen. Doch heißt das nicht, dass das Unbewusste die Totalität unseres Lebens determiniert. Der Zufall wird hier nur partiell in Anspruch genommen, um im Dienste einer verdeckten Macht bestimmte Konflikthaftigkeiten zu vermeiden. So könnte zumindest eine Lesart lauten. Andererseits: gibt es vielleicht einen Willen zum Sinn (s.o.), der nachträglich noch den zufälligsten Begebenheiten seinen Stempel aufzudrücken vermag. Aber die Dinge beginnen hier verwickelt zu werden. Denn ebenso wie ein scheinbar zufälliger Unfall das unbewusst herbeigeführte Resultat einer Selbstschädigung sein könnte, ist es umgekehrt nicht abwegig, wenn zum Beispiel ein wirklich zufälliger Unfall, bei dem beispielsweise Menschen zu Tode kommen, von einem Überlebenden sich selbst schuldhaft zugerechnet wird. In Bezug auf unsere Deutungsmuster gilt also: Was zufällig wirkt, ist unter Umständen gar kein Zufall, und was nach einer selbstverursachten Angelegenheit aussieht, oder einer Begebenheit, die uns adressiert, ist vielleicht ein reiner Zufall.
Was man zumindest festhalten kann, ist die Verantwortungslosigkeit, die mit dem Zufall einhergeht. Was einem zufällig widerfährt oder was sich zufällig ereignet, ermangelt einer Ursache oder einer tieferen Bedeutung. Das gilt für die Dachpfanne, die sich zufällig löst und einen ahnungslosen Passanten auf den Kopf fällt, genauso wie für die Lottozahlen, die gezogen werden und einige Gewinner und sehr viele Verlierer hervorbringen. Dabei ist es keineswegs so, dass sich aus diesen Zufälligkeiten nichts Bedeutsames ergeben könnte – der Dachpfannenunfall oder der Lottogewinn zeigen dies. Nur schwindet die Zurechenbarkeit dieser Wirkung ins Nebulöse. Vielleicht wird man herausfinden können, dass die Dachpfanne durch einen Pfusch am Dach ins Fallen kam und die Ziehung der Lottozahlen manipuliert wurde. Das wäre die schon besagte Rückabwicklung des Zufalls, hin auf eine Ursache, auf eine Verantwortung. Aber ist der Zufall intakt, arbeitet er so nicht. Um den Zufall näher zu kommen, eignet sich allenfalls die Wahrscheinlichkeit. Trägt man genug ‚verwandte‘ Zufallsereignisse zusammen und definiert ihre Voraussetzungen, kann man den Zufall zwar nicht eliminieren, aber doch abschätzen. Unter idealen Bedingungen wird ein Münzwurf mit fünzigprozentiger Wahrscheinlichkeit die Kopfseite zum Ergebnis haben, was nichts daran ändert, dass die hundertmalige Wiederholung dieses Wurfes ganz zufällig hundertmal die Zahlseite zum Ausgang haben kann. Die Wahrscheinlichkeit lässt sich in diesem Fall auch ziemlich einfach berechnen (mit einer ähnlichen Operation wird übrigens aus einer unabsehbaren Gefahr ein kalkulierbares Risiko. Siehe: Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos. Berlin ; New York: W. de Gruyter, 1991).
Demnach ist der Zufall auch eindeutig vom Wunder abzugrenzen. Denn ein Wunder transzendiert die Möglichkeitsbedingungen unseres Seins, während der Zufall, also der säkularisierte Bruder des Wunders, nur aufgrund seiner Unwahrscheinlichkeit auf sich aufmerksam macht. Und auch hier gilt: Während das Wunder zwar ebenfalls keine wirkliche Ursache im wissenschaftlichen Sinne vorweisen kann, zwingt es uns aber ob seiner überwältigenden Außergewöhnlichkeit an eine höhere Macht zu denken, wenn nicht gar an sie zu glauben, während der Zufall nur eine auffällige Abzweigung der endlosen Abzweigungsketten des Schicksals darstellt.
Was also kann man mit dem Zufall anfangen? Dort wo der Zufall bewusst auf den Sockel unseres Seins gehoben wird, ist Skepsis angebracht. Sehr wohl gibt es strukturelle Ungleichheiten, die das Leben und seine Möglichkeiten beziehungsweise Versagungen perpetuieren, und deren postulierte Zufälligkeit allenfalls das Feigenblatt für das Nichtstun derer ist, die es besser wissen müssten. Und wie Freud schon darlegte, ist das eigene Ich in Bezug auf solche Verschleierungstaktiken nicht weniger erfinderisch. Man muss nicht immer in die Ferne schweifen, um sich mit dem Freund Zufall aus der Verantwortung zu stehlen.
Auf der anderen Seite ist der Zufall ein großer Zerstörer von Sinnhaftigkeiten aller Art. Das ist zuweilen schwer erträglich, weshalb zum Beispiel die schon angesprochenen Verschwörungstheorien ihre Kraft wohl weniger aus der Kohärenz und Wahrscheinlichkeit ihrer Geschichte ziehen, sondern aus dem untergründigenen, um nicht zu sagen unbewussten Widerstand, den sie den Kontingenzen des Lebens entgegenbringen können (wie all unsere imaginären Anstrengungen). In ihrer Stabilisierungsfunktion muten diese Theorien zuweilen sehr komisch an – wer könnte sich bei der Vorstellung, dass die Menschheit eigentlich von Reptiloiden beherrscht wird, ein ungläubiges Lächeln nicht verkneifen -, obgleich ihnen jeder Humor und Ironie strukturbedingt völlig abgeht. Ist doch die Ironie der dezente Hinweis auf unsere postmoderne Verfasstheit, d.h. ein Hinweis darauf, dass unsere Überzeugungen durchaus zufällig sind (siehe: Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2018).
