"Der Mensch kann die Realität Gottes ausblenden, indem er ein Nichts imaginiert, aber er kann das imaginierte Nichts nicht dadurch überwinden, dass er es mit einem imaginierten Etwas füllt."
Eric Voegelin: Realitätsfinsternis; Berlin 2010 (1968-71); S. 26
Der Satz von Voegelin lässt eher an eine Gottesfinsternis (so heißt ein Buch von Martin Buber aus dem Jahre 1953), als an eine Realitätsfinsternis denken. Aber Voegelins Pointe besteht darin, dass für ihn die Realität nur dann Bestand hat, wenn sie die menschliche Existenz quasi von ‚Außen‘ berühren kann, sie nicht vollkommen immanent, d.h. selbstgemacht ist (behandelt werden folgende Selbstmacher: Schiller, Hegel, Comte). Wenn Voegelin von einer selbstgemachten Welt als Imagination spricht, dann weniger, um ihr die wirkliche Wirkungsmächtigkeit abzusprechen, sondern um auf die ungeheuren Ausblendungszusammenhänge hinzuweisen, die damit einhergehen. Dafür nutzt er auch den von Schelling übernommenen Begriff der Pneumopathologie = Verfall und Verlust des – transzendenten, göttlichen - Geistes.
Aus verschiedenen Gründen ist es immer problematisch, Dinge, Sachverhalte und Zusammenhänge zu pathologisieren. Andererseits, jetzt wo ich den Begriff der Pneumopathologie kenne, fühle ich mich ein wenig so wie ein dilettantischer Hausarzt, der seinem sterbenskranken Patienten die Wahrheit sagen kann, ohne dass er diese versteht. Nützt aber keiner und keinem.
28. Juni 2024
Auf dem Weg zum Bahnhof kommt mir ein mittelalter weißer Mann entgegen, mit einem T-Shirt, auf dem steht: "Keine Macht für Niemand". Allerdings sieht er so aus, als hätte er von "keine Macht" schon besonders viel abbekommen. Aber der Spruch bleibt eine Anmaßung, da ein in die Jahre gekommener weißer Mann in heutiger Zeit gar nichts einfordern darf.
Der Zug nach Mecklenburg ist komplett gefüllt, die Leute müssen im Gang stehen. Eine Frau, vielleicht knapp über fünfzig, mit Bürstenhaarschnitt möchte ein kleines Kind erfreuen und spielt ohne Rücksicht mehrmals sehr laut das Lied Biene Maja auf ihrem Handy ab. Schließlich bittet eine junge Frau, sehr höflich, es leiser zu machen, sie müsse lernen. Es gibt sie wohl: die Geräuschschmerzlosigkeit, so man den Krach nur selber produziert. Auf den Umsteigebahnhof beschimpft ein älterer Mann mit Haarkranz die Zugbegleiterin ob des vollen Zuges aufs heftigste. Als hätte sich ein Überdruckventil geöffnet. Im Anschlusszug zieht eine sehr alte Frau mir schräg gegenüber ihren Schuh und ihren Strumpf aus und untersucht ihren linken Fuß. Auch sie eine öffentliche Person.
Gibt es in Ostdeutschland Nachholbedarf bezüglich Beleidigungen? Keine Macht der Staatsgewalt! Aber sauber bleiben, Autowäsche in der Nähe der kleinen Hafenstadt: dort steht ein älterer Passat; die Fahrerin, übergewichtig, ist ausgestiegen und guckt intensiv auf ihr Handy. Vorne auf der Windschutzscheibe, kurz über dem rechten Scheibenwischer ist ein Aufkleber angebracht, auf dem zu lesen ist: "Zettelpuppe fick dich".
Und wieder zurück in der ganz großen Stadt: was will der junge Mann adressieren, mit dem ich kurz vor Mitternacht zusammen eine S-Bahn nutze? Im vorbei gehen kotzt er mir fast vor die Füße - das fast bezieht sich tatsächlich auf den Abstand, nicht auf den Umstand der Vomitation -, um sich dann ein paar Sitzreihen weiter sehr aggressiv und in einem sehr gebrochenen Deutsch mit einem jungen Pärchen zu streiten, von denen er irgendetwas Trinkbares einforderte. Aber Rettung naht. In Hamburg war 2023 Mohammed der beliebteste Jungenname: Kein Alkohol, keine Drogen, nur gottesfürchtige Unterwerfung. Sagen wir mal im Großen und Ganzen.
Am nächsten Tag fahre ich mit dem Fahrrad zur Arbeit und wieder nach Hause. Ich sehe vor dem jüdischen Friedhof einen orthodoxen Juden in Schwarz mit Hut und Schläfenlocken. Daneben sein ca. zehnjähriger Sohn mit Kippa, der traurig dreinschaut. Darob möchte ich Judith Butler, in einem Anfall von Zynismus bitten, dem Jungen zu erklären, was berechtigter Widerstand ist.
Zurück im Kiez ein Tagesbelohnungstrink in einer Bar: Aperol - ich sitze und betrachte die Vorbeigelaufenen. Die spindeldünne, schwarz gekleidetet, mit Tattoos und Piercings (Nase, Augenbrauen) bedruckt und behängte Bedienung mit schwarzgefärbten Haaren - Nachfrage, ja aus Polen - bildet in dem Sommer-essen-und-trinken-gegen-den-Durst-Ensemble ein zweibeiniges Memento Mori.
Schließlich Heimweg und die Frage, ob die Frau mit Migrationshintergrund (darf man das so sagen), mit transparenter Plastikhaube auf dem Kopf und in einem schwarzen, im Wind wehenden Plastikumhang eingepackt, die telefonierend vor einem türkischen Frisör (das auch?) steht, nicht zur Zeit den Engel der Geschichte verkörpert? Die Zukunft kommt woanders her, sieht erstmal dunkel aus, aber die Dinge werden noch schön gefärbt.
30. Mai 2024
Wie sollen Sätze beschaffen sein?
- ich möchte einen Satz, der in der Kälte wie eine warme Decke sich um mich legt
- ich möchte einen Satz, der mich kühlt in der Hitze der Ausweglosigkeiten
- ich möchte einen Satz, der so intensiv leuchtet, dass alles erstrahlt
- ich möchte einen Satz, der wie ein Sack über dem Kopf mich blind loslaufen lässt
- ich möchte einen Satz, der duftet wie Blumen auf einer Sommerwiese
- ich möchte einen Satz, der den Kitsch schnittert, wie die Sense den Halm
- ich möchte einen Satz, der die dunklen Momente fasst, wie die Hand den Hammer
- ich möchte einen Satz, der mich taub macht gegen die Schläge der Faktizität
- ich möchte einen Satz, der aussieht, als hätte er etwas mit der Realität zu tun
- ich möchte einen Satz, der mir morgens einen Kaffee verspricht und dass der Tag ein guter wird
Nein, nicht mal das.
- ich möchte einen Satz, der mich fröhlich anschweigt
Wie nur in diesen Zeiten.
29. April 2024
"Die kontinuierliche Geschichte ist das unerläßliche Korrelat für die Stifterfunktion des Subjekts: die Garantie, dass alles, was ihm entgangen ist, ihm wiedergegeben werden kann; die Gewißheit, dass die Zeit nichts auflösen wird, ohne es in einer erneut rekomponierten Einheit wiederherzustellen; das Versprechen, dass all diese in der Ferne durch den Unterschied aufrechterhaltenen Dinge eines Tages in der Form des historischen Bewußtseins vom Subjekt erneut angeeignet werden können und dieses dort seine Herrschaft errichten und darin das finden kann, was man durchaus seine Bleibe nennen könnte."
Michel Foucault: Archäologie des Wissens; Frankfurt/M. 1988 (1969); S. 23
Der Glaube an den Fortschritt, die kontinuierliche Geschichte, an 'das' Subjekt: schon längst dahin. Man könnte diesen Satz in die Schublade eines "postmodernen Wissens" (was immer das ist) einsortieren und sich der verwirrten Ordnung der Dinge widmen. So man ihn jedoch persönlich schultert, wird es witziger: Ich bin ein dezentriertes Subjekt, ich kann nicht eine, d.h. meine konsistente Geschichte erzählen, ich habe Dinge und Momente an mir vorbei ziehen sehen, die niemals wiederkommen werden, ich habe Dinge vergessen, die mich wieder einholen werden, um mir die Umumkehrbarkeit meines Lebens schmerzhaft vor Augen zu führen, ich habe Dinge erlebt, die ich nicht sinnvoll in meine Biographie einordnen kann, die ich nicht verstehe, dich ich nie verstehen werde, die meinem Selbstbild widersprechen und mein Alter wird mich nicht einer verheißungsvollen Zukunft entgegenführen, sondern im Gegenteil meinen Geist und meinen Körper Tag für Tag mehr limitieren.
Glaubt doch keiner.
22. März 2024
"Die Fama, die dem ‘Oblomow’ vorangeht, in diesem Roman ereigne sich nichts, aber auch gar nichts, der Inhalt lasse sich in wenigen Zeilen wiedergeben, hat bewirkt, dass die wenigsten sich noch die Mühe machen, dieses Buch wirklich von Anfang bis Ende zu lesen, weil jeder es zu kennen, jeder sich unter den (längst in alle russischen Diktionäre aufgenommenen) Wörtern ‘Oblomow’ und ‘Oblomowschtschina’ etwas vorstellen zu können glaubt."
Hans J. Fröhlich: Iwan A. Gontscharow - Oblomow (1859); in: Fritz J. Raddatz (Hg.): ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher; Frankfurt/M. 1980; S. 260
Oblomow ist mit unvorstellbarer Trägheit gesegnet. Er verbringt sein Leben damit zu schlafen, zu träumen, zu dämmern und zu grübeln, meist im Bett. Kritische Geister werden sagen, dass er dem Leben nichts Positives hinzuzufügen vermag. Dabei geht es doch schon seit längerem darum, das Schlimmste zu verhindern. Und wenn jemand dem Schlimmen nicht noch etwas Schlimmes hinzufügt, ist das auch gut. Einzig die lebenspraktische Herausforderung, die entsprechenden Ressourcen für diese Lebensweise zu finden, bleibt bestehen. Aber ach, wenn man immer nur die Hindernisse sieht …
(Ich glaube, dass ich das Buch auch nicht gänzlich gelesen habe - ca. 700 Seiten -; ich habe es im Regal auch nicht gefunden, obwohl ich es besitze oder besitzen müsste. Aber vielleicht ist es durchaus im Geiste Oblomows, wenn man auf eine Zusammenfassung zurückgreift.)
27. Februar 2024
"Doch Freuds Müdigkeit wurde immer wieder gemildert durch die interessanten Wendungen, die der Lauf der Dinge nahm."
Peter Gay: Freud. Eine Biographie für unsere Zeit; Frankfurt/M. 2006 (1989);S. 416
Das Jahr 1916 - an dieser Stelle der Biographie befinden wir uns, Freud ist 60 Jahre alt - bot wahrscheinlich auch genug Anlass, um die Müdikgeit zurückzudrängen (u.a. kämpften seine beiden Söhne an der Front). Fast könnte man meinen, dass das letzte Jahrhundert noch einen weiteren Weltkrieg brauchte, um die Müdigkeit endlich und kollektiv zuzulassen. Inzwischen leben wir wieder in nervösen Zeiten. Wohl dem, der müde sein kann.
30. Januar 2024