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Am Ende auf den Höhen der Zeit, alles schon da

  • Odo Marquard hat in Bezug auf fehlende Denkgroßtaten der Philosophie das schöne Wort 'Inkompetenzkompensationskompetenz' geprägt.
  • 'Think big' ist vielleicht eine gute Strategie, insofern es zu einem to 'too big to fail' führt.
  • 'Blitzscaling' ist der ökonomischen Sphäre zugehörig. Ein neues Geschäftsfeld muss so schnell entwickelt werden, d.h. wachsen, dass die Konkurrenz nicht mehr mithalten kann (viele Menschen scheinen diese Idee auch auf den eigenen Körper anzuwenden; macht aber keinen Sinn).
  • 'Blitzsoziologische Mutmaßungen' sind strutkurell ähnlich. Die schnelle Erklärung sichert den Aufmerksamkeitsvorsprung, was auf Kosten der Genauigkeit geht, wie Penibilitätsanhänger monieren.
  • 'Disruptiv' kommt immer dann ins Spiel, wenn die Sache nach gängigen Erklärungsmustern kaum erklärbar ist; die Ultima Ratio der blitzsoziologischen Mutmaßung.
  • 'Resilienz' ist die Widerstandsfähigkeit gegenüber Herausforderungen, wie zum Beispiel disruptiven Entwicklungen. Was für Ritter die Rüstung, ist für die Menschen der Nach-Moderne die Resilienz.
  • 'Zusammenschießende Erfahrungsströme' klingt ein bißchen wie einschießende Milch. 
  • Der Mangel darf als Mangel nicht in das Leben und schon gar nicht in die Wirtschaft eindringen: wir sprechen nun von der 'Flexibilisierung der Nachfrage'.
  • 'Cakeism' ist der Versuch, etwas zu behalten und es zugleich zu verspeisen. Nachhaltigkeit ist der Versuch, so langsam zu essen, dass die besagte Sache währenddessen nachwachsen kann: 'Cakeisability'.
  • 'Content Marketing' gibt es schon sehr lange, siehe Bibel (nicht in der Bibel, sondern die Bibel als Vermaktungsinstrument für ... ach, so).
  • 'Otaku' bezeichnet fanatische Japan-Kultur-Jünger. Nicht zu verwechseln mit den Okkulisten und den Okapisten (falls noch ein Hobby mit O gesucht wird).
  • 'Gütige Gleichgültigkeit' (Monika Maron) ist nicht nur eine schöne Alliteration, sondern führt als Lebenspraxis auch an den Rand der Kapitulation.

28. Dezember 2024

Weltverstehen?

In seinem Atlas-Buch schrieb Michael Serres 1994, dass man den alten Wahlspruch umzukehren hätte: "Wir haben die Welt genug verändert oder ausgebeutet, jezt geht es darum, sie zu verstehen.” (Michel Serres: Atlas; Berlin 2005, S. 126; die deutsche Ausgabe erschien 2005 im klassischen Merve-Design im Merve-Verlag, leider in einer Schriftgröße, die, so scheint es, der Augenoptikerverband in Auftrag gegeben hat)

Nicht schlecht - Marx schrieb in den Thesen über Feuerbach, dass die Philosophen die Welt nur verschieden interpretieren würden und es nun darauf ankäme, sie zu verändern. Nicht viele Jahrhunderte haben Menschen gebraucht, um alles gründlich zu verändern und um Wissensberge aufzubauen, die in fantastischer Geschwindgkeit zunehmend weiter wachsen. Aber verstehen, worum es in der WELT geht, was die Welt 'ist', in heutiger Lage … ich schwanke zwischen: “nicht genug gedacht” und “die Götter haben uns verlassen”.

29. November 2024

Wüste, Tod und Musik – Teil 3: Gespenster

Es gibt vielfältige Beziehungen des Islams zur Musik. Auch wenn es keine islamische Sakralmusik gibt (Ausnahme Sufismus), so wird Musik doch im Kontext von feierlichen und familiären Anlässen – beispielsweise Hochzeiten oder Militärmusik- als legitim, d.h. als halal angesehen. So haben im Kontext des Dschihadismus die „Naschids“, früher Volksfrömmigkeitslieder, heute Mobilisierungs-, Kampfeinstimmungs- und Durchhaltesongs, an Bedeutung gewonnen, obgleich Musik bei Fundamentalisten eigentlich nicht erlaubt ist. Problematisch gilt jedoch jede Form der Musik, die sich mit weltlichen Dingen beschäftigt, die nicht islamkompatibel sind, wie zum Beispiel Sex und Gewalt.

Hingegen hat die westliche Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts u.a. die Populärmusik hervorgebracht, die spätestens nach dem 2. WK als Rock-, Beat- und Pop-Musik auch inhaltlich und textlich fast alle Themen der Kultur bespielt hat, oftmals verknüpft mit diversen Tabubrüchen. Das Themenspektrum reicht von Liebe, Sex, Drogen, Gewalt, Depression, Spiritualität bis hin zu antireligiösen Gefühlen, um nur einige Sujets exemplarisch zu benennen (überflüssig zu erwähnen, dass auch musikalisch die Stilrichtungen sich immer weiter ausdifferenziert haben und neue hinzugekommen sind: elektronische Musik, Metal, Rap, Hiphop, Techno). Sicherlich gibt es keinen Generalnenner für diese Art von Musik (hier Pop-Musik genannt): jedoch umfasst sie spezifisch ambivalente Momente, sofern sie den Augenblick feiert, die Flucht oder Abkehr von den Zwängen einer – wie auch immer – einengenden Wirklichkeit nicht nur verspricht, sondern – zumindest für ‚3-Minuten‘ - auch umsetzt und zugleich der sogenannten Realität ein implizites oder explizites Nein entgegensetzt. Des Weiteren ist sie eine höchst individuelle Angelegenheit, als dass sie die persönliche Beziehung zur Musik, die Identifikation mit den Songs voraussetzt, ansonsten wäre die Leidenschaft, Begeisterung und ‚Wirkungsmächtigkeit‘, kurzum der umfassende Lebenseinfluss weder möglich noch verständlich. Zugleich stiftet sie jedoch auch Gemeinschaft, insofern sie modische Erkennungszeichen für die Zugehörigkeit zu musikalischen Identifikationsmustern kreiert und diese verstärkt. Es gibt Live-Events, bei denen die Fans ihren individuellen Identifikationshorizont überschreiten, der gleichwohl (und fast immer) noch die Voraussetzung für das gemeinsame Erlebnis bleibt.

All das setzt einen sehr emphatischen und vielleicht auch ideell eingeengten Begriff von Pop-Musik voraus. Unbestritten ist, dass die kommerzielle Musikindustrie ein großer Treiber für die Musikproduktion und -distribution ist, dass es sich in vielen Fällen um ein Jugendphänomen handelt, dass viele Menschen (Pop-)Musik gedankenlos und beiläufig konsumieren, es als reine (eskapistische) Unterhaltung sehen usw. 

Nichtsdestotrotz bleibt die Pop-Musik auch ein Zeichen des Genießens, ein Zeichen des Widerstands (gegen die Autoritäten, gegen die Moral, gegen die Arbeitswelt) und auch ein Zeichen der Alltagstranszendierung in einer größtenteils säkularen Welt. Und jedes Konzert und jedes Festival ist auch die gemeinsame Feier der so verstandenen Individualität, da die Gemeinsamkeit nichts weiter verlangt als die fast voraussetzungslose Bejahung der dargebotenen Musik.

Umgekehrt ist die Vermutung, dass Individualität in der arabischen Welt nicht zum Kernbestand des geistigen Lebens gehört, nicht abwegig. Auch wenn ‚Mentalitätsbeschreibungen‘ und / oder sozialpsychologische Betrachtungen in der Gefahr stehen, unangemessen zu verallgemeinern, so dürften zum Beispiel die Schlüsse, die der Psychotherapeut Burkhard Hofmann in seinem Buch „Und Gott schuf die Angst. Ein Psychogramm der arabischen Seele“, in der er seine therapeutischen Erfahrungen mit arabischen Patienten beschreibt, auch ein Stück arabischer Wirklichkeit treffen (Burkhard Hofmann: „Und Gott schuf die Angst. Ein Psychogramm der arabischen Seele“ München 2018, Droemer-Verlag). Statt Individualität ist in der arabischen Welt das Bekenntnis zur Gemeinschaft, dass sich Einordnen in die Gruppe, die Unterordnung unter religiöse Vorgaben zwingend, so Hofmann. Nicht umsonst heißt ‚Islam‘ „Sich ergeben“ (in den Willen Gottes), „Sich hingeben“ (an Gott) und auch „Sich Unterwerfen“ (Unter Gott). Insofern stoßen westliche Therapieformen, so Hofmann weiter, die auf Autonomie und Individualität gründen, oftmals schnell an ihre Grenzen, da der ‚Patient‘ bei Problemkonstellationen und Deutungen umgehend auf die Wahrheit des Islam (Koran, Hadithen, Tradition) zurückgreifen würde. Statt Zweifel und Ambivalenzen würde die Gewissheit des Glaubens, der zudem in seiner Wahrheit die Überlegenheit der eigenen Religion bezeugt, ins Werk gesetzt.

Als Angstauslöser macht Hofmann jedoch das Begehren nach Autonomie aus, das im arabischen Islam hart und umfassend in die Schranken gewiesen wird. Was im Westen den Kern unserer Lebensweise ausmache (und auch: ein Problem unserer Lebensweise), nämlich als Einzelwesen mit je eigenen Gefühlen, Ideen und Wünschen zu leben und wahrgenommen zu werden (und was je eigene Probleme und Fraglichkeiten mit sich bringt), fände im arabischen Raum wenig Unterstützung. Der Islam als Staatsreligion, der nicht nur das spirituelle, sondern auch das politische, soziale und kulturelle Leben dominiert, würde für eine unzureichende Autonomiebildung in allen Lebensbereichen sorgen. Der Islam schafft, so Hofmann weiter, eine Atmosphäre der sozialen Totalüberwachen, die einerseits feste Orientierung verspricht, andererseits jedoch ein Klima des Zwangs und sexueller Bedrückung entstehen lässt.

Vielleicht könnte man mit Rekurs auf Hoffmann sagen, dass die die Angst der arabischen Seele (so es sie denn gibt) der Höhenangst ähnelt, die weniger die Angst vor der Höhe als die Angst davor bezeichnet, dass man dem Sog der Höhe nachgeben könnte. Die Angst vor der Separation ist nicht (nur) die Angst davor separiert zu werden, sondern auch davor, der Faszination einer Welt zu erliegen, die mich als Individuum erschafft und verschlingt (Dekadenz). Angst erzeugt Schuld und Schuld erzeugt Gehorsam und so dreht sich der Kreis der Unterwerfung. Natürlich mag eine solche grobe Konklusion auch arrogant sein, da sie zu unterschlägt, dass spiegelbildlich das ‚westliche Leben‘ (das es in dieser Verallgemeinerung auch nicht gibt) mit seinen permanenten Bindungssprengungen und forcierten Entortungsproduktionen oftmals auch sehr destabilisierend und angsterzeugend in das Seelenleben seiner Zeitgenossen eingreift. 

Dem Begehren nachgeben und Gespenster töten

Das Psytrance-Festival war ein Wüstenfestival, bei dem Psychedelic Trance gespielt wurde. Ziel: Spaß haben, yes. Aber auch: anknüpfend an eine hippieeske Denkungsart: Bewusstseinserweiterung, Liebe, psychische Selbsterfüllung. Sicherlich auch eine (internationale) Szene, aber ebenso eine temporäre und vermischte Gemeinschaft. In der Wüste sich (selbst) genießen (und taucht hier nicht auch die Assoziation an die Sufis auf, die in der Musik und im Tanz einen Weg zum spirituellen Rausch sehen?). 

Könnte der Gegensatz größer sein zu den Hamas-Terroristen, die ihre ekstatische Freude nicht nur in der Tötung ihrer Feinde finden, sondern explizit und zur Schau gestellt haben: Vergewaltigung, sexualisierter Gewalt, Folterung, Zerstückelung von Menschen, auch von Kindern, Verschleppung von Menschen, Geiselnahme. Der Firnis der Kultur ist dünn. Das gilt für viele Zeiten, für viele Regionen, für viele Menschen und Gruppen. Und jeder Konflikt hat seine eigene Geschichte mit seinen eigenen Verletzungen und Ungerechtigkeiten. Nichtsdestotrotz: das, was die Hamas hier vollbracht hat und was vielfach in der arabische / islamischen Welt bejubelt wurde und wird, ist mehr als eine para-militärische Aktion. Die freudig ausgeführte und zur Schau gestellte enthemmte Grausamkeit wirkt, als hätte jemand ein Ventil geöffnet, so dass ein ungeheurer Überdrück entweichen konnte. Aber taugt eine Metapher, die eine quasi mechanische Kausalität unterstellt? Andererseits: kann man versuchen dies zu verstehen, ohne eine kollektive Psychodynamik in Betracht zu ziehen? Hat hier ein Begehren sich selbst nachgegeben und die Auslöschung seiner eigenen Grundlage herbeiimaginiert? Oder inszeniert sich hier ein neidvolles Begehren, das das Genießen des Anderen, und wo könnte das besser zum Ausdruck kommen als in der Musik, nicht ertragen kann und dieses Genießen zur Instandhaltung seiner eigenen imaginären Reinheit zerstören muss.

Um auf den Anfang zurückzukommen: Vielleicht hat Palästina zu viele Gespenster gesehen, ohne dass ‚sein‘ Geist Wege gefunden hätte, ihnen zu begegnen. "Wenn DER Geist seine Geister, Gespenster und Phantome verschlingt, dann verzehrt er sich selbst." (siehe Teil 1) Dazu passt, dass viele palästinensische Solidaritätsbekundungen in diesem Konflikt diesen Terrorakt nicht verurteilen und ihn sogar als einen Akt des Widerstands umdeuten. Umgekehrt wird Israel vielfach für seine Kriegsführung kritisiert, ohne dass von der Hamas im Gegenzug gefordert wird, die Geiseln auch ohne Vorleistung freizulassen. Während Israel einen Diskurs über die Sinnhaftigkeit seiner kriegerischen Interventionen immerhin zulässt, scheinen die Anhänger von Hamas (und inzwischen auch der Hisbollah) keinerlei Zweifel über die Richtigkeit ihres Handelns zu hegen. Man pflegt die Erzählung des vollkommenen Opfers, für das man sich hält. Und man pflegt die Erzählung des gerechtfertigten und heroischen Kampfes, den man natürlich gewinnen wird. Je nach Situation und Opportunität schaltet man auf die eine oder auf die andere Erzählung um. Damit soll nicht gesagt werden, dass Israel diesen Konflikt nicht auch befeuert und mit illegitimen Maßnahmen wie z.B. der Siedlungspolitik verschärft hätte. Jedoch bedient sich die palästinensische Seite eines Diskurses, der auf eine Auslöschung Israels hinausläuft und der nicht zu ‚verstehen‘ scheint, dass man auch seinen eigenen Gespenstern begegnen muss. Denn: der Terrorakt beim „Psytrance-Festivals Supernova Sukkot Gathering“ wird den Palästinensern nicht nur in ihren schönen Träumen erscheinen. 

Gedenken: an die vielen Menschen die sinnlos durch einen Terrorakt bei einem friedvollen Musikfestival gestorben sind. Hoffen und beten: für all die Geiseln, die sich noch in Terrorhaft befinden. 

7. Oktober 2024

Wüste, Tod und Musik – Teil 2: Heimsuchung

Am 7. Oktober 2023 wurde also auch Europa heimgesucht. Vielleicht ist es mehr als ein Zufall, dass das Festivlagelände des „Psytrance-Festivals Supernova Sukkot Gathering“ in einer israelischen Wüsten- und Grenzregion liegt. Laut dem Wikipedia-Eintrag wurde das Festival nur zwei Tage vor Beginn auf dieses Areal verlegt. Manchmal ist der Zufall ein Teufel in harmloser Gestalt. Das Programm war angekündigt als Feier von „Freunden, Liebe und unendlicher Freiheit“. Wie bekannt startete die Hamas am Morgen des 7. Oktober 2023 den Angriff auf Israel. Auf dem Festivalgeländer fiel um 7 Uhr der Strom aus und bewaffnete Hamas-Terroristen drangen auf das Gelände ein. Sofern man als Besucher nicht noch fliehen konnte, wobei die Straße ebenfalls von den Terroristen kontrolliert wurde, wurde man ermordet. Die ‚Festival-Bilanz‘: 364 Menschen wurden getötet, viele Menschen verletzt, mehrere Frauen vergewaltigt und getötet oder als Geiseln nach Gaza verschleppt (insgesamt 40 Menschen).

Nun ist es kein islamistisches Phänomen, dass gezielt junge Menschen bei Terroranschlägen ums Leben kommen. Erinnert sei beispielsweise an Anders Behring Breivik. Er beging 2011 die Anschläge in Oslo und auf der Insel Utøya, bei denen insgesamt 77 Menschen, davon 69 junge Teilnehmer eines Zeltlagers der Jugendorganisation der norwegischen Sozialdemokraten, ums Leben kamen. Brevik gab übrigens als Motiv für seine Terrortaten den Kampf gegen den Islam und den Kulturmarxismus an.

Weiterhin ist es kein islamistisches Privileg Musikfestivals und Musikveranstaltungen als Terrorziele auszuwählen. Bekannt geworden ist beispielsweise der Massenmord in der Nähe von Las Vegas am 1. Oktober 2017, bei dem der 64-jährige Stephen Paddock, ein pensionierter und wohlhabender Buchhalter, am letzten Abend des dreitägigen Country-Musik-Festivals ‚Route 91 Harvest‘ mit einer Schusswaffe aus ca. 350 Metern Entfernung 58 Menschen tötete und ungefähr 869 verletzt. Das Motiv der Tat blieb unklar, wobei die islamistische Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) die Tat für sich reklamierte und behauptete, dass der Täter zum Islam konvertiert sei, ohne Beweise dafür vorlegen zu können.

Dennoch fällt auf, das islamistisch motivierte Terrorakte auf Konzerte und Musikveranstaltungen zielen. Nun mag das auch nach Terroristenlogik pragmatische Gründe haben, da hier viele Menschen auf engem Raum versammelt sind und die Sicherheitsvorkehrungen wahrscheinlich nicht immer den höchsten Standards entsprechen. Dennoch scheint der Islamismus– oder sollte man es weiter fassen, der Islam? – eine besonders eigenartige Beziehung zur Musik bzw. zu Musikaufführungen zu pflegen.

Terror

Bei den islamistisch motivierten Terroranschlägen in Paris am Freitag, den 13. November 2015, die an fünf verschiedenen Orten stattfanden, wurden nach Angaben der französischen Regierung 130 Menschen getötet und 683 verletzt. Im Bataclan-Theater spielte an diesem Abend die US-amerikanische Rockband Eagles of Death Metal ein Konzert vor etwa 1500 Konzertbesuchern. Beim Terrorangriff feuerten die Terroristen zunächst ca. zehn Minuten lang mit Kalaschnikow-Sturmgewehren in das Publikum und warfen Handgranaten in die Menge. Die Folge: viele Verletzte, teilweise schwer und insgesamt 89 ermordetet Menschen.

Ein weiterer Terroranschlag fand in Manchester am 22. Mai 2017 nach einem Popkonzert der US-amerikanischen Sängerin Ariana Grande in der Manchester Arena verübt (das Konzert fand im Rahmen ihrer Dangerous Woman Tour statt). Das islamistische Selbstmordattentäter hat vermutlich eine in einem Rucksack versteckte Sprengladung detonieren lassen, die mit zahlreichen Metallteilen wie Muttern und Schrauben gespickt war. Folge: 23 Menschen, darunter der Attentäter, wurden getötet (das jüngste Opfer war 8 Jahre alt). Die Anzahl der insgesamt Verletzten wurde später auf über 800 korrigiert. Auch hier bekannte sich die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zur Tat. Ein IS-Sprecher bezeichnete das Musikort als einen „schamlosen Konzertsaal“ (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Terroranschlag_in_Manchester_am_22._Mai_2017, abgerufen am 09.04.2024).

Auch beim Terroranschlag in Moskau am 22. März 2024 reklamierte der Islamische Staat, bzw. der IS-Ableger „"Islamischer Staat Provinz Khorasan" (ISPK) die Tat für sich. Maskierte und bewaffnete Angreifer waren in die ausverkaufte und mit über 6.000 Personen besetzte "Crocus City Hall" eingedrungen, wo die russische die Rockgruppe Piknik auftreten sollte. Die Terroristen schossen wahllos in die Menge und zündeten im Gebäude Brandsätze, Explosionen waren zu hören. Die Folge: 143 Todesopfer und über 180 Verletzte.

27. September 2024

Wüste, Tod und Musik – Teil 1: Mihaly Vajda

Mihaly Vajda

Ich kannte den ungarischen Philosophen Mihaly Vajda nur sehr oberflächlich, hatte ihn vor vielen, vielen Jahren anlässlich einer Arendt-Tagung gesehen und einige Worte, Sätze mit ihm gewechselt. Ein Freund von mir hatte engeren Kontakt und besuchte ihn letztes Jahr in Budapest. Mihaly zeigte sich besorgt über die ungarische Entwicklung und erzählte, wie im Nachwende-Ungarn Viktor Orban ihn, den Dissidenten, der kommunistischen Kollaboration bezichtigt hatte (Schon 1973 schloss ihn die herrschende kommunistische Partei aus und verhängte ein Berufsverbot). Darauf erwiderte Vajda: ja natürlich Viktor, man kannte und duzte sich, ich bin ein kommunistischer Geheimagent. Zu diesem offensichtlichen Witz verzog Orban keine Miene. Da hätte Vajda gewusst, so der Bericht meines Freundes, dass Orban keinen Humor hätte und gefährlich sei.

Nun ist Mihaly Vajda am 27. November 2023 im Alter von 88 Jahren in Budapest verstorben. Seine Eltern waren assimilierte Juden und überlebten den Holocaust, weil Budapest von der russischen Armee umschlossen war und die Deportation nicht mehr stattfinden konnte. Ganz sicher wird ihn der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023, bei dem auf israelischer Seite 1.139 Menschen ermordet oder im Kampf getötet wurden, sehr mitgenommen haben. In seinem 2016 auf Deutsch erschienenen Essayband „Meine Gespenster“ schreibt er in dem Essay „Wer ist Jude in Mitteleuropa?“, dass er zwar keine allgemeingültige Definition geben möchte, aber dass neben den Religiösen, den Zionisten und denen, die zu einer jüdischen Gemeinschaft gehören, es vor allem die sind, die eine ironische Distanz zu den Dingen haben, die als Juden zu betrachten seien. Diese Verhaltenskultur, so Mihaly Vajda weiter, lässt sich nun auch bei Menschen mit nichtjüdischer Herkunft finden, aber: so what. Wir können uns alle über dieses jüdische Erbe freuen.

Geister

Damit sind wir inmitten der Debatte über unsere Geschichte und über die Geister, die uns heimsuchen. In der Auseinandersetzung mit Jaques Derrida, ebenfalls ein Philosoph mit jüdischen Wurzeln, beginnt der Essay mit den Sätzen: „Jaques Derrida ist tot. Dennoch ist er hier unter uns. ‚Sein Geist‘ ist unter uns.“ (41) Und der Essay endet damit, dass wenn der Geist – und man müsste hier im Sinne Derridas und Vajdas den bestimmten, bestimmenden, maskulinen Artikel großschreiben, also – wenn DER Geist seine Geister, Gespenster und Phantome verschlingt, dann verzehrt er sich selbst (S. 53), dann wird die Welt zur Wüste. Es ist also nicht nur so, dass wir, um mit Heidegger zu sprechen, der in diesem Essay auch seine Auftritte hat, in die Welt geworfen sind, d.h. mit der geschichtlichen, kulturellen, sozialen, sprachlichen und sonstigen ‚Ausstattung‘ vorliebnehmen müssen, in die wir unabwendbar hineingeboren wurden, nein, wir müssen in dieser Welt auch die offenen Fragen, die uneingelösten Versprechen, die Schuld und Schuldigkeiten übernehmen, die auf familiärer und kollektiver Ebene uns mitgegeben wurden. Bei dieser ‚Übernahme‘, man kann sie nicht einmal eine feindliche nennen, handelt es sich nicht um eine Frage des Willens, auch wenn es sich um einen guten Willen handeln sollte. Die Heimsuchung (von geistigen Gespenstern) ist insofern ein Automatismus, als dass die einzige Möglichkeit ihr zu ‚entkommen‘, eben darin besteht, die Welt gewaltsam zu schrumpfen (für sich und/oder für die Anderen). Nebenbei: die Heimsuchung ist ein großes Thema der jüdischen (d.h. auch unserer) Kultur, zum Beispiel: Was macht man mit einer ererbten Heimsuchung, die man nicht (mehr) versteht (Kafka); wie kann man eine Heimsuchung im Traum entschlüsseln (Freud); in welchen Zwischenräumen kann man die Heimsuchung in Freiheit verwandeln (Arendt).

30. August 2024

Der Vergang einer schönen neuen Welt

Es ist schon oft angemerkt worden, dass der moralische hohe Ton in der Politik zwar schön für das Gemüt sein mag, aber mit der Realität wenig zu tun hat. Nun wird man einwenden können, dass der Anspruch der Politik nicht nur aus der Verwaltung des Status Quo bestehen kann, sondern auch mit der Gestaltung der Zukunft befasst sein muss. Was aber ist, wenn dieser fortgesetzte Zukunftsgestaltungswille (ob moralisch eingefärbt oder nicht) sich an seiner eigenen mitkreierten Wirklichkeit bricht? Sofern man sich mit seiner Zukunftserzählung noch am Steuerrad der (legislativen, medialen und kulturellen) Macht befindet, sind die gängigen Instrumente zur Überbrückung dieser (strukturell unvermeidlichen) Kluft hinlänglich bekannt. Man erklärt die kritischen Einwände zum subalternen Genörgel der Zukurzgekommenen, der Zurückgebliebenen und der Ressentimentgeladenen, der Vernunftlosen und Böswilligen. Man zwängt die neuen ‚unpassenden‘ Tatsachen in das eigene modifizierte Narrativ. Man forciert die Maßnahmen, die sich aus einem anderen Blickwinkel als untauglich, ja als Problemauslöser erwiesen haben, mit der Begründung, dass die Wende zum Guten schon in Blickweite ist, so man nur Kurs halten würde. Schließlich, aber das mag schon ein Teil der Machtauflösung sein, übernimmt man einen Teil der Vorschläge, die zuvor noch als undiskutierbar galten, gleich so, als hätte man es immer schon gewusst.

Bei der Migrationsfrage kann man dieses Schauspiel seit Jahren verfolgen. 2010 erschien „Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ von Thilo Sarrazin. Sarrazin war u.a. von 2002 bis April 2009 für die SPD Finanzsenator im Berliner Senat, also kein gelernter Rechtextremist. Trotzdem flog ihm sein Buch, obwohl es zum Bestseller avancierte, politisch um die Ohren, so dass er schließlich 2020 aus der SPD ausgeschlossen wurde. Seine These, dass Deutschland intellektuell verarmt, da die ungebildete Unterschicht, insbesondere mit muslimischen Migrationshintergrund sich überproportional vermehre, war zum Teil inhaltlich, aber primär in seiner Tonalität für eine bestimmte intellektuelle Klasse nicht erträglich. Auf eine inhaltliche Auseinandersetzung wurde daher weitestgehend verzichtet. Nicht besser erging es Hans-Georg Maaßen, immerhin von 2012 bis zu seiner Versetzung in den einstweiligen Ruhestand im November 2018 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Maßgeblich zur Versetzung hatte beigetragen hat, dass er in der Bild-Zeitung Zweifel äußerte, dass es 2018 in Chemnitz während der Ausschreitungen zu „Hetzjagden“ auf ausländisch aussehende Menschen gekommen sei. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden widersprach Maaßen hinsichtlich der Frage, ob das Video, wie von Maaßen vermutet, ein Fake sei, konnte andererseits  jedoch keine Belege für die „Hetzjagden“ vorlegen (siehe dazu auch den entsprechenden Wikipedia-Eintrag). Nichtdestotrotz: 2024 wurde bekannt, dass der ehemalige Verfassungsschutzpräsident nun vom Bundesamt für Verfassungsschutz als Beobachtungsobjekt im Bereich Rechtsextremismus geführt wird. Man muss die politischen Ideen von Hans-Georg Maaßen keineswegs teilen, wobei eben zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus ein Unterschied besteht, um zu vermuten, dass hier jemand diskreditiert werden soll, der nicht in das vorherrschende politische Narrativ passt und deshalb als politischer Gegner ausgeschaltet werden soll (weitere ‚Maßnahmen‘, mit denen der politische Gegner unter dem Vorwand moralischer und / oder rechtlicher Geltung als politischer Gegner weggeräumt werden soll, wo also der Zweck die Mittel heiligt, ließen sich wohl finden).

Bei Kirstin Heisig, die 2010 das Sachbuch " Das Ende der Geduld: Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter " geschrieben hatte und darin bestimmte Ethnien als besondere Problemverursacher im Kontext von Jugendgewalt benannt hatte (das Buch wurde ebenfalls ein Bestseller), liegt der Fall insofern anders, als dass sie schon 2010 verstarb. Auch da hätte man gespannt sein dürfen, wie ihre Karriere als Jugendrichterin weiter verlaufen wäre. Ein wenig anders verhält es sich mit Rolf Peter Sieferle, der von 2005 bis 2012 ordentlicher Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität St. Gallen war und 2016 verstarb. In seinem posthum erschienenes Buch „Das Migrationsproblem. Über die Unvereinbarkeit von Sozialstaat und Masseneinwanderung“ wird detailliert der Frage nachgegangen, mit welchen tiefgreifenden Problemen die derzeit praktizierte Einwanderungspolitik konfrontiert ist. Der Entrüstungssturm über sein ebenfalls 2017 posthum erschienenes polemisches Werk „Finis Germania“ hat hier ein mögliche Diskussion im Ansatz erstickt (so es sie überhaupt gegeben hätte). Fruchtbar wäre die Diskussion auch hier nicht verlaufen.

Nun, wir schreiben das Jahr 2024 und Dinge kommen in Bewegung: Die Wochenzeitung „DIE ZEIT“ ist als links-liberales Blatt keineswegs bekannt dafür, migrationskritische und konservative Gedanken zu verbreiten und / oder zu fördern. Umso erstaunlicher finden sich in der Ausgabe vom 27. März 2024 gleich drei Artikel, die sich im weitesten Sinn mit dem Thema Migration befassen und die linksliberale Weltsicht mehr oder minder hinterfragen. 

Die Medien

Der Leiter des Programmbereichs Aktuelles im Westdeutschen Rundfunk fordert, dass man sich aus den eigenen Milieus entfernt und auch andere Menschen ins Blickfeld rücken muss, die anders sind und anders leben. Insbesondere beim Klimawandel und bei der Migration ist dieser Anspruch herausfordernd, schreibt er weiter. So hat man sich entschieden, zu den Ereignissen auf der Kölner Domplatte , bei der 2015 massenhaft sexualisierte Gewalt von Migranten eben auf jener Domplatte zu Silvester stattfand, eine große Recherche zu widmen. Schließlich hat man dem WDR damals vorgeworfen, über dieses Thema nicht entsprechend berichtet zu haben, was aber keine Absicht war, so Brandenburg weiter. Ein Ergebnis dieser Recherche ist, so Brandenburg, dass es eine steigende Zahl von Gruppenvergewaltigungen geben würde und dass Ausländer überproportional beteiligt seien. Im Januar 2024, also 9 Jahre später, veröffentlicht man den Podcast zur Domplatte und sendet über die Informationsprogramme die Erkenntnisse über die Gruppenvergewaltigungen. Ob dass nicht den Faschisten in die Hände spielen würde, fragt er rhetorisch, um die Antwort zu geben: aber, nein, erst wenn man Dinge verschweigt, wird es schwierig. Doch verschwiegen hätte man natürlich nichts. Treffender, so Brandenburg als Fazit, wäre die Rede von: "haben nicht so genau hingesehen". (Stefan Brandenburg: "Wir sind uns zu ähnlich", in: DIE ZEIT, 27. März 2024, S. 24) (BTW: hätte eine Intendant des Rundfunks in Bezug auf Defizite in der Berichterstattung über rechte Gewalt den Gedanken formuliert, dass man nichts verschwiegen, aber nicht so genau hingesehen hätte …).

Die Ökonomie

In einem Interview mit der Zeit, in dem es auch um die Frage geht, ob wir von der Zuwanderung profitieren, bezweifelt Angus Deaton, Professor für Volkswirtschaft in Princeton und Wirtschaftsnobelpreisträger 2015, dass 1. Handel immer von Vorteil und 2. Einwanderung für alle gut sei (insbesondere ob sie für Menschen mit niedriger Qualifikation gut sei). Wenn man genug Geld zur Verfügung hat, so Deaton weiter, ist Einwanderung aufgrund des damit zusammenhängenden niedrigen Lohnniveaus bei Dienstleistungen und unqualifizierten Tätigkeiten eine gute Sache. Hat man keinen gutbezahlten Job, so sieht die Welt nicht so rosig aus. Er kommt zu dem Schluss, dass Handel und Migration unter Effizienzgesichtspunkten vorteilhaft sind. Wenn man jedoch auf diese Effizienz verzichten würde, würden wir unter Umständen in einer besseren Welt mit weniger politischen Polarisierung leben, so seine Einschätzung. (Interview mit Angus Deaton: "Leben und Tod sind wichtiger als Geld", in DIE ZEIT, 27. März 2024, S. 22“)

Die Zuwanderung

Schließlich berichtet Jochen Bittner von den Verhältnissen im Bezirk Tower Hamelt im Londoner East End. Das Viertel sei überbelegt, der Wohnraum knapp. Die Häuserpreise seien in die Höhe geschossen, der Mitwucher würde boomen. Die Frage stellt sich, so Bittner, wieviel Zuwanderung ein Land in kurzer Zeit verkraften kann. Entgegen der "Brexit-Intention" sind 2022 745.000 Menschen nach Großbritannien eingewandert, primär legale Visumseinwanderung, fährt Bittner fort. Um diese Neuankommenden adäquaten Wohnraum zu bieten, müssten jährlich ca. 340.000 neue Wohnungen entstehen, was illusorisch sei. Stattdessen, so berichtet Bittner weiter, nimmt die Verdichtung von Wohnraum und die Überbelegung von Wohnungen weiter zu, so dass im obigen Quartier ca. 16.000 Menschen auf einem Quadratkilometer leben würden (4 x soviel wie im Durchschnitt in Berlin). Die Konsequenz: der Wohnraum sei in einem schlechten Zustand (Schimmel etc.), das Zusammenleben auf engstem Raum durch Aggressionen geprägt. Hinzu käme, so Bittner mit Bezug auf Alp Mehmet vom Thinktank Migration Watch, der 1956 selbst als Immigrant nach Großbritannien kam, dass der zu schnelle Zuzug zu vieler Menschen eine Integration fast unmöglich machen würde, wenn zum Beispiel die Zugegzogenen selbst die Mehrheit im Klassenraum stellen würde. Nimmt es also Wunder, dass Alp Mehmet sich beim Slogan des Londoner Bürgermeisters Sadiq Khan -  "Diversität ist unsere Stärke" - weniger an eine positive Realitätsbeschreibung, denn an eine Orwellsche Denkmanipulation erinnert fühlt. (Jochen Bittner: "Die Slums von morgen. im East End von London treffen immer mehr Einwanderer auf immer weniger Wohnraum. Wie viel Immigration kann ein Land verkraften?", in: DIE ZEIT, 27. März 2024, S. 8)

Wenn also der eigene politische Denkhorizont die Phänomene nicht mehr in einen sinnvollen Bedeutungszusammenhang bringen kann, dann verändert sich etwas. In der Kategorie „Wünsch dir was“ wäre der Eintrag gewesen: Warum nicht früher und differenzierter. Aber die Illusionen sind am schönsten, solange man aufrichtig daran glauben kann. Und die Macht am stabilsten, solange man diese umfassend nutzt.

29. Juli 2024