Zu einer intelligenteren ‚Lösung‘ der Zufallsproblematik ist Friedrich Nietzsche im 19. Jahrhundert gekommen, der erst gar nicht versuchte, den Zufall in ein harmonisches Ordnungsgefüge einzugliedern und damit aus der Welt zu eskamotieren – solche geschichtlich gescheiterten Versuche wertete er als Zeichen der Schwäche: nein, bei Nietzsche läuft die Erlösung vom Zufall durch seine volle Anerkennung, durch die absolute Bejahung des Zufalls, mit der kleinen Modifikation, dass man sich zum Zufall nachträglich eine Geschichte einfallen lassen muss, die dem ganzen jenen Sinn gibt, der es mir erlaubt zu sagen: so wollte ich es, so sollte es sein.
„Und das ist all mein Dichten und Trachten, daß ich in Eins dichte und zusammentrage, was Bruchstück ist und Rätsel und grauser Zufall.
Und wie ertrüge ich es, Mensch zu sein, wenn der Mensch nicht auch Dichter und Rätselrater und der Erlöser des Zufalls wäre!
Die Vergangenen zu erlösen und alles »Es war« umzuschaffen in ein »So wollte ich es!« – das hieße mir erst Erlösung!“
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra: ein Buch für alle und keinen. Frankfurt am Main: Insel-Verl, 1992, S. 142
Zu Recht kann man Nietzsche eine Metaphysik des Willens vorwerfen, die sich dem Zufall durch jenen anderen Zufall entgegenstemmt, den der Dezisionismus mit sich bringt. Einen Auftakt zu einer poetischen Welterschließung bietet diese Idee jedoch allemal.
Während der Zufall destabilisierend wirken kann und die Strategien zu seiner symbolisch-imaginären Einhegung geschichtlich eine große Tradition haben, hat sein Auflösungspotenzial zugleich auch produktive Momente, kann es uns doch von der Last der Verantwortung befreien. Der Ökonom und Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat diesen Zusammenhang in seinem Buch ‚Thinking, Fast and Slow‘ insofern berührt, als dass für ihn Erfolgsgleichungen zugleich auch Zufallsvariablen enthalten.
"success = talent + luck / great success = a little more talent + a lot of luck."
Daniel Kahneman: Thinking, Fast and Slow. London: Penguin Books, 2012, S. 177
Was im Vorfeld einer Unternehmung demotivierend wirken kann - nicht meine Herkunft, mein Charakter, mein Wissen, mein Talent können den Erfolg garantieren -, ist im Falle des Scheiterns zugleich auch entlastend. Nicht ‚ich‘ bin es, der scheitert, sondern es sind auch die zufälligen Umstände (oder können es sein). Je öfter ich es im Falle des Scheiterns neu versuche, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Zufall zu meinem Glück fügt (nun wird man das Verhältnis von Talent und Zufall im Einzelfall niemals klären können. Die, die es immer schon besser wissen – und wer kann sich von einer solchen Gruppenzugehörigkeit durchgehend freisprechen -, erklären den Erfolg, ebenso wie den Krieg im Nachhinein immer lückenlos, d.h. ohne Kontingenzanteile).
Zum Schluss: Wie also den Zufall begegnen? Wenn nicht alles unter Kontrolle ist, wenn das Ganze aus grundsätzlichen Gründen nicht gänzlich unter Kontrolle zu bringen ist, dann ist mit dem Zufall zu rechnen oder besser: kann man sich auf den Zufall einlassen, etwas aus ihm machen – mit und ohne Verantwortung (dies heißt auch Entsicherung: dies ist eine Dimension, die insbesondere das linke (deutsche) politische Denken mit aller Macht auszuschließen versucht, weil unterstellt wird, dass durch diese Lücke der Teufel kommt). Dies wiederum, so scheint mir, ist auch eine Akzeptanzfrage und berührt existentielle Momente, mit durchaus tragischen Dimensionen. Auch zufällig gefunden: David Richo und die fünf Dinge, die wir nicht ändern, doch akzeptieren können:
1. Everything changes and ends.
2. Things do not always go according to plan
3. Life is not fair.
4. Pain is part of life.
5. People are not loving and loyal all the time.
David Richo: The Five Things We Cannot Change: And the Happiness We Find by Embracing Them. Boston, Mass.: Shambhala, 2006
Auch wenn dies zufällig trivial sein sollte, geht daraus doch notwendig eine Auf-gabe hervor.
Heino Bosselmann hat das im Dezember 2021 am Ende seines Textes "Streß?" im Sezessions-Blog (böse, böse, böse) sehr poetisch so beschrieben:
"Scheinbar geht es immer um alles, eigentlich jedoch um nichts. Nur darf man diese Tragik nicht bejammern, sondern hat sie mit der Liebe zum Menschen zu tragen, gehört man doch selbst zur Gattung der Paradiesvertriebenen, die mit ihrer Natur in der Natur keine Heimat finden, und kann einerseits das Wahre, Gute und Schöne nur erfassen, wenn man andererseits gelassen in die Abgründe zu blicken vermag."
Heino Bosselmann - https://sezession.de/65008/stress
Die Formel könnte also lauten: Leben akzeptieren heißt den Zufall akzeptieren. Vielleicht – immer nur vielleicht – heißt die zufällige Begegnung mit dem Zufall: in den Abgrund schauen – und vielleicht manchmal – nur vielleicht – auch in den Himmel.
31. März 2022