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Der Vergang einer schönen neuen Welt

Es ist schon oft angemerkt worden, dass der moralische hohe Ton in der Politik zwar schön für das Gemüt sein mag, aber mit der Realität wenig zu tun hat. Nun wird man einwenden können, dass der Anspruch der Politik nicht nur aus der Verwaltung des Status Quo bestehen kann, sondern auch mit der Gestaltung der Zukunft befasst sein muss. Was aber ist, wenn dieser fortgesetzte Zukunftsgestaltungswille (ob moralisch eingefärbt oder nicht) sich an seiner eigenen mitkreierten Wirklichkeit bricht? Sofern man sich mit seiner Zukunftserzählung noch am Steuerrad der (legislativen, medialen und kulturellen) Macht befindet, sind die gängigen Instrumente zur Überbrückung dieser (strukturell unvermeidlichen) Kluft hinlänglich bekannt. Man erklärt die kritischen Einwände zum subalternen Genörgel der Zukurzgekommenen, der Zurückgebliebenen und der Ressentimentgeladenen, der Vernunftlosen und Böswilligen. Man zwängt die neuen ‚unpassenden‘ Tatsachen in das eigene modifizierte Narrativ. Man forciert die Maßnahmen, die sich aus einem anderen Blickwinkel als untauglich, ja als Problemauslöser erwiesen haben, mit der Begründung, dass die Wende zum Guten schon in Blickweite ist, so man nur Kurs halten würde. Schließlich, aber das mag schon ein Teil der Machtauflösung sein, übernimmt man einen Teil der Vorschläge, die zuvor noch als undiskutierbar galten, gleich so, als hätte man es immer schon gewusst.

Bei der Migrationsfrage kann man dieses Schauspiel seit Jahren verfolgen. 2010 erschien „Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ von Thilo Sarrazin. Sarrazin war u.a. von 2002 bis April 2009 für die SPD Finanzsenator im Berliner Senat, also kein gelernter Rechtextremist. Trotzdem flog ihm sein Buch, obwohl es zum Bestseller avancierte, politisch um die Ohren, so dass er schließlich 2020 aus der SPD ausgeschlossen wurde. Seine These, dass Deutschland intellektuell verarmt, da die ungebildete Unterschicht, insbesondere mit muslimischen Migrationshintergrund sich überproportional vermehre, war zum Teil inhaltlich, aber primär in seiner Tonalität für eine bestimmte intellektuelle Klasse nicht erträglich. Auf eine inhaltliche Auseinandersetzung wurde daher weitestgehend verzichtet. Nicht besser erging es Hans-Georg Maaßen, immerhin von 2012 bis zu seiner Versetzung in den einstweiligen Ruhestand im November 2018 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Maßgeblich zur Versetzung hatte beigetragen hat, dass er in der Bild-Zeitung Zweifel äußerte, dass es 2018 in Chemnitz während der Ausschreitungen zu „Hetzjagden“ auf ausländisch aussehende Menschen gekommen sei. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden widersprach Maaßen hinsichtlich der Frage, ob das Video, wie von Maaßen vermutet, ein Fake sei, konnte andererseits  jedoch keine Belege für die „Hetzjagden“ vorlegen (siehe dazu auch den entsprechenden Wikipedia-Eintrag). Nichtdestotrotz: 2024 wurde bekannt, dass der ehemalige Verfassungsschutzpräsident nun vom Bundesamt für Verfassungsschutz als Beobachtungsobjekt im Bereich Rechtsextremismus geführt wird. Man muss die politischen Ideen von Hans-Georg Maaßen keineswegs teilen, wobei eben zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus ein Unterschied besteht, um zu vermuten, dass hier jemand diskreditiert werden soll, der nicht in das vorherrschende politische Narrativ passt und deshalb als politischer Gegner ausgeschaltet werden soll (weitere ‚Maßnahmen‘, mit denen der politische Gegner unter dem Vorwand moralischer und / oder rechtlicher Geltung als politischer Gegner weggeräumt werden soll, wo also der Zweck die Mittel heiligt, ließen sich wohl finden).

Bei Kirstin Heisig, die 2010 das Sachbuch " Das Ende der Geduld: Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter " geschrieben hatte und darin bestimmte Ethnien als besondere Problemverursacher im Kontext von Jugendgewalt benannt hatte (das Buch wurde ebenfalls ein Bestseller), liegt der Fall insofern anders, als dass sie schon 2010 verstarb. Auch da hätte man gespannt sein dürfen, wie ihre Karriere als Jugendrichterin weiter verlaufen wäre. Ein wenig anders verhält es sich mit Rolf Peter Sieferle, der von 2005 bis 2012 ordentlicher Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität St. Gallen war und 2016 verstarb. In seinem posthum erschienenes Buch „Das Migrationsproblem. Über die Unvereinbarkeit von Sozialstaat und Masseneinwanderung“ wird detailliert der Frage nachgegangen, mit welchen tiefgreifenden Problemen die derzeit praktizierte Einwanderungspolitik konfrontiert ist. Der Entrüstungssturm über sein ebenfalls 2017 posthum erschienenes polemisches Werk „Finis Germania“ hat hier ein mögliche Diskussion im Ansatz erstickt (so es sie überhaupt gegeben hätte). Fruchtbar wäre die Diskussion auch hier nicht verlaufen.

Nun, wir schreiben das Jahr 2024 und Dinge kommen in Bewegung: Die Wochenzeitung „DIE ZEIT“ ist als links-liberales Blatt keineswegs bekannt dafür, migrationskritische und konservative Gedanken zu verbreiten und / oder zu fördern. Umso erstaunlicher finden sich in der Ausgabe vom 27. März 2024 gleich drei Artikel, die sich im weitesten Sinn mit dem Thema Migration befassen und die linksliberale Weltsicht mehr oder minder hinterfragen. 

Die Medien

Der Leiter des Programmbereichs Aktuelles im Westdeutschen Rundfunk fordert, dass man sich aus den eigenen Milieus entfernt und auch andere Menschen ins Blickfeld rücken muss, die anders sind und anders leben. Insbesondere beim Klimawandel und bei der Migration ist dieser Anspruch herausfordernd, schreibt er weiter. So hat man sich entschieden, zu den Ereignissen auf der Kölner Domplatte , bei der 2015 massenhaft sexualisierte Gewalt von Migranten eben auf jener Domplatte zu Silvester stattfand, eine große Recherche zu widmen. Schließlich hat man dem WDR damals vorgeworfen, über dieses Thema nicht entsprechend berichtet zu haben, was aber keine Absicht war, so Brandenburg weiter. Ein Ergebnis dieser Recherche ist, so Brandenburg, dass es eine steigende Zahl von Gruppenvergewaltigungen geben würde und dass Ausländer überproportional beteiligt seien. Im Januar 2024, also 9 Jahre später, veröffentlicht man den Podcast zur Domplatte und sendet über die Informationsprogramme die Erkenntnisse über die Gruppenvergewaltigungen. Ob dass nicht den Faschisten in die Hände spielen würde, fragt er rhetorisch, um die Antwort zu geben: aber, nein, erst wenn man Dinge verschweigt, wird es schwierig. Doch verschwiegen hätte man natürlich nichts. Treffender, so Brandenburg als Fazit, wäre die Rede von: "haben nicht so genau hingesehen". (Stefan Brandenburg: "Wir sind uns zu ähnlich", in: DIE ZEIT, 27. März 2024, S. 24) (BTW: hätte eine Intendant des Rundfunks in Bezug auf Defizite in der Berichterstattung über rechte Gewalt den Gedanken formuliert, dass man nichts verschwiegen, aber nicht so genau hingesehen hätte …).

Die Ökonomie

In einem Interview mit der Zeit, in dem es auch um die Frage geht, ob wir von der Zuwanderung profitieren, bezweifelt Angus Deaton, Professor für Volkswirtschaft in Princeton und Wirtschaftsnobelpreisträger 2015, dass 1. Handel immer von Vorteil und 2. Einwanderung für alle gut sei (insbesondere ob sie für Menschen mit niedriger Qualifikation gut sei). Wenn man genug Geld zur Verfügung hat, so Deaton weiter, ist Einwanderung aufgrund des damit zusammenhängenden niedrigen Lohnniveaus bei Dienstleistungen und unqualifizierten Tätigkeiten eine gute Sache. Hat man keinen gutbezahlten Job, so sieht die Welt nicht so rosig aus. Er kommt zu dem Schluss, dass Handel und Migration unter Effizienzgesichtspunkten vorteilhaft sind. Wenn man jedoch auf diese Effizienz verzichten würde, würden wir unter Umständen in einer besseren Welt mit weniger politischen Polarisierung leben, so seine Einschätzung. (Interview mit Angus Deaton: "Leben und Tod sind wichtiger als Geld", in DIE ZEIT, 27. März 2024, S. 22“)

Die Zuwanderung

Schließlich berichtet Jochen Bittner von den Verhältnissen im Bezirk Tower Hamelt im Londoner East End. Das Viertel sei überbelegt, der Wohnraum knapp. Die Häuserpreise seien in die Höhe geschossen, der Mitwucher würde boomen. Die Frage stellt sich, so Bittner, wieviel Zuwanderung ein Land in kurzer Zeit verkraften kann. Entgegen der "Brexit-Intention" sind 2022 745.000 Menschen nach Großbritannien eingewandert, primär legale Visumseinwanderung, fährt Bittner fort. Um diese Neuankommenden adäquaten Wohnraum zu bieten, müssten jährlich ca. 340.000 neue Wohnungen entstehen, was illusorisch sei. Stattdessen, so berichtet Bittner weiter, nimmt die Verdichtung von Wohnraum und die Überbelegung von Wohnungen weiter zu, so dass im obigen Quartier ca. 16.000 Menschen auf einem Quadratkilometer leben würden (4 x soviel wie im Durchschnitt in Berlin). Die Konsequenz: der Wohnraum sei in einem schlechten Zustand (Schimmel etc.), das Zusammenleben auf engstem Raum durch Aggressionen geprägt. Hinzu käme, so Bittner mit Bezug auf Alp Mehmet vom Thinktank Migration Watch, der 1956 selbst als Immigrant nach Großbritannien kam, dass der zu schnelle Zuzug zu vieler Menschen eine Integration fast unmöglich machen würde, wenn zum Beispiel die Zugegzogenen selbst die Mehrheit im Klassenraum stellen würde. Nimmt es also Wunder, dass Alp Mehmet sich beim Slogan des Londoner Bürgermeisters Sadiq Khan -  "Diversität ist unsere Stärke" - weniger an eine positive Realitätsbeschreibung, denn an eine Orwellsche Denkmanipulation erinnert fühlt. (Jochen Bittner: "Die Slums von morgen. im East End von London treffen immer mehr Einwanderer auf immer weniger Wohnraum. Wie viel Immigration kann ein Land verkraften?", in: DIE ZEIT, 27. März 2024, S. 8)

Wenn also der eigene politische Denkhorizont die Phänomene nicht mehr in einen sinnvollen Bedeutungszusammenhang bringen kann, dann verändert sich etwas. In der Kategorie „Wünsch dir was“ wäre der Eintrag gewesen: Warum nicht früher und differenzierter. Aber die Illusionen sind am schönsten, solange man aufrichtig daran glauben kann. Und die Macht am stabilsten, solange man diese umfassend nutzt.

29. Juli 2024

Pneumopathologie

"Der Mensch kann die Realität Gottes ausblenden, indem er ein Nichts imaginiert, aber er kann das imaginierte Nichts nicht dadurch überwinden, dass er es mit einem imaginierten Etwas füllt."
Eric Voegelin: Realitätsfinsternis; Berlin 2010 (1968-71); S. 26

Der Satz von Voegelin lässt eher an eine Gottesfinsternis (so heißt ein Buch von Martin Buber aus dem Jahre 1953), als an eine Realitätsfinsternis denken. Aber Voegelins Pointe besteht darin, dass für ihn die Realität nur dann Bestand hat, wenn sie die menschliche Existenz quasi von ‚Außen‘ berühren kann, sie nicht vollkommen immanent, d.h. selbstgemacht ist (behandelt werden folgende Selbstmacher: Schiller, Hegel, Comte). Wenn Voegelin von einer selbstgemachten Welt als Imagination spricht, dann weniger, um ihr die wirkliche Wirkungsmächtigkeit abzusprechen, sondern um auf die ungeheuren Ausblendungszusammenhänge hinzuweisen, die damit einhergehen. Dafür nutzt er auch den von Schelling übernommenen Begriff der Pneumopathologie = Verfall und Verlust des – transzendenten, göttlichen - Geistes.

Aus verschiedenen Gründen ist es immer problematisch, Dinge, Sachverhalte und Zusammenhänge zu pathologisieren. Andererseits, jetzt wo ich den Begriff der Pneumopathologie kenne, fühle ich mich ein wenig so wie ein dilettantischer Hausarzt, der seinem sterbenskranken Patienten die Wahrheit sagen kann, ohne dass er diese versteht. Nützt aber keiner und keinem.

28. Juni 2024

Tageseinschläge

Auf dem Weg zum Bahnhof kommt mir ein mittelalter weißer Mann entgegen, mit einem T-Shirt, auf dem steht: "Keine Macht für Niemand". Allerdings sieht er so aus, als hätte er von "keine Macht" schon besonders viel abbekommen. Aber der Spruch bleibt eine Anmaßung, da ein in die Jahre gekommener weißer Mann in heutiger Zeit gar nichts einfordern darf. 

Der Zug nach Mecklenburg ist komplett gefüllt, die Leute müssen im Gang stehen. Eine Frau, vielleicht knapp über fünfzig, mit Bürstenhaarschnitt möchte ein kleines Kind erfreuen und spielt ohne Rücksicht mehrmals sehr laut das Lied Biene Maja auf ihrem Handy ab. Schließlich bittet eine junge Frau, sehr höflich, es leiser zu machen, sie müsse lernen. Es gibt sie wohl: die Geräuschschmerzlosigkeit, so man den Krach nur selber produziert. Auf den Umsteigebahnhof beschimpft ein älterer Mann mit Haarkranz die Zugbegleiterin ob des vollen Zuges aufs heftigste. Als hätte sich ein Überdruckventil geöffnet. Im Anschlusszug zieht eine sehr alte Frau mir schräg gegenüber ihren Schuh und ihren Strumpf aus und untersucht ihren linken Fuß. Auch sie eine öffentliche Person.

Gibt es in Ostdeutschland Nachholbedarf bezüglich Beleidigungen? Keine Macht der Staatsgewalt! Aber sauber bleiben, Autowäsche in der Nähe der kleinen Hafenstadt: dort steht ein älterer Passat; die Fahrerin, übergewichtig, ist ausgestiegen und guckt intensiv auf ihr Handy. Vorne auf der Windschutzscheibe, kurz über dem rechten Scheibenwischer ist ein Aufkleber angebracht, auf dem zu lesen ist: "Zettelpuppe fick dich". 

Und wieder zurück in der ganz großen Stadt: was will der junge Mann adressieren, mit dem ich kurz vor Mitternacht zusammen eine S-Bahn nutze? Im vorbei gehen kotzt er mir fast vor die Füße - das fast bezieht sich tatsächlich auf den Abstand, nicht auf den Umstand der Vomitation -, um sich dann ein paar Sitzreihen weiter sehr aggressiv und in einem sehr gebrochenen Deutsch mit einem jungen Pärchen zu streiten, von denen er irgendetwas Trinkbares einforderte. Aber Rettung naht. In Hamburg war 2023 Mohammed der beliebteste Jungenname: Kein Alkohol, keine Drogen, nur gottesfürchtige Unterwerfung. Sagen wir mal im Großen und Ganzen. 

Am nächsten Tag fahre ich mit dem Fahrrad zur Arbeit und wieder nach Hause. Ich sehe vor dem jüdischen Friedhof einen orthodoxen Juden in Schwarz mit Hut und Schläfenlocken. Daneben sein ca. zehnjähriger Sohn mit Kippa, der traurig dreinschaut. Darob möchte ich Judith Butler, in einem Anfall von Zynismus bitten, dem Jungen zu erklären, was berechtigter Widerstand ist.

Zurück im Kiez ein Tagesbelohnungstrink in einer Bar: Aperol - ich sitze und betrachte die Vorbeigelaufenen. Die spindeldünne, schwarz gekleidetet, mit Tattoos und Piercings (Nase, Augenbrauen) bedruckt und behängte Bedienung mit schwarzgefärbten Haaren - Nachfrage, ja aus Polen - bildet in dem Sommer-essen-und-trinken-gegen-den-Durst-Ensemble ein zweibeiniges Memento Mori.

Schließlich Heimweg und die Frage, ob die Frau mit Migrationshintergrund (darf man das so sagen), mit transparenter Plastikhaube auf dem Kopf und in einem schwarzen, im Wind wehenden Plastikumhang eingepackt, die telefonierend vor einem türkischen Frisör (das auch?) steht, nicht zur Zeit den Engel der Geschichte verkörpert? Die Zukunft kommt woanders her, sieht erstmal dunkel aus, aber die Dinge werden noch schön gefärbt.

30. Mai 2024

Beschaffenheit

Wie sollen Sätze beschaffen sein?

- ich möchte einen Satz, der in der Kälte wie eine warme Decke sich um mich legt
- ich möchte einen Satz, der mich kühlt in der Hitze der Ausweglosigkeiten
- ich möchte einen Satz, der so intensiv leuchtet, dass alles erstrahlt
- ich möchte einen Satz, der wie ein Sack über dem Kopf mich blind loslaufen lässt
- ich möchte einen Satz, der duftet wie Blumen auf einer Sommerwiese
- ich möchte einen Satz, der den Kitsch schnittert, wie die Sense den Halm
- ich möchte einen Satz, der die dunklen Momente fasst, wie die Hand den Hammer
- ich möchte einen Satz, der mich taub macht gegen die Schläge der Faktizität
- ich möchte einen Satz, der aussieht, als hätte er etwas mit der Realität zu tun
- ich möchte einen Satz, der mir morgens einen Kaffee verspricht und dass der Tag ein guter wird

Nein, nicht mal das.

- ich möchte einen Satz, der mich fröhlich anschweigt

Wie nur in diesen Zeiten.

29. April 2024

Ferne Bleibe

"Die kontinuierliche Geschichte ist das unerläßliche Korrelat für die Stifterfunktion des Subjekts: die Garantie, dass alles, was ihm entgangen ist, ihm wiedergegeben werden kann; die Gewißheit, dass die Zeit nichts auflösen wird, ohne es in einer erneut rekomponierten Einheit wiederherzustellen; das Versprechen, dass all diese in der Ferne durch den Unterschied aufrechterhaltenen Dinge eines Tages in der Form des historischen Bewußtseins vom Subjekt erneut angeeignet werden können und dieses dort seine Herrschaft errichten und darin das finden kann, was man durchaus seine Bleibe nennen könnte."
Michel Foucault: Archäologie des Wissens; Frankfurt/M. 1988 (1969); S. 23

Der Glaube an den Fortschritt, die kontinuierliche Geschichte, an 'das' Subjekt: schon längst dahin. Man könnte diesen Satz in die Schublade eines "postmodernen Wissens" (was immer das ist) einsortieren und sich der verwirrten Ordnung der Dinge widmen. So man ihn jedoch persönlich schultert, wird es witziger: Ich bin ein dezentriertes Subjekt, ich kann nicht eine, d.h. meine konsistente Geschichte erzählen, ich habe Dinge und Momente an mir vorbei ziehen sehen, die niemals wiederkommen werden, ich habe Dinge vergessen, die mich wieder einholen werden, um mir die Umumkehrbarkeit meines Lebens schmerzhaft vor Augen zu führen, ich habe Dinge erlebt, die ich nicht sinnvoll in meine Biographie einordnen kann, die ich nicht verstehe, dich ich nie verstehen werde, die meinem Selbstbild widersprechen und mein Alter wird mich nicht einer verheißungsvollen Zukunft entgegenführen, sondern im Gegenteil meinen Geist und meinen Körper Tag für Tag mehr limitieren.

Glaubt doch keiner.

22. März 2024

Kissen im Fleisch der Zeit

"Die Fama, die dem ‘Oblomow’ vorangeht, in diesem Roman ereigne sich nichts, aber auch gar nichts, der Inhalt lasse sich in wenigen Zeilen wiedergeben, hat bewirkt, dass die wenigsten sich noch die Mühe machen, dieses Buch wirklich von Anfang bis Ende zu lesen, weil jeder es zu kennen, jeder sich unter den (längst in alle russischen Diktionäre aufgenommenen) Wörtern ‘Oblomow’ und ‘Oblomowschtschina’ etwas vorstellen zu können glaubt."
Hans J. Fröhlich: Iwan A. Gontscharow - Oblomow (1859); in: Fritz J. Raddatz (Hg.): ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher; Frankfurt/M. 1980; S. 260

Oblomow ist mit unvorstellbarer Trägheit gesegnet. Er verbringt sein Leben damit zu schlafen, zu träumen, zu dämmern und zu grübeln, meist im Bett. Kritische Geister werden sagen, dass er dem Leben nichts Positives hinzuzufügen vermag. Dabei geht es doch schon seit längerem darum, das Schlimmste zu verhindern. Und wenn jemand dem Schlimmen nicht noch etwas Schlimmes hinzufügt, ist das auch gut. Einzig die lebenspraktische Herausforderung, die entsprechenden Ressourcen für diese Lebensweise zu finden, bleibt bestehen. Aber ach, wenn man immer nur die Hindernisse sieht …

(Ich glaube, dass ich das Buch auch nicht gänzlich gelesen habe - ca. 700 Seiten -; ich habe es im Regal auch nicht gefunden, obwohl ich es besitze oder besitzen müsste. Aber vielleicht ist es durchaus im Geiste Oblomows, wenn man auf eine Zusammenfassung zurückgreift.)

27. Februar 2024