"Doch Freuds Müdigkeit wurde immer wieder gemildert durch die interessanten Wendungen, die der Lauf der Dinge nahm."
Peter Gay: Freud. Eine Biographie für unsere Zeit; Frankfurt/M. 2006 (1989);S. 416
Das Jahr 1916 - an dieser Stelle der Biographie befinden wir uns, Freud ist 60 Jahre alt - bot wahrscheinlich auch genug Anlass, um die Müdikgeit zurückzudrängen (u.a. kämpften seine beiden Söhne an der Front). Fast könnte man meinen, dass das letzte Jahrhundert noch einen weiteren Weltkrieg brauchte, um die Müdigkeit endlich und kollektiv zuzulassen. Inzwischen leben wir wieder in nervösen Zeiten. Wohl dem, der müde sein kann.
30. Januar 2024
"Wer macht sich die Mühe, ständig unter den Umständen zu leiden?"
Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage. Notizen 2008 - 2011; Berlin 2012; S. 21
Das umfassend leidende Leben ist ein formgebender Prozeß und verlangt Disziplin und Anstrengung. Allerdings sollten die Anhänger dieser quasi doppelten Lebensaufgabe bedenken, dass das Resultat für Außenstehende oftmals nicht als der Entschluss zu einer tiefen Ernsthaftigkeit, sondern als kindische Bockigkeit wahrgenommen wird, wobei die Wahrheit der Wahrnehmung die der Intention oftmals übertrifft. Mann kann also jene beneiden, die die Möglichkeit zu einem schönen Vorsatz haben, nämlich sich einer Mühe zu entledigen. Aber wie so oft im Leben, dürfte auch hier gelten: die, die können, wollen nicht, und die, die wollen, können nicht.
Nach einigen Sätzen hat das Leben uns wieder, so wie wir sind.
31. Dezember 2023
"Wir befinden uns in einem Bereich, in dem jeder Selbstschutz des Gesunden und Geschützten, des Heil(ig)en und Sakralen (holy) sich gegen den eigenen Schutz schützen muss, gegen die eigene Polizei, gegen die eigene Abwehrmacht, gegen das Eigene schlechthin, will sagen gegen die eigene Immunität."
Jacques Derrida: Glaube und Wissen: in: J. Derrida / G. Vattimo: Die Religion; Frankfurt/M. 2001 (1996); S. 71
Beim weihnachtlichen Geschenk kann man nicht recht entscheiden, ob es zum Bereich des originär Heiligen gehört (es wurde uns ein Kind geschenkt, die Logik der Gabe, des Opfers usw.), das es zu schützen gilt, oder ob es als Immundepressor, d.h. zur Unterdrückung des Selbstschutzes, für das Fortbestehen des weihnachtlichen Heils fungiert, das nur aufgrund zahlreicher transplantierter Körperteile (angefangen vom Weihnachtsbaum bis hin zum Weihnachtsmann) sich als versprochener Heilsraum halten kann.
So spricht diese Ambivalenz des Geschenkes, d.h. die Reinheit und Unreinheit zum Wohle des Heils, immerhin nicht gegen Weihnachten. Empirisch mag das im Einzelfall anders aussehen.
26. Dezember 2023
“Warum lässt man mich nicht in Ruhe.”
Peter Fischli / David Weiss: Findet mich das Glück?; Köln 2003; Nr. 59
Die beiden Künstler Fischli und Weiss kennt man u.a. durch die Installation bzw. durch den dazugehörigen Film “Der Lauf der Dinge” (1987), in dem eine fast halbstündige Kettenreaktion verschiedenster Elemte / Vorrichtungen physikalischer / chemischer Art gezeigt wird. Zum einen veranschaulicht der Film, dass der “Lauf der Dinge”, obwohl ja durch Ursache und Wirkung determiniert, eher einer absurden Abfolge, denn einer strengen Choreografie ähnelt und dass zum anderen “der Lauf der Dinge” an einem seidenen Faden hängt und keineswegs vom ersten Impuls bis zum letzten Effekt vertrauenserweckend linear voran schreitet (Und natürlich noch vieles mehr: das Ganze sieht bedrohlich und fremdartig, billig und fantasievoll aus usf.)
Vor diesem Hintergrund gewinnt auch obige Frage (das Künstler-Buch besteht nur aus diesen “einfachen” Fragen, zwei auf einer Seite) eine andere Tönung - ist halt eben der “Lauf der Dinge”. Aber weiter: ist diese Frage (die ich zutiefst verstehe) nicht eine genuin männliche Frage. D.h., kann man eine neurotisch gefärbte Exit-Präferenz eher Männern als Frauen zuschreiben. Bevor hier die Fallstricke der Genderdebatte weiter ausgelegt werden, schließe ich mit dem Hinweis: die beiden kommen aus der Schweiz.
26. November 2023
“Das Herz ist ein komisches Organ; erst wenn es gebrochen ist, schlägt es in seinem eigenen Ton; wenn es nicht bricht, versteinert es.”
Hannah Arendt: Denktagebuch - Erster Band; S. 467 München 2003 (1954)
Man könnte auch sagen: das Herz schlägt, wenn es denn schlägt, immer in Blue Notes.
10. November 2023
“Die jüdische messianische Hoffnung, die hier der Engel der Geschichte symbolisiert, schreitet nicht von einer Etappe zur anderen bis zum zweckbestimmten Ziel der Geschichte, sondern setzt sich in den Rissen der Geschichte fest - dort, wo ihre Maschen sich auflösen und Tausende von Fäden, die ihr Gewebe bilden, lose hängen.”
Stephane Móses: Der Engel der Geschichte; Frankfurt/M. 1994 (1992); S. 22
Wenn Gott am fernsten scheint …
29. Oktober 2023