Es gibt bestimmt vielfältige Gründe, um über den politischen Zustand dieses Landes und über die Verfasstheit der politischen Kultur sich zu sorgen. Mit der "Erklärung der Vielen", einem Aufruf, der am 9. November von zahlreiche Kulturinstitutionen veröffentlicht wurde, ist ein weiterer hinzugekommen. Dort ist ein Teil von jener Kraft zu spüren, die stets das Gute will und stets das Böse schafft. Dieser Satz ist wiederum ein Ausdruck der Enttäuschung darüber, dass Menschen, die der Kultur beruflich verbunden sind, einen so gedankenlosen Text mittragen. Im Folgenden beziehe ich mit auf die Berliner Ausprägung der Erklärung (-- https://www.kulturrat.de/pressemitteilung/berliner-erklaerung-der-vielen/ --).
Die Erklärung beginnt mit der kraftvollen Überschrift "Kunst schafft einen Raum zur Veränderung der Welt". Vielleicht müsste richtiger gesagt werden, dass Kunst, in ihren besten Momenten, die Welt verändert, allerdings in einer Art und Weise, die sich jeder Vorhersehbarkeit entzieht. Das wiederum kann in einer solchen Erklärung kaum die Anfangsüberschrift sein, denn erstens sprechen hier primär die Kulturmanager von Kulturinstitutionen und nicht die Künstler, und zweitens würde diese Aussage in Bezug auf die nachfolgend politische Ausrichtung des Textes doch anmaßend wirken.
Um von Anfang an keinen Zweifel daran zu lassen, was auf dem Spiel steht, stellen die "Aktiven der Kulturlandschaft" klar, dass sie "nicht über den Dingen (stehen), sondern auf einem Boden, von dem aus die größten Staatsverbrechen der Menschheitsgeschichte begangen wurden." Egal was nun folgt, der Grundton ist angeschlagen, die absolute Lauterkeit der Motive wird von Niemanden mehr in Frage gestellt werden können. "Millionen Menschen wurden ermordet" - All in.
Beim Brückenschlag zur Gegenwart wird ein Gang zurückgeschaltet. "Heute", beginnt der Absatz, sind die Kunsteinrichtungen "offene Räume, die Vielen gehören".* Was und wer könnte nun mit den Vielen gemeint sein, denn offenbar sind nicht alle gemeint, und, wie später klar wird, auch nicht alle erwünscht. **
Wer also sind die Vielen? Die Spannung steigt. Allerdings fällt die Antwort, so man sie denn Antwort nennen will, etwas rätselhaft aus. Wo auf engen Raum Grundsätzliches geklärt werden muss, tritt neben die Verschiebung auch die ungute Verdichtung. Daher hier im Wortlaut wie folgt: "Unsere Gesellschaft ist eine plurale Versammlung. Viele unterschiedliche Interessen treffen aufeinander und finden sich oft im Dazwischen."
Ich bezweifle, ob einer der Autor*inn*en* hier die eigentümliche Verschränkung zweier Begriffsuniversen aufgefallen ist, die zu einer etwas schrägen Argumentationskette führt. Auf der einen Seite haben wir das klassische Vokabular der Soziologie, das allemal davon ausgeht, dass unser Mitsein ein verobjektivierbarer Zusammenhang nachvollziehbarer Sachverhalte ist: die Gesellschaft, unterschiedliche Interessen. Im Kontext der Kunst und nach Einführung der (noch unbestimmten) Vielen, klingt das natürlich nicht nur unspektakulär, sondern droht auch die zuvor mit voller Wucht eingeführte moralische Engführung versickern zu lassen. Daher wird nun ein politischeres Vokabular mit den Begriffen der Gesellschaft und den Interessen zusammengeführt. Zum einen: "Plurale Versammlung", um die Vielfalt und die identitätsbezogenen Momente des gemeinsamen Seins zu betonen. Zum anderen: das großartige "Dazwischen", in dem man sich befinden soll, wenn man mit seinen Interessen aufeinander trifft. Ich vermute, dass hier die Anklänge zu einer Arendtschen Denkungsart gesucht wurden, und ich fürchte: erfolglos. Worum geht es: Das Arendtsche "Zwischen" markiert den Handlungsraum als einen offenen Raum, der nicht von souveränen (Interessens-) Individuen besetzt wird, sondern von (sprechend) Handelnden. Daher ist die Handlung selbst samt ihrer Trag- und Wirkungsweite nicht kalkulierbar. Ein Handlungsraum ist im eigentlichen Sinne also kein Verhandlungsraum. Kurzum, der Text kann sich nicht entscheiden, ob es um einen verobjektivierbaren Gesellschaftszusammenhang oder um einen Handlungsraum gehen soll, dem man schließlich noch eine moralische Note hinzufügen kann. Diese Unschärfe hat Methode, da man, wie nachfolgend zu sehen, einige unbequeme Fragen einfach umschifft werden.***
Aber weiter im Text: "Demokratie muss täglich neu verhandelt werden - " - muss sie vielleicht auch erhandelt und erstritten werden? - "aber immer unter einer Voraussetzung:" - und wieder steigt die Spannung; was ist die Voraussetzung, was wird nicht verhandelt? "Es geht um Alle, um jede*n Einzelne*n als Wesen der vielen Möglichkeiten." Wow, da fühlt man sich nicht zu Unrecht gleich "Dazwischen". Es geht um Alle und zugleich um jede*n Einzelne*n* und zugleich noch um das Wesen der vielen Möglichkeiten. Wie ist das zu verstehen?
Wenn mit „Alle“ nicht die ganze Menschheit gemeint sein soll, wäre doch zumindest die Nennung des Bezugsraums, indem sich dieses „Alle“ aufhält, erhellend gewesen. Andererseits wird suggeriert, dass das Umfassende lediglich aus Einzelnen besteht, also quasi eine Summe der kleinsten Einheit des Vergesellschaftungszusammenhangs darstellt. Damit wird fast unmerklich die oben schon angesprochenen politischen Räume, die, obgleich symbolisch, immer auch konkret verortbare Räume des Handelns und der Auseinandersetzung sind, einfach ausgelassen. So als würde sich die demokratische Frage quasi in einem luftleeren Raum stellen, zu dem jeder und jede voraussetzungslos Zugang haben kann. Demokratie ist aber historisch immer an ein politisches Gemeinwesen, an eine politische Nation gekoppelt und nicht freischwebend. Dies ist insofern von höchster Bedeutung, als dass die „Erklärung der Vielen“ mit diesem „kleinen Überspringen“ den eigenen moralischen Inklusionsanspruch innerhalb eines politischen Feldes artikuliert, ohne die eigenen Bedingtheiten und Voraussetzungen zu akzeptieren. Denn auf universeller und singulärer Ebene ist immer alles möglich, da scheinbar kein Zwischen, keine Negativität, keine Vermittlung diese Vision stören kann. Andererseits lässt sich nun der politischen Gegner, der durch den obigen Taschenspielertrick zu einer moralisch defizitären Gruppierung gemacht worden ist, recht einfach denunzieren.
"Der rechte Populismus, der die Kultureinrichtungen als Akteure dieser gesellschaftlichen Vision angreift, steht der Kunst der Vielen feindselig gegenüber. Rechte Gruppierungen und Parteien stören Veranstaltungen, wollen in Spielpläne eingreifen, polemisieren gegen die Freiheit der Kunst und arbeiten an einer Renationalisierung der Kultur."
Keine Frage, es gibt keine Entschuldigung für Drangsalierung von oder gar Gewalt gegen Menschen und gegen die willkürliche Beschädigung oder Zerstörung von Eigentum. Allerdings scheinen Teile der Linken viel weniger Bedenken zu haben, wenn es zum Beispiel um die Störung von Veranstaltungen der als Rechts identifizierten Gegner geht, so zum Beispiel geschehen auf der letztjährigen Frankfurter Buchmesse. Oder wenn nicht genehme rechte Politiker bis in die Privatsphäre hinein massiv unter Druck gesetzt oder angegriffen werden.****
Neben dieser Auslassung wird in diesem Absatz aber noch etwas ganz anderes deutlich. Recht unverblümt und offen wird eine legitime politische Meinung diskreditiert, nur weil jene davon überzeugt ist, dass die sogenannte „gesellschaftliche Vision“ vielleicht keine ganz so gute Idee sein könnte. Ob der eigenen gefühlten moralischen Überlegenheit scheint es für die Autor*innen der Erklärung gar nicht denkbar zu sein, da es sich bei ihrer Vision um eine höchst unpolitische Idee eines blinden Universalismus / Liberalismus handeln könnte, der wiederum im schlimmsten Fall zur Zerstörung des Raumes beiträgt, den er selbst in Anspruch nimmt.*****
Zudem bleibt im weiteren Verlauf des Textes unklar, wer der Gegner genau sein soll. Erwähnt wird: „rechter Populismus, rechte Strategien, Rechtsnationale, rechtsextreme Politik“, ohne dass genauer gesagt wird, ob und wo Unterschiede zwischen diesen Positionen liegen. Klar scheint für die Erklärer aber folgendes zu sein:
"Ihr verächtlicher Umgang mit Menschen auf der Flucht, mit engagierten Künstler*innen, mit allen Andersdenkenden verrät, wie sie mit der Gesellschaft umzugehen gedenken, sobald sich die Machtverhältnisse zu ihren Gunsten verändern würden.“
Und auch an dieser Stelle möchte man freundlich zurückfragen, ob jene „Rechten“, zumindest die meisten von Ihnen, wenn man diesen Begriff so undifferenziert gebraucht wie hier, nicht auch unter die Kategorie der Andersdenkenden fallen, denen man zumindest den Respekt einer anderen Meinung zuzubilligen hat. Und ganz nebenbei: erfahrbar ist allemal, nicht zuletzt im Text selber, wie ein bestimmter linker hegemonischer Diskurs mit jenen umgeht, die nicht seiner Meinung sind: nicht gut. Während die Erklärung durchaus aus einer Position der Stärke spricht, denn selbst aus dem Regierungsumfeld wird die Initiative wohlwollend begleitet ******, suggeriert jedoch die oben eingeführte Äquivalenzkette von „Menschen auf der Flucht“, „engagierten Künstler*innen“ und „Andersdenkenden“, dass die hier aneinander gereihten „Positionen“ sich auf der Seite der Opfer befinden. Richtig ist, dass Asyl-, Schutzsuchende und Migranten zunächst keine politischen Rechte für sich in Anspruch nehmen können und vielfach auf Hilfe angewiesen sind. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass alle Akteure, die sich für eine umfassende Inklusion dieser Menschen einsetzen, qua Moral ebenfalls einen Schutz- und Hilfeanspruch in Bezug auf eine politische Auseinandersetzung für sich in Anspruch nehmen dürfen. Die Migrationsfrage ist sehr wohl eine strittige, die in ihren vielen Facetten zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen führen kann. *******
Uwe Tellkamp, ein Schriftsteller, der von den „Erklärern“ bestimmt nicht zu den oben genannten engagierten Künstlern gezählt wird (und auch nicht zu den Andersdenkenden), obgleich er seine Stimme vernehmbar erhebt, hat in einem anderen Kontext, jedoch mit Bezug auf die Erklärung der Vielen, darauf aufmerksam gemacht********, dass das "Wehret den Anfängen" ein "Wehret dem Ende" schon längst abhanden gekommen ist. Zu sehen sei ein moralischer und intellektueller Bankrott der Initiatoren, die sich selbstgerecht ob der institutionell ins Werk gesetzten Intoleranzmaßnahme auf die Schulter klopfen.
Kultur und Kunst muss in ihren verschiedensten Ausprägungen nicht jeder und jedem genehm sein. Aber wenn moralisch verbrämte politische Meinungen als Kampf für die Kultur verkauft werden soll („Die Kunst bleibt frei!“ lautet der Schlusssatz), dann kann ich auf diese Art von Kultur gerne verzichten. Statt den demokratischen Diskurs zu vertiefen, werden Antagonismen forciert. Die so vorgetragene moralische Gesinnung wird weder der Kunst, noch dem politischen Raum gerecht und beschädigt beides.
--__--__--__--__--__--__--__--__--__--__--__--__--__--__--__--__--__--__--__--__
* Wortgenau heißt es: "Kunst und ihre Einrichtungen", wobei man vorsichtig anmerken möchte, dass Kunst, also das Kunstwerk, ja kein offener Raum ist und weiterhin, dass die meisten Kunstwerke einem wohldefinierten Besitzer zugeordnet werden können; ebenso haben die Kunsteinrichtungen einen Eigentümer, der zum Beispