Auf dem Weg zum neuen Jahr
Gemessen an unseren Möglichkeiten scheitern wir fast immer.
31. Dezember 2021
Gemessen an unseren Möglichkeiten scheitern wir fast immer.
31. Dezember 2021
Ich bin in einem Alter, wo mehr als die Hälfte des Lebens vorbeigezogen ist, zumindest statistisch gesehen. Manche Gründe mag ich finden, um mich noch nicht so alt zu fühlen wie ich bin. Dies scheint eine Altersmarotte zu sein, die sich irgendwann mal im Geist eingenistet hat und wahrscheinlich erst dann verschwinden wird, wenn man sich seine vollumfängliche Gebrechlichkeit eingestehen muss, so man sich zu diesem Zeitpunkt geistig auf einer Höhe befindet, von der aus dies zu bewerkstelligen ist. Überhaupt ist man schlecht auf die schleichende Form der Alterung vorbereitet. Die kleinen Wehwehchen (welch ein schönes Wort) nehmen zu, Erkrankungen bleiben länger, die Sicht wird kürzer, die Zähne fragiler und schon stellt man sich eines Tages die Frage, ob die Tage der gefühlten Verfallsfreiheit endgültig gezählt sein sollen (wobei der körperliche Verfall real natürlich viel, viel früher schon eingesetzt hat). Das klingt larmoyant, wird aber dadurch relativiert, dass auf der anderes Seite eine Art von - der Kürze halber der Breitbandbegriff - Seinsdankbarkeit sich einstellt, manchmal. Die kleinen Dinge und Nebenwege bekommen eine schöne Art von unangestrengter Bedeutung, indem sie stille Freude auslösen. Und/aber der Tod: langsam nähert er sich von den Rändern, erfasst den ein oder anderen Bekannten - ja der, ist schon alt, sage ich zu mir -, kommt schleichend näher.
Keine abwegige Idee nun seine Beziehungsbestände zu prüfen, da der Vorrat an Freunden und Freundschaften sich nicht umstandslos aufstocken lässt. Einige lose Freundschaften sind eingeschlafen, kaum zu regenerieren. Und der beste Freund der Jugend, d.h. prägende Aufbruchsjahre, Wohngemeinschaft, Musik, Bücher, Politik, gefühlte Seelenverwandschaft? Die Lebenswege haben sich getrennt: Kinder und keine Kinder, Beruf und Berufung, Stadt und neue Stadt, Liebe und Liebschaften und irgendwann ist der Faden des Voneinander-Hörens und des sich Mal-Wieder-Meldens gerissen. Es ist ein schöner Herbsttag, ich bin auf Familienbesuch in der Heimatstadt und beschließe spontan auf dem Sonntagsspaziergang einen kleinen Umweg zu nehmen, um den einstmals besten Freund ein 'Hallo' zu sagen. Schauen was passiert ist, vielleicht auch: ob sich alte Bande fühlen, ob sich neue fügen lassen. Natürlich ist es unhöflich ohne Anmeldung wen auch immer zu überfallen. Was habe ich erwartet? Der erste Kurzbesuch führte einen Monat später zu einem gemeinsamen Wochenende. Seitdem denke ich viel darüber nach - über uns, mich, über ihn - und auf einer abstrakteren Ebene gibt es vielleicht einige Punkte, die nicht nur 'persönlicher Natur' sind.
Künstlerinnen und Künstler
In einer funktional beseelten Arbeitswelt bildet der Künstler (Vorsicht: generisches Maskulinum) und das Künstlersein die Kontrastfolie (eine der Kontrastfolien) des authentisches Lebens, auch wenn der Begriff der Authentizität in der Kunst- und Musikszene keinen guten Ruf hat. Während Arbeiter und Angestellte unter dem Joch des Kapitals zum Broterwerb ihr freudloses Dasein fristen müssen, verausgabt sich der Künstler in seinen Werken und in seinem Sein (in gewisser Weise wird auch der Firmengründer inzwischen - zu Recht - als Künstler gesehen), verzweifelt auf der Suche nach einer richtigen künstlerischen Lösung, gefangen in tiefen Depressionen, dann wieder obenauf, manisch Dinge erschaffend. Er feiert und lässt sich feiern für sein Werk, pfeift auf Arbeits- und Ruhezeiten und auch auf alle anderen Konventionen, lässt bei Konzerten und Vernissagen die Lebensenergie in allen Dimensionen spritzen. Zugleich ist dies Teil der Jugend-DNA, womit wir bei dem schönen Elternsatz sind, der da lautet, dass man mit den Flausen (diese im Kopf) doch bitte mal aufhören sollte. Diejenigen, die diesen Rat nicht befolgen oder auch aus eigenen Überlegungen und Empfindungen damit nichts anfangen können, landen - so die Erfahrung - entweder im Drogenmilieau oder versuchen tatsächlich (hier um umfassenden Sinne) Künstler zu werden. So man nicht in absehbarer Zeit Erfolg hat, bleiben die profanen Lebensbedingungen oft prekär, zudem das Künstlerleben trotz oder wegen der Exzesse, und auch ganz ohne, sich natürlich nicht so idyllisch darstellt, wie man sich das vorzustellen beliebt. Mag für ein gutes Kunstwerk Arbeit allein nicht reichen, so ist sie - und zwar harte Arbeit - doch unerlässlich. Gute Reise, viel Erfolg. Nichtsdestotrotz sind die Künstler im Bekannten und Freundeskreis beliebte Gäste, so sie entweder jung und/oder erfolgreich sind. Die Sonne des authentischen Seins, so man in diesen dichotomischen Schema denken möchte, fällt auch auf die Gönner.
Selbstdestruktion
Das Schöne an manchen Klischees ist, dass sie schön sind. Kunst und höchste Leidenschaft für die künstlerische Sache gehören in modernen Ohren fest zusammen. Denn in der Kunst wird unser wirkliches Sein verhandelt und um das zu bezeugen, ist an abgeschnittenes Ohr zum Beispiel nicht zu wenig. Jedoch: anders als in der 'Funktions-Arbeit' bringt der Künstler sich in sein Werk als Person ein und wird damit als ein offenbartes Oberflächenwesen angreifbar, insbesondere deshalb, weil in der Kunst immer auch Abgründiges mitverhandelt wird. Hat der Künstler Erfolg, wird ihn zum Beispiel auf persönlicher Ebene die Frage ereilen, ob das Interesse an seiner Person seinem Erfolg oder wirklich seiner Person gilt - er muss entscheiden, ob und von wem er um seiner selbst willen geliebt wird, gerade in Phasen des Selbstzweifels und der Kreativitätsflaute. Hat er andersherum keinen Erfolg, wird sich die Beschäftigung mit dem Abgründigen ganz natürlich mit den selbstdestruktiven Impulsen verbinden, was im Zusammenhang mit der oben erwähnten Kunstszene zu einer fabelhaften Abwärtsspirale fügen kann. Während sich dieser selbstdestruktive 'Lifestyle' in die Szene durchaus einfügt und man den jungen Menschen dieses Daseins als eine Zwischenzeit noch verzeiht, sieht es bei den älteren Künstlern (zum Teil generisches Maskulinum) anders aus. An der der Tafel steht nun: gescheiterte Existenz. Als tragischer Spezialfall sei noch die Variante erwähnt, wo das Versagen nicht auf Seiten des Kunstwerks und des Künstlers steht, sondern die Öffentlichkeit und die Zeit noch nicht reif sind für die entsprechenden Ideen und Werke. Man kennt jene Biografien, wo der zu Lebzeiten gescheiterte Künstler nach seinem Tod Anerkennung und Berühmtheit erlangt.
Aber der Stempel „gescheiterte Existenz“ dürfte nur in absoluten Ausnahmefällen von der nachfolgenden Generation korrigiert werden. Und dummer Weise führt diese Etikettierung bei den Betroffenen nicht unbedingt dazu, die künstlerischen Arbeitsanstrengungen zu intensivieren, was psychologisch auch verwundern würde. Also findet sich entweder ein Brot-Job und die künstlerische Produktion läuft nebenher (teilweise mit großen Erfolgen und Durchbrüchen = Ende Brot-Job) oder wird (sukzessive) eingestellt: Oder man findet einen Gönner, oder: der Abstieg in den ersten Höllenkreis des verwahrlosten und unproduktiven Künstlerseins beginnt. Die Selbstdestruktion findet nun dankbare Nahrung und die Diskrepanz zwischen Sein und Sollen wird immer größer, womit das Scheitern seine eigene Spur immer tiefer ritzt. Auf jeder Vernissage und jedem Konzert, die etwas auf sich halten, wird man diesen Personenkreis in seiner idealtypischen Ausprägung finden.
Systemschuld
Aber kann der gescheiterte Künstler wirklich etwas für sein Unglück. Denn: "Jeder ist seines Glückes Schmied." Dieser Satz hatte schon immer eine gehörige Schieflage. Für ihn spricht, dass er, wenn auch aus der Ferne, das Individuum daran erinnert, selbst aktiv zu werden. Nun, politisch raumgreifender argumentiert, würde man dem Satz entgegenhalten, dass er eine ganze Menge, meist unbemerkter, Strukturvorgaben vergisst, an denen viele verheißungsvolle Anstrengungen zerschellen bzw. überhaupt erst keine Möglichkeiten finden, sich zu entfalten. Niemand kann ermessen, in welcher Breite und Tiefe diese Struktureffekte wirken. Es gibt Beispiele, in denen Menschen unter hoffnungslosesten Startbedingungen großartige Leistungen vollbracht haben, während umgekehrt genug Beispiele existieren, in denen, trotz bester Voraussetzungen, das Leben konsequent vor die Wand gefahren wurde. Doch bleiben statistische Signifikanzen, die beispielsweise besagen, dass Kinder aus Akademikerhaushalten eher studieren und promivieren und schlussendlich auch mehr Geld verdienen als solche aus Arbeiterfamilien. Zumindest genug Gründe, um diese Struktureffekte ernst zu nehmen und zu versuchen, sie allgemeinwohlorientiert zu minimieren oder auszuschalten.
Was auf politischer Ebene zu diskutieren wäre, taugt jedoch wenig, um das persönliche Scheitern zu legitimieren. Hat man genug kognitive Ressourcen, um auf dieser „Strukturebene“ zu diskutieren und zu argumentieren, so sollten diese auch ausreichen, um gegen diese Strukturen anzugehen und / oder sich aus ihnen zumindest partiell herauszuarbeiten (was nicht heißen muss, dass man die Ordnung der Dinge akzeptiert). Geschickt umgeht man diese Problematik, indem man ‚die‘ Struktur zu einem Gesamtsystem verschweißt und davon spricht, dass das System - das eine, das große, das allumfassende, zumeist das kapitalistische System - an allem Schuld ist, auch an der ganz persönlichen Situation. Gegen die Größe, Stärke und Ausdehnung eines solchen Systems müssen alle individuellen Kämpfe versagen. Und so erübrigt sich auch die Frage, welch schwerer Schicksalsschlag - Trennung, Krankheit, Tod? – zu solchen Lebensverwerfungen hat führen können und ob kreatives Handeln nicht auch in anderen Arbeits- und Lebenskontexten zu realisieren ist. Stupid, es ist doch das System, das alles kaputt macht, so heißt es dann explizit oder implizit. Dabei hätte das Künstlerleben so schön werden können. Aber solange die große Revolution aussteht, kann man machen nix. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich die ultra-liberale und die sozialistische Denkungsart komplementär verhalten, so die eine das Glück auf die eigene Leistung, die andere das Unglück auf das System zurückführt.
Verwahrlosung
„Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.“ (Mat, 22,14) Ich bin mir nicht sicher, ob es sich hierbei um eine Frustrations- oder Beschwichtigungsformel handelt. Sicher ist, dass es schon eine große Leistung ist, den alltäglichen Lebenswahnsinn halbwegs in den Griff zu bekommen, auch ohne auserwählt zu sein. Frustrations- und Depressionspotentiale lauern überall. Nicht jeder Tag ist mit Gelassenheit oder einer Portion Stumpfsinn gut zu überstehen. Umso erstaunlicher jene Momente, die durch – nennen wir es mal – Schönheit der Form gehegt und gepflegt werden. Mit liebevoller Disziplin mag man so manche dunkle Stunde wieder in die Spur einer anderen Zukunft schieben, wenn auch nicht immer.
Umgekehrt ist es keineswegs so, dass alles was die Form oder die Konvention unterläuft, subversiv oder künstlerisch wertvoll ist. Asozialität mag zuweilen als Konventionssprengstoff tauglich sein und der situierten Gesellschaft ihre Maske vorhalten und vielleicht sogar den Aufschwung zu einer Revolte bilden. Meistens jedoch kommt Asozialität im Zustand der Verwahrlosung daher und sieht so aus wie sie ist: trostlos. Und dies gilt auch für die gescheiterte und gealterte künstlerische Existenz, welche die Verwahrlosung gepaart mit Selbstdestruktion (und Selbstmitleid) als Aufstand gegen die herrschenden Verhältnisse verkaufen möchte und im besten Fall bemitleidenswert, ansonsten jämmerlich daherkommt. Dies umso mehr, als dass von den anderen, der Gesellschaft eine Solidarität (zum Lebensunterhalt) eingefordert wird, ohne selbst die eigenen Potentiale als Beitrag zu dieser Solidarität zu aktivieren. Das emblematische „Fickt Euch Alle“-T-Shirt adressiert an die anderen nicht nur die gelebte Souveränität einer außergewöhnlichen Existenz, sondern nötigt zudem noch den Respekt für eine solche kompromisslose Haltung ab, gepaart mit der Erwartung, dass diese ‚Originalität‘ als subventionswürdig zu betrachten sei. Vielfach untermauert der Zustand des Trägers, dass irgendeine Art von Hilfe wohl Not tuen würde. Auch wenn es heißt, dass der langsame Untergang im Verwahrlosungs-Sumpf Beziehungen zum angrenzenden Milieu pflegt, also sozial eingebunden ist, so möchte man doch zurückfragen, ob wir Pflanzen sind, die von ihrem floralen Schicksal der Immobilität eingeholt werden.
Bei einem Besuch beim besagten Freund vor knapp 20 Jahren stand auf seinem Küchentisch eine Vase mit Schnittblumen, was mich beeindruckt hat. Nun ist es ein Sonntag in der Pandemie-Zeit, eher Mittag denn Morgen, wieder in seiner Küche. Auf dem Küchentisch steht eine Styropor-Verpackung des asiatischen Lieferservices vom Vorabend. Ich trinke einen Kaffee; er holt eine angebrochene Flasche Bier aus dem Kühlschrank und fängt an die kalten Entenreste direkt aus der Verpackung zu essen.
28. November 2021
Wenn man so langsam in die Herbstdepression rutscht, die schönsten Trakl-Gedichte nachliest und dabei, na sagen wir mal: "Songs: Ohia"(die heißen wirklich so)-Lieder hört, dann hat der Optimismus eigentlich so gut wie keine Chance. Dies nur zur Einstimmung, weil nun der oft zitierte Hannah Arendt-Satz kommt, der da lautet: "Der Sinn von Politik ist Freiheit". Ich stelle mir Christian Lindner als Finanzminister vor, wie er bei seiner Vereidigung unter seinem Sakko ein T-Shirt trägt, auf dem dieser Satz in gelben, nein in magenta-farbigen Lettern zu lesen ist. Da Joachim Gauck, einstmals Bundespräsident, aber auch Hannah-Arendt-Preisträger von 1997, nicht mehr im Amt ist, könnte er Herrn Lindner bei seiner Ernennung auch nicht erklären, dass der Satz von Hannah Arendt gar nicht so liberal gemeint ist, wie er zunächst klingt (als Politik-Berater würde ich Herrn Lindner deshalb vorschlagen, den Satz abzuändern in "Der Sinn von Politik ist keine Schulden zu machen", nicht weil er so richtig ist, sondern weil Selbstironie mein Gemüt besänftigt).
"Der Sinn von Politik ist Freiheit". Spötter würden sagen, dass Satz aus dem Holz geschnitzt ist, aus dem Sonntagsreden bestehen. Träume weiter, kleiner Bürger, du kleiner Tropf: die große Politik funktioniert doch ganz anders. Glaubt du wirklich, dass Du, ja Du, nur eine klitzekleine Rolle wirst spielen können, wenn es um die großen Zeitläufe geht?
Es ist Herbst - nichts wäre einfacher als sich der sich ausweitenden Dunkelheit hinzugeben und in cioranscher Manier über einige Aphorismen mit dem Titel "Vom Nachteil die Politik verstehen zu wollen" nachzudenken. Aber nein, Dunkelland hat noch nicht gewonnen und ich kann nur darauf hinweisen, dass der Arendt-Satz trotz oder wegen der liberalen Überlagerungen keineswegs selbsterklärend ist. Denn Arendt geht es nicht um eine rein individuelle Freiheit, die sich als negative Freiheit in der Herauslösung aus oder Abstandnahme von allen sozialen und kulturellen Zusammenhängen realisiert. Vielmehr zielt ihre emphatische Betonung des Handelns, in dem sich Freiheit realisieren kann, auf jenen Zwischenraum, der nicht souverän oder willensmäßig besetzt oder okkupiert werden kann, es sein denn auf Kosten seiner Nichtung. Was sich im Handeln offenbart, ist ein Adressierungs-, Berührungs- und Resonanzgeschehen, das im Gegensatz zu unseren Mainstream-Vorstellungen auch denjenigen ergreifen und verwandeln kann, der handelt. Sowieso sind die "Handlungsrollen" nicht so einfach verteilt: dort der Sender, hier der Empfänger und dann auch wieder umgekehrt - so einfach ist es nicht, weil es keinen reinen Sender und keinen reinen Empfänger gibt. Vom Handeln berührt, ist das Resonanzgeschehen integraler Teil des Handelns und nicht nur passive Empfangsmasse. In diesem Sinne trägt, formt und weitet jedes gute Sagen und Antworten den Handlungsraum mit, auch wenn man im "klassischen Sinne" nicht beteiligt ist (Die Schwierigkeit dies zu "verstehen" - so es eine Schwierigkeit gibt - gründet nicht in der Kompliziertheit des Vorgangs, sondern auf seiner weitgehend verdrängten Einfachheit oder besser: auf seiner fehlenden Einfachheitsakzeptanz).
Handeln und Zwischenraum (politischer Raum, politische Nation) sind auf eine eigene Weise miteinander verbunden und lassen - so es glückt - immer wieder etwas in der Welt erscheinen, was nach den Gesetzten der Wahrscheinlichkeit und der Rationalität eigentlich gar nicht hätte erscheinen können: ein neuer gemeinsamer Anfang. Voilà, da ist sie nun, unsere Freiheit! Es gehört im Gegenzug nicht viel Phantasie dazu, diese Freiheit schnell unter dem Geröll unserer Realität zu begraben: die Macht, die Ökonomie, der Kapitalismus … Zugegebenermaßen wäre etwas mehr Exemplifikationstext an dieser Stelle hilfreich, aber die Zeit, der Herbst, der Weinvorrat … Kurzum, es gibt durchaus Grund zu der Annahme (so das hoffnungsvolle Versprechen), dass die politische Freiheit existiert, wenn auch nicht ungefährdet, wenn auch anders als vielleicht gedacht.
In Diskussionen kommt man immer wieder an diesen Punkt, wo man sich tief in die Augen schaut und, implizit, explizit, zugesteht - möglicher Weise ver-glaube ich mich da -, dass die Freiheit unserer Wir-Weisen zu er-handeln ist. Ich füge dann, auch um das schöne letzte Wort zu haben, hinzu, dass die zuverlässigsten Spielarten zur Einebnung dieser Idee darin bestehen, das Politische durch die Moral oder durch die Funktionslogik zu ersetzen. Die Zustimmung kommt so selbstverständlich, dass ich mich immer etwas schäme, es überhaupt erwähnt zu haben.
Allein, kaum schlägt man seine Wochenlektüre beziehungsweise das außer der Reihe erworbene Monats-Periodikum auf, schon sieht man, dass die Pluralität des Lebens darin besteht, dass andere Menschen ganz anders denken. Glücklich fügt sich der Umstand, dass sich hier zwei Positionen vertreten sind, die in fast idealtypischer Weise, das eben gesagt exemplifizieren: dass man durch Moral und Funktionslogik die politische Frage einebnet.
Beginnen wir mit dem letzterem (der Funktionslogik) und mit Armin Nassehi, der in der Zeit eine längere Buchrezension zu Wolfgang Streeks 'Zwischen GLobalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus', erschienen 2021, geschrieben hat (nachzulesen: Armin Nassehi: Das organisierte Idyll, in: DIE ZEIT Nr. 43, 12. Oktober 2021, S. 56).
Nassehi beschäftigt sich dabei mit der Grundthese des Buches, die seiner Meinung nach wie folgt aussieht: Der Globalismus lässt sich nur durch konsequente Wiedereinbettung politischer Entscheidungen in einen (homogenen) Nationalstaat bewerkstelligen (ob Wolfgang Streeck das wirklich so gedacht und geschrieben hat, ist an dieser Stelle nicht relevant, da es um die Rezeption von Nassehi und den sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen geht).
Diese These - u.a. von Streek -, so Nassehi ist nicht auf der Höhe der Zeit, da sie die Komplexität der modernen Welt nicht berücksichtigt und daher in eine Art Steuerungseuphorie mündet, die zum Scheitern verurteilt ist. Mag die industriegesellschaftliche Moderne, so Nassehi weiter, als Ausnahmezeit diese Illusion partiell unterstützt haben, so setzten sich doch die Differenzierungsfolgen durch. Das heißt, wir haben es mit den Eigenlogiken des Ökonomischen, des Wissenschaftlichen, des Medialen und des Rechts zu tun, die auf einer politischen Ebene nicht mehr integriert werden können. Sein letzter Satz lautet daher: „Die Idee einer Demokratie aus dem Geist der homogenen, abweichungsfeindlichen Form einer prästabilisierten Einheit jedenfalls können wir uns angesichts gesellschaftlicher Herausforderungen nicht leisten.“
Dazu kann man zwei Dinge anmerken. Zum einen folgt aus der Sachebene, selbst wenn sich die Experten der Sachebenen-Community in der Beurteilung einer Sachlage einig sind, keinesfalls eine Entscheidung darüber, was daraus für das gemeinschaftliche Zusammenleben folgen soll. Die Corona-Debatte hat dies zum Beispiel umfänglich veranschaulicht. Die Entscheidung zwischen Sicherheit (hoher Gesundheitsschutz) und Freiheit (selbstbestimmtes Leben) ist keine, die sich - auch wenn dies permanent versucht wird - von den Bürgern weg-delegieren lässt (In diesem Zusammenhang ist es nur noch ein weiterer kleiner Schritt in der Kapitulation des politischen Denkens, wenn man meint, diese Entscheidungen zum Beispiel durch einen Ethik-Rat fällen zu lassen, so als ob wir nur lange genug nach den richtigen "Experten" suchen müssten).
Zum anderen scheint es inzwischen eine eigenartige Selbstverständlichkeit zu sein (aber sind die vorherrschenden Meinungen nicht immer eigenartig), eine politisch-demokratischen Nation unter Homogenitätsverdacht zu stellen. Jede "Einheit", die nicht funktional oder rational durch-begründbar ist, scheint dann nur als eine Art Exklusionsmaschine denkbar zu sein, die den funktional-rationalen Anforderungen nicht genügt.
Dass aber eine demokratische Nation als eine gefasste politische Einheit ihre Fassung durch den durchaus konflikthaften Raum des politischen Handelns bekommt (und als pluraler politischer Handlungsraum gegründet wurde), und die Tradition dieser Konflikte und Einigungen als haltendes Moment mitträgt, demnach auf Pluralität angewiesen ist, gerät aus dem Blickfeld. Die Erfahrung der Nicht-Integration von Teilen der Gesellschaft dürfte vermutungsweise in den meisten Fällen weniger auf einer Akzeptanzverweigerung der jeweiligen Gruppen beruhen, als auf einen (vielseitigen) Verzicht zur politischen Teilhabe. Dabei ist diese Teilhabe sowohl an kulturelle und soziale Voraussetzungen genknüpft, die keineswegs trivial sind und hängen andererseits von der Offenheit der politischen Handlungsräume ab. Begreift man die Integration aber nicht als politische Integration, existieren die "Identitätsaspekte" unberührt nebeneinander und verlieren sich entweder in einer liberalen gleichgültigen Differenz, was oftmals dazu führt, dass sich die ohnehin privilegierten Gruppen ihre eigene Realität bauen und sich so den Konflikten entziehen, oder die Identitäten setzen sich in ihren Ansprüchen absolut und pochen in ihrem identitären So-Sein auf eine zuvor vorenthaltene Anerkennung, ohne den Weg der handelnden Auseinandersetzung zu beschreiten. Letzteres heißt immer auch, seine eigene Identität zu öffnen, den Verzicht auf die eigene volle Souveränität zu akzeptieren.
Offensichtlich ist, dass wir es hier, wo Überzeugungen berührt und daseinsrelevante Dinge verhandelt werden, nicht mit Problemlösungen zu tun haben. Entortungen und politischer Austrag entstehen jenseits der Spielfelder der funktionalen Ausdifferenzierungen. An dieser Stelle setzt nun ein anderer entpolitisierender Diskurs ein: Politik im Namen der Moral. Felix Heidenreich hat im Merkur einen kleinen Essay mit dem Titel 'Moralisierung' geschrieben, in dem die Problematik mehr oder minder deutlich zu Tage tritt (nachzulesen: Felix Heidenreich: Moralisierung, in: Merkur, 25. Jahrgang, September 2021; S. 32-42). Gegen die systemtheoretischen Argumente, die sich auf die gesteigerten Problemlösungsfähigkeiten sich ausdifferenzierender Funktionsbereiche beziehen, merkt Heidenreich zunächst an, dass in allen Funktionssystemen immer schon ein Überschuss waltet, immer schon mehr gilt als der bloße Funktionscode. Mit Heidenreich könnte man sagen, dass ein Funktionscode in den Grenzen seines Codes nicht die Voraussetzungen seiner Funktionslogik mitdenken kann. Eine medizinische Diagnose gibt uns keine Auskunft über die Zulässigkeit von Sterbehilfe, mag die Diagnose auch noch so düster ausfallen. In diesem Sinne hat Heidenreich zweifelsohne Recht, wobei die primäre Stoßrichtung seiner Intervention sich keineswegs auf die Kälte systemtheoretischer Funktionslogiken bezieht (spekulativ könnte man vermuten, dass Heidenreich diesen letztendlich rationalen Systemen zur Not die Rationalität übergeordneter Normen beistellen würde).
Heidenreich zeigt zunächst anhand dreier zeitlich aufeinanderfolgender, gemeinhin als konservativ bis rechts einsortierter Autoren, auf welcher Folie bzw. welchen Folien sich die heutige neu-rechte Moralisierungskritik verstehen lässt. Das fängt bei der lebensphilosophisch inspirierten Rechten an (Hans Freyer), in der Moralisierer als blutleere Träumer diffamiert werden. In diesem Framing steht das Leben, die Kraft, die Stärke gegen die nüchternen Werte der Moral, Pflicht und Abstraktion. Das stahlharte Gehäuse des Kapitalismus (Max Weber) fordert den "Lebensimpuls" heraus. Meldet sich die dunkle Seite der Macht, schrillen natürlich bei normativ gesinnten Geistern die Alarmglocken. Aber halten wir mit und nach Heidenreich fest: gegen die Sittlichkeit werden lebensphilosophisch die dunklen und unkontrollierbaren Leidenschaften ins Leben gerufen. Sodann ist Carl Schmitt an der Heidenreichschen Reihe, der, darauf beharrt, dass alle Werte als menschlich gesetzte Werte relativ sind. Und schließlich wird noch Arnold Gehlen hinzugestellt, der wiederum bemängelte, dass Moral eine intellektuelle Waffe ist, die fast kostenlos zu haben ist, da letztendlich mit der Moral keine Verantwortung verbunden ist.
Die Anklageschrift in Bezug auf die Moralkritiker muss also lauten: Entfesselung dunkler Leidenschaften, Werterelativierung und Unlauterbarkeitsunterstellung. Ergo, so Heidenreich weiter: die neue Rechte pfeift auf die Moral und feiert das leidenschaftliche Leben in Form von Enthemmung und Regression (und wir wissen, woher es kommt). Ein bisschen erinnert diese Diagnose an die fast schon ganz alten Zeiten, wo Oma und Opa vorgeworfen wurde, dass die Haare zu lang und das Benehmen unverschämt waren und die Musik zudem schrecklich und zu laut ausfiel. Wie man sieht, kommt man bei den Werten schnell durcheinander, je nachdem wer, an welcher Stelle, zu welcher Zeit sich berufen fühlt, die Wertekarte zu ziehen. Womit wir beim Kern des Problems sind, wenn Heidenreich ganz am Ende feststellt, dass "gegen moralische Argumente (...) nur andere moralische Argumente plausibel" sind.
Mag dies auch ehrenwert gedacht sein, bleibt doch die Frage, ob es sich tatsächlich um eine Werte-Unterversorgung handelt. Sind Werte die Lösung oder das Problem? Zunächst lässt sich auf einer deskriptiven Ebene der Vorwurf der Unlauterbarkeitsunterstellung an die Werte-Vertreter nicht ganz von der Hand weisen: so ist Moral inzwischen eine Sache geworden, die man sich leisten können muss. Die eigene Lebenssituation samt Identitätsvorhof wird selten in aller Offenheit thematisiert (ja, man hat ein Eigenheim und versiegelt die Fläche; ja, man hat zwei Autos und trägt zum Autoterror bei; ja, mein verreist gerne, auch mal fern und befeuert das Klima; ja, man findet die Aufnahme von Flüchtlingen gut, aber eine Bürgschaft?). Stattdessen nimmt man den Moralbonus des Eintretens für die gute Sache gerne mit, ohne dass diese Art der Verantwortung Folgen hätte (vielleicht geringfügig finanzielle).
Auch bezüglich des Werterelativsmus, übrigens ein Vorwurf, der in der Postmoderne-Diskussion gerne angebracht wurde, verhält sich die Sache verwickelter. Das akademische Wissen darum, dass Werte prinzipiell Sozial-Konstrukte und daher relativ sind, dürfte noch niemanden von seinem 'wertegebundenen' Standpunkt abgebracht haben. Für einen Marsbewohner mögen Werte relativ sein, für Menschen innerhalb eines sozialen und kulturellen Kontextes kaum. Schwerer wiegt der - nicht nur konservative - Einwand, dass nämlich eine sehr starke Wertebindung den Fanatismus durchaus befeuert (ein Argument, das Heidenreich Schmitt zuordnet, ohne es zu diskutieren). Treffen Werte als geglaubte Wahrheiten unmittelbar aufeinander, dürfte der politische Austrag eher ins Unerbittliche abdriften. Adressierung und Resonanz wird man hier nicht begegnen.
Nehmen wir noch den dritten Vorwurf an die Moralkritiker hinzu, der da lautet: Dunkel-Trieb-Entfesslung. Auch hierzu gibt es (mindestens) eine längere Geschichte. Albert O. Hirschman zeigt in seinem Buche 'Leidenschaften und Interessen' wie im frühen 17. Jahrhundert das Problem der zerstörerischen Leidenschaften und der wirkungslosen Vernunft nicht nur aufkam, sondern durch die Einführung des Interessensbegriff gelöst werden sollte. Das Interesse als Handlungsmotivation versprach als eine rationalisierte Leidenschaft, die mit der ökonomischen Sphäre verknüpft war, Wirkungsmächtigkeit, Voraussagbarkeit, Beständigkeit (siehe: Albert O. Hirschman: Leidenschaften und Interessen: politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 670. Frankfurt am Main, 1980). Der Kampf um die 'Gefährlichkeit' der Leidenschaften tobt also schon länger. Und natürlich sind wir geneigt, in der politischen Arena auch heute noch in dem Interesse ein kalkulierbares Moment zuzusprechen, weil es scheinbar mit der Rationalität fest verknüpft ist. Aber man muss nicht weit in die Geschichte zurückgehen, um zu sehen, wie das überschaubare und interessgeleitete Erwerbsstreben in reine Gier umschlagen kann (Stichwort Finanzkrise).
Rationalität und Leidenschaft sind nicht die beiden Pole, die es sorgsam zu trennen gilt, um Schlimmes zu verhindern. Wer glaubt durch (gute) Werte oder - in den avancierteren Theorien - mit einem diskursethischen Regelwerk die irrationalen Aspekte unseres Zusammenlebens bannen zu können (German Angst), verkennt, dass es insbesondere im politischen Handeln aufgrund unserer persönlichen und kollektiven Geschichtlichkeit keinen voll durchrationalisierbaren Grund geben kann, was nicht heißt, dass deshalb unser Handeln per se irrational ist. Vielmehr kann man den Werte-Moralisten und Diskurs-Ethikern an dieser Stelle entgegen halten, dass erst das, was im politischen Raum nicht auftaucht, nicht in den gemeinsamen symbolischen Raum eingeschrieben werden kann, weil es moralisch als verwerflich gilt, als abgespaltenes Stück unbearbeiteter Realität umso regressiver und gewaltsamer an anderer Stelle wieder auftaucht. Das heißt wiederum nicht, dass alles sagbar und tolerierbar wäre. Nur sind Werte und Moral nicht das Bollwerk gegen Gewalt und Regression, als das sie sich gerne sehen würden. Statt zur Lockerung und Verflüssigung der Verhältnisse beizutragen, versteinert die Situation weiter.
Herbstzeit ist, es lösen sich die Blätter von den Bäumen. Rainer Maria Rilke schrieb 1902 in einem Herbst-Gedicht: "Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen." So ist es wohl, unsere Unvollkommenheit und Freiheit gehen Hand in Hand. Wir fallen, so oder so.
30. Oktober 2021
Die Grünen sind vollständig im Versprechensmodus der anderen Parteien angekommen. Auf einem Wahlplakat sieht man die grüne Spitzenkandidatin, wie sie über ihre Schulter zurück blickt, so als würde sie auf uns, die ihr folgen sollen oder wollen, warten. Darunter ist zu lesen: "Zukunft passiert nicht. Wir machen sie."
Dieser Satz suggeriert, dass man nur mit den richtigen Konzepten die Souveränität des Machens und Wollens voll ausspielen müsse, um die Zukunft doch noch, diesmal aber besser, wirklich besser, und natürlich nachhaltiger gestalten zu können. So also ob dann alle Probleme und Entortungen (eine kleine unverbindliche Auswahl: Finanzkrise, Euro-Raum, Rente, Klima, Ressourcen, Umwelt & Tiere & Artenvielfalt und Lebensgrundlagen, Industriestandort, Zukunft der Arbeit, Migration & Integration, Außenbeziehungen, Kriege, China, Digitaler Wandel, Corona & Freiheit) bewältigbar wären, mag die Zeit auch im ein oder anderen Fall knapp werden.
Aber es ist mit beiden Händen zu greifen, dass diese "Probleme" eben keine Probleme im herkömmlichen Sinne sind, sondern unsere Art und Weise des Lebens und Denkens grundlegend durcheinander bringen. Deshalb taucht hier der Begriff Entortungen auf, weil wir von den obigen "Problemen" von unseren angestammten Plätzen vertrieben werden. Wer glaubt wirklich, dass man mit den gängigen Problemlösungsstrategien und / oder moralischen Engführungen mehr erreichen kann, als lediglich einen Aufschub, der die Entortungen aber keinesfalls zum Verschwinden bringt.
Die Ratlosigkeit, zuweilen gar Verzweiflung gegenüber den etablierten Parteien und die oft gehört Klage, dass man nicht weiß, wen man wählen soll, entspringt auch dem Gefühl, dass es keine der Parteien oder handelnden Personen geschafft hat, das Feld des Sagbaren und Denkbaren zu weiten. Selbst dieser Satz ist im Kontext der aktuellen Politik missverständlich, als ob es darum ginge, besonders innovative Visionen oder moralisch provokante Dinge zu artikulieren.
Eher wäre es zunächst ein Verzicht auf die volle Souveränität des Machen-Könnens, ein Eingeständnis der eigenen und gemeinsamen Begrenzungen, was zugleich eine Spielraumerweiterung für ein anderes Hören und Sagen mitträgt (Diese Sätze sind in ihrer Abstraktheit vielleicht nicht zielführend und man müsste sie inhaltlich unterfüttern, sie also mit konkreten Signifikanten koppeln. Wer aber meint, dass es sich primär um ein inhaltliches Problem handelt, der irrt). Keine Politikerin oder Politiker kann dies, selbst in Anbindung an konkrete politische Inhalte, unmittelbar gegen die Hegemonie der Souveränität in die politische Arena hineintragen, ohne die eigene politische Karriere zu gefährden oder zu beenden. Aber ein Hauch eines anderen Anfangs hätte zumindest einen hoffnungsvolleren Ausblick gegeben, auch wenn dies sich nicht unmittelbar in Wählerstimmen ausgezahlt hätte ( die Akzeptanz dieser Währung = Wählerstimmen ist ein Zeichen dieser Souveränitätsdiktatur, die, obwohl immer davon gesprochen wird, keine wirkliche Öffnungen zulässt).
Die Grünen hatten das Potential diese Verschiebung, vielleicht auch nur minimal mit anzustoßen (inwieweit sie - jenseits parteipolitscher Programmatik - tatsächlich zu einer Weitung des politischen Feldes seit den 70er Jahren beigetragen und neue Möglichkeiten geschaffen haben und was das bedeutet, ist durchaus eine wichtige Frage. Sehr erhellend dazu und zu dieser Thematik generell: Zoltán Szankay: The Green Treshold. In: Laclau, Ernesto, Hrsg. The making of political identities. Phronesis. London ; New York: Verso, 1994.).
Wenn man sich den Programmentwurf zur Bundestagswahl 2021 der Grünen, betitelt mit "Deutschland. Alles ist drin.", anschaut, so wird schon im Inhaltsverzeichnis das Wir-Machen-Alles-Gut-Desaster deutlich (wie schon am Anfang erwähnt, sind die anderen Parteien in dieser Disziplin schon viel geübter; umso trauriger, dass der Geübteste in dieser Disziplin die Wahl gewinnen wird). Jedes Kapitel beginnt mit einem grünen "Wir", gefolgt von einem Verb und dem entsprechenden "Inhaltsbereich", auf den sich die Anstrengung bezieht. Entfernt man letzteres, lesen sich die Versprechen so:
Wir schaffen
Wir schaffen
Wir sorgen
Wir schützen
Wir stärken
Wir ermöglichen
Wir fördern
Wir geben
Wir bringen
Wir kämpfen
Wir machen
Wir vollenden
Wir haushalten
Wir fördern
Wir sorgen
Wir schaffen
Wir sichern
Wir geben
Wir schaffen
Wir invertieren
Wir fördern
Wir stärken
Wir ermöglichen
Wir verbessern
Wir machen
Wir treten ein
Wir erneuern
Wir gestalten
Wir rücken
Wir stärken
Wir garantieren
Wir fördern
Wir bauen
Wir treiben
Wir stärken
Wir arbeiten
Wir verteidigen
Wir schützen
Wir streiten
Wir treten
26. September 2021
Jean-Luc Nancy starb am 23. August 2021, also vor fast einem Monat. Ich habe ihn, den Philosophen aus Frankreich, nur durch seine Schriften gekannt, aber was heißt schon nur. Ich bin mir nicht sicher, ob und wie er mich in meinem Denken beeinflusst hat. Da ich ihn gelesen, einige seiner Bücher gekauft, mit Bleistift einige seiner Sätze markiert habe, denke ich: ja wichtig, schade dass er nicht mehr 'da' ist. In einem seiner Essays, den ich heute nochmals gelesen habe, spricht er über die Haltung des Denkens gegenüber jedem Denker: "ihn nicht zitieren, ihn nicht studieren, sondern in auswendig lernen, par coer, mit dem Herzen - also mit dem Organ, das um zu begreifen, ergreifen und sich ergreifen lassen muss." (Nancy, Jean-Luc: Dekonstruktion des Christentums. Zürich Berlin: Diaphanes, 2008, S. 133).
Das gefällt mir schon gut, die Idee, dass unser Gehirn vielleicht steuert, aber nicht das Zentrum unseres Seins bildet, nicht einmal unseres denkerischen Seins, eines Seins, von dem Nancy immer gesagt hat, dass es ein sehr abgründiges Sein ist. Es schlägt, es ist ein Rhythmus. Ein anderer Essay in dem gleichen Buch ist betitelt mit "Trost,Trostlosigkeit" und beschäftigt sich mit dem "Adieu", dem letzten Gruß, von dem er mit Bezug auf Derrida sagt, dass es immer die absolute Abwesenheit von Heil grüßt. Der Grüßende, der den Tod des Anderen grüßt, der den toten Anderen grüßt, bleibt mit seinem Gruß auf einem Rand, dem kein anderer Rand gegenüberliegt. Der Tod rührt an das Intakte, im Sinne einer absoluten Hermetik, zu der wir keinen Zugang haben, so Nancy. Also ein unmenschliches Sein und man ist versucht zu fragen, wo sonst sollen die Götter wohnen, wenn es sie gibt. Der letzte Satz des Textes lautet:
"Ohne uns zu retten, berührt ein solcher Gruß uns immerhin, und indem er uns berührt, weckt er diese fremdartige Aufregung, das Leben für nichts zu durchqueren - für nichts, doch exakt genommen nicht rein als Verlust."
Nancy, Jean-Luc: Dekonstruktion des Christentums. Zürich Berlin: Diaphanes, 2008, S. 177
Der Abschied und die Worte zum Abschied sind für die Lebenden, auch wenn wir uns als Überlebende fühlen und verkennen, dass es nur ein Aufschub ist. Weg-Gabe am Ende des Weges: unser Leben ist auf und für nichts gegründet, wir durchqueren es für nichts, keine Rettung in Sicht. Aber eben kein vollständiger Verlust; wir durchqueren das Leben, so sagt es Nancy, nicht rein als Verlust. Jeder Entzug, jede Erfahrung, dass eine - unsere - Ordnung und die dazugehörenden wohlgeordneten Gründe leise oder laut zusammenbrechen - und ist der Tod nicht der größte Entzug -, hinterlässt Spuren. Auch Verlust, aber nicht rein als Verlust - Berührungen, Herzensangelegenheiten.
Coda
Wann habe ich zum ersten Mal einen Text von Nancy gelesen? Ich weiß es nicht mit Bestimmtheit. Aber wahrscheinlich war es der Essay in einer Ausgabe der Zeitschrift Lettre International von 1993. Dort schrieb Nancy einen Text, der mit "Lob der Vermischung. Für Sarajevo, März 1993" betitelt war (Jean-Luc Nancy: Lob der Vermischung: in: Lettre International, Heft 21, II. Vj./93, S. 4-7). Auf den ersten beiden Seiten waren zwei (Tusche-)Zeichnungen der serbischen Künstlerin Marina Abramovic abgebildet - ein weinender Mensch oder eine weinende Frau und ein fünfzackiger Stern mit brustähnlichen Schleifen an den Enden (auf den beiden darauffolgenden Seiten gibt es zum einen eine kleine Anzeige für ein Schuhgeschäft, mit Standorten in vier Straßen. In welcher Stadt? Man erfährt es nicht. Auf der gegenüberliegende Seite ist eine Werbung für einen Bücherschrank bzw. ein Möbelgeschäft platziert, diesmal mit Postleitzahl - noch vierstellig - samt Stadt = Berlin). Also Sarajevo: bekanntlich kam es zum Konflikt zwischen den drei ethnischen Gruppen - den muslimischen Bosniaken, bosnischen Kroaten, bosnischen Serben -, weil die ersten beiden Gruppen sich für die Unabhängigkeit von Jugoslawien aussprachen, letztere mit großer Mehrheit für den Verbleib stimmten. Im Frühjahr 1992 kam es dann zur Belagerung von Sarajewo durch bosnisch-serbische Truppen, die insgesamt 1425 Tage andauerte. Der Wikipedia-Eintrag zu Sarajewo spricht von 10.615 Toten aus allen Volksgruppen, darunter 1.601 Kinder und insgesamt 50.000 teilweise schwer Verletzten.
Nancy schreibt im März 1993 das "Lob der Vermischung". Der Krieg ist seit einem Jahr im Gange. Natürlich verurteilt Nancy die Idee eines reinen Volkes und einer reinen Identität, was philosophisch-denkerisch und politisch erwartbar ist. Zum Ende des Textes kommt er auf die systematische Vergewaltigung der bosnischen Frauen zu sprechen, die auf exemplarische Weise alle Gestalten einer irrsinnigen Bejahung der 'einen' einheitlichen Gemeinschaft vorgeführt hat:
"Nichtiger und nichtender Akt, Negation des Sexus selbst, Negation der Beziehung, Negation des Kindes und der Frau, reine Affirmation des Vergewaltigers, in dem eine 'reine Identität' (eine 'reinrassige' Identität) sich nicht besser zu helfen weiß als dadurch, dass sie das, was sie negiert, auf abscheuliche Weise imitiert: die Beziehung und das Zusammensein."
Jean-Luc Nancy: Lob der Vermischung: in: Lettre International, Heft 21, II. Vj./93, S. 7
Neben der politischen Intervention, wenn man es so nennen will, liegt das Spannende des Textes darin, dass er als Antwort auf die reine Identität keineswegs die Idee einer multikulturellen Gemeinschaft vertritt. Wahrscheinlich ist dies auch der Grund, warum ich hier darauf zu sprechen komme, warum ich mich an den Text erinnere, warum ich ihn sogar weiter empfohlen habe. Auf den Schrecken gibt es keine einfache moralische Antwort. Die Dinge liegen komplizierter. Nancy spricht davon, dass wir alle fühlen und wissen, dass "die Rassenmischung, das generalisierte Tauschen und Teilen, die transzendentale Buntscheckigkeit" als solche nicht genügen. Die Mischung, weder in Form der Verschmelzung, noch als völlige Unordnung, gibt es einfach nicht; die Mischung ist weder ein Wert, noch ein fixierbarer Zustand. "Die Mischung ist also nicht, Sie geschieht oder ereignet sich: Es gibt Vermischung, Kreuzung, Verwebung, Austausch und Teilung, doch nie ist es ein und dasselbe." (Ebenda S. 5) Es gibt und gab immer nur Vermischung, ohne einen Anfang, ohne ein Ende - auf der anderen Seite gibt es nur den Tod, oder - politisch gesehen - Kräfte, die das Todeswerk lostreten, um die Vermischung zu unterbrechen. Und diese Unterbrechung ist natürlich insofern absurd, als dass eine reine Identität sich nicht mehr identifizieren kann, in sich begraben liegt. "Sie ist nur mit dem identisch, das mit sich identisch ist, das sich also im Kreise dreht (…)." (ebenda S. 6).
Auf der anderen Seite - und nun also der Knackpunkt der ganzen Angelegenheit - gibt es laut Nancy sehr wohl so etwas wie Identität, wenn auch nur in 'Anführungszeichen'. Eine Kultur, ein Volk, eine Nation, eine Zivilisation ist einzigartig: "Die Tatsache und das Recht dieses 'einen' dürfen nicht vernachlässigt, erst recht nicht geleugnet werden im Namen einer Essentialisierung der 'Mischung'." (ebenda S. 6). Was ist also dieses Einzigartige, wodurch zeichnet es sich aus. Die Antwort: es ist der Stil und/oder der Ton der Vermischung und zugleich sind es die pluralen Stimmen und Register, die diesen Ton interpretieren und so die Vermischung weitergeben und weitertreiben, den Ton variieren und modulieren. Nancy schreibt: "Die Unterschiedenheit nicht mit der Grundlage zu verwechseln, ist ohne Zweifel das, worauf es - philosophisch, ethisch und politisch - ankommt (…)." (ebenda S. 6) (An dieser Stelle nur der Hinweis, das von hier aus auch eine jugoslawische Identität denkbar ist und sich die Frage stellt, ob und in welcher Form es sie gab und was mit ihr passiert ist und welche "Rolle" der Westen dabei gespielt hat).
Anhand dieser Unterschiedenheit dürfte auch klar werden, warum Nancy ein post-fundamentalistischer und kein anti-fundamentalistischer Denker ist. Es gibt eine Identität, die sich im Handeln und in den je spezifischen Handlungsräumen, in denen sich das Handeln 'bewegt' und die zugleich durch das Handeln geformt werden, entfaltet, sich jedoch nicht festschreiben lässt. Dieses Zwischen ist nicht steuerbar und unterliegt keiner Souveränität. Es ist eher eine Resonanzraum, ein vielfältiger Einschreibungsraum, in dem sich Spuren finden und verlieren, in dem Traditionslinien sich kreuzen, verworfen werden und wieder aufleben. Trotzdem bleibt dieser Raum in seiner Unreinheit identifizierbar.
Zu Recht hat Oliver Marchart auf die Nähe einiger Zentralbegriffe von Nancy - Mit-Sein, Freiheit, Pluralität - zu Hannah Arendt hingewiesen. (Oliver Marchart: Die politische Differenz: zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin: Suhrkamp, 2010; zu Nancy insbesondere S. 87-117). In der Tat lassen sich hier Parallelen finden, bis hin zu der von Marchardt aufgeworfenen Frage, ob dieses ent-gründete Freiheits- und Pluralitätsdenken nicht den politischen Streit, die antagonistischen Momente und die Konflikthaftigkeit, unterschlägt, somit als politische Philosophie letztendlich im Philosophieren stecken bleibt. Vielleicht, sofern sich daran zum Beispiel Fragen nach der Qualität der symbolischen Räume knüpfen, daran, was und warum einige Räume Konflikthaftigkeiten besser aushalten als andere, warum einige Räume empfänglicher sind für ideologische Phantasmen als andere, warum zu bestimmten Zeitpunkten ... Schwierig, bis hin zu der Vermutung, dass sich diese Fragen nicht mit einem "rein" ontologischen Register beantworten lassen. Vielleicht auch hier eine Frage des Tons, der Stimmlage, der Stimme.
Nun, eine Stimme wird zukünftig fehlen. Grund genug, um sie nochmals zu hören:
"Nur wenn man die Welt, und nicht ein Subjekt der Welt will (weder Substanz noch Urheber noch Herr), kann man das Widerweltliche [l`immonde] verlassen.“
Jean Luc Nancy: Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung; Zürich - Berlin 2003 (2002), S. 45
19. September 2021
"Vorwärts immer, Rückwärts nimmer." Diese Redewendung aus DDR-Tagen, auch von dem hornbebrillten Staatsratsvorsitzenden genutzt, zeigt die Richtung an, mit der die Welt zu einem vollkommeneren Ort gemacht werden soll: nach vorne muss es gehen, der Fortschritt soll es richten. Dazu muss man nicht nur in Bewegung bleiben - besser ist, wenn gleich eine ganze Bewegung das Vorwärts trägt. So kamen und gingen nicht nur "sozialistische und faschistische Bewegungen", sondern beispielsweise auch die "neuen sozialen Bewegungen"; inzwischen gibt es auch eine "Identitäre Bewegung", die sich paradoxer Weise auf das zubewegen will, was jenseits aller Bewegung Bestand haben soll. Scheinbar gilt für das politische Leben wie für das Autofahren: nach vorne schauen (wenn man vorankommen will).
Umgekehrt wissen schon Kinderreime, dass hinterm Rücken das Unheil lauern kann (natürlich sagt der Fortschritt heute, dass das politisch nicht korrekt ist).
"Dreh' dich nicht um, denn der Plumpsack geht um. Wer sich umdreht oder lacht, kriegt den Buckel schwarz gemacht."
Besser nicht umdrehen. In der griechischen Mythologie und in der jüdisch-christlichen Tradition gibt es jeweils eine berühmte Erzählung, die von der Gefahr der Rückschau berichten. Zunächst der griechische Teil:
Orpheus und Eurydike (Ovid, Metamorphosen, Buch X)
Die Ultra-Kurzfassung: die Ehefrau von Orpheus, Eurydike stirbt an einem Schlangenbiss. Der nun sterbensunglückliche Musiker Orpheus steigt daraufhin in die Unterwelt, um durch götterherzerweichenden Gesang und Lyra-Spiel die Gebieter der Unterwelt zur Rückgabe seiner Frau zu bewegen. Dies gelingt! Die Götter stimmen unter der Bedingung zu, dass Orpheus während des Weges zur Oberwelt nicht zurückschaut (Bei Ovid heißt es: "Orpheus erhält sie und zugleich die Weisung, nicht eher die Augen zu wenden, als bis er das Tal der Toten verlassen habe." Ovid, X 29-62, S. 237). Es gab schon heroischere Aufgaben, die Menschenhand und -schritt zu bewältigen hatten. Warum Orpheus hier versagte und sein/e Liebste/s verlor, bleibt zunächst unklar. Ovid spricht von der Angst und Sehnsucht, die Orpheus zwischenzeitlich ereilten (der Impuls- und Triebaufschub gelingt also nicht und vermasselt das ganze Vorhaben). Weiter im Erklär-Angebot: der pure Wahnsinn, Ungeduld und Mißtrauen, die Liebe. Jetzt die christliche Erzählung:
Die Lots (Genesis 19, 1-29)
Die Geschichte dürfte nicht minder bekannt sein und hat, wenn auch keine erotische, so doch eine sexuelle Komponente. In der sündigen Stadt Sodom nimmt Lot in großer Gastfreundschaft zwei fremde Männer, verkleidete Engel, in seinem Hause auf. Der Sodomer Mob hält von Gastfreundschaft wenig und fordert die Herausgabe der Reisenden zwecks Geschlechtsverkehr. Als guter Gastgeber ist Lot sogar bereit, dem Mob seine Tochter als Ersatz anzubieten, bis schließlich die Engel eingreifen. Der Familie Lot wird nun das Städtchen Zoar (die Kleine) als Schutzzone angeboten, während ganz Sodom zerstört werden soll. Auch hier lautet das Gebot (der Engel): nicht zurückschauen ("Sieh dich nicht um und bleib im ganzen Umkreis nicht stehen!" Genesis 19, 17). Als sie Zoar bereits erreicht haben, dreht sich Lots Ehefrau nochmals um und erstarrt zur Salzsäure. Während bei Orpheus zunächst das Motiv des Umdrehens rätselhaft bleibt, fragt man sich bei Frau Lot eher, warum es überhaupt zu einer solch unsinnigen Strafe kommt.
Für beide Geschichten wäre eine Erklärung, dass der Verlust (der Liebsten oder des Lebens) eine Konsequenz der mißachteten Göttergebote ist. Die Gebote entziehen sich den menschlichen Maßstäben und der menschlichen Urteilskraft und sollten deshalb einfach befolgt werden. Es handelt sich gleichsam um ein transzendental strukturkonservatives Argument: den göttlichen Geboten hat man sich bedingungslos unterzuordnen; Recht vor Gerechtigkeit. Aber kein Gebot ohne die Möglichkeit der Übertretung. Ungehorsam zu sein heißt auch, seine Freiheit in Anspruch zu nehmen, mögen die "Kosten" auch immens sein. Wir werden am Ende darauf zurückkommen.
Eine weitere Erklärung der Geschichten wäre ihre Verdeutlichung der Konsequenzen einer allzu großen Vergangenheitsfixierung. Die Lots haben schließlich ihr ganzes Leben hinter sich lassen müssen, ihren Hausstand, ihre soziale Bindungen, ihre Arbeit. Mag das Stadtleben ein sündiges gewesen sein, so war es verglichen mit dem Landleben auch damals sicherlich ein angenehmes. Der Blick zurück ist einer, der nicht loslassen will, der noch ein Teil von dem bleibt, was dem Neuanfang im Wege steht. Die Verwandlung zur Salzsäure wäre die Versinnbildlichung der innerlichen Verharrungskräfte, die einen wirklichen Aufbruch - aus der Sünde - verhindern (eine mehr protestantische Interpretation würde vielleicht vermuten, dass Frau Lot als Frau und Mutter ein überwältigendes Mitleid selbst für die größten Sünder entwickelt hat und sich deshalb nochmals umdrehen musste. Gottes Umdrehverbot wäre in dieser Interpretation eher ein Zeichen seiner Güte. Als eine Art Schutzgebot sollte es Frau Lot und die gesamte Familie vor dem großen traumatischen Leid der sich offenbarenden Zerstörung bewahren. Die Verwandlung zur Salzsäule könnte man als symbolische Umschreibung der vielen Tränen verstehen, die Frau Lot beim Anblick vergießen musste - eine Tränenmenge, die nicht nur ihr Gesicht, sondern schließlich ihren ganzen Körper bedeckte. Dazu passt auch, dass Lot übersetzt Hülle heißt).
Kann bei Orpheus ebenfalls eine Vergangenheitsfixierung ausgemacht werden und woraus sollte diese bestehen? Schließlich lag die bessere Zukunft, die Zukunft mit der geliebten Frau, nur noch ein paar Schritte von ihm entfernt. Man könnte vermuten, dass seine aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinreichenden Umdrehimpulse, was immer diese auch gewesen sein mögen (vorstellbar: Wahnsinn, Angst, Sehnsucht, Ungeduld, Mißtrauen, Begehren, Liebe, s.o.), ihn an der Aufgabe haben scheitern lassen. Statt wie ein Jetzt-gesättigter Zen-Mönch aus dem Hades zu schreiten, holen ihn die Gefühlsfesseln ein und verhindern das Vorhaben. Aber wie sollte es auch anders sein: ohne diese Gefühle, ohne diese Gefühle in ihrer Gegenwärtig- und Lebendigkeit, hätte er den Versuch der Wiedergewinnung seiner Frau vermutlich erst gar nicht gestartet. So gesehen, war die Aufgabe von Anfang an eine unmögliche. Und hier offenbart sich unter Umständen die eigentliche Fixierung und der eigentliche Grund seines Scheiterns. Orpheus kann nicht akzeptieren, dass seine Frau wirklich, d.h. physisch tot ist und dass er sie nur auf eine symbolische Art und Weise, durch Dichtung und Musik, in die Wirklichkeit zurückholen kann. Eine richtige Wiederauferstehung wäre eine Hybris, an der die Sterblichen scheitern müssen.
Und die Moral von der Geschicht'?
Sind die Geschichten nicht höchst kompatibel mit unserem way of life? Nicht zurückschauen, immer noch vorne blicken, fortschreiten, möglichst sich von den Fesseln der Vergangenheit befreien. Wenn man die obige Orpheus-Interpretation zulässt, wird die Sachlage jedoch komplizierter. Um für einen Neuanfang die Vergangenheit komplett zu opfern, könnte unter Umständen auch heißen, seine eigene Identität und Seele zu verlieren (so gesehen, hätte Orpheus sich seine Seele und seine Liebe letztendlich bewahrt - und so gesehen, hätte Frau Lott die schönste Seele in der Familie). Zudem ist es für moderne Ohren ein befremdlicher Gedanke, dass das scheinbare Unglück durch die Befolgung eines zuvor ausgesprochenen Götter-Gebots hätte verhindert werden können. Ist die Moderne nicht auch die Befreiung von Mythen und Märchen, die uns and Dinge fesseln, die nicht unserer Herrschaft unterstehen, die auf Annahmen fußen, die keinen rationalen Grund vorweisen können? Damit sind wir beim eigentlichen Paradox dieser Geschichten angelangt: obgleich sie die Rückschau und die Vergangenheitsfixierung unterbinden (wollen), sprechen sie im Namen einer Autorität, die ihren Ankerpunkt gleichwohl in der Vergangenheit hat und in die Gegenwart reicht. Aber obwohl das so ist, zeigen sie uns zugleich, dass wir eine Wahl haben, dass unser Schicksal selbst (oder gerade) im Scheitern an einem Stückchen Freiheit hängt (man könnte auch sagen: jede echte Autorität bietet immer auch den Spielraum zur Freiheit).
Die Freiheit stellt damit die Arche, den Ursprung, die Autorität in Frage, fordert sie heraus, selbst wenn sie schlußendlich an der Unmöglichkeit des Lebens und des Todes zerschellen oder ihren Endpunkt finden muss. Und hier besteht ein fundamentaler Unterschied zum modernen Fortschreiten. Denn im genuinen Fortschritt - ebenso wie in der genuinen Bewegung - ist das Ziel zugleich der Ursprung. die Kraft des Antriebs, die Geradlinigkeit des Verlaufs, die Eindeutigkeit der Entscheidungen, die Entschlossenheit des Tuns - all dies verdankt sich dem modernen Kurzschluss von Anfang und Ende. Und bestimmt ist es kein Zufall, dass ein jüdischer Geist schließlich daran ging, seine Autorität in den Dienst des Zuhörens zu stellen, um in der Rückschau jene Momente zu finden und zu verflüssigen, in denen wir unsere Zukunft der Erstarrung und/oder Verzweiflung anheim gegeben haben.
31. August 2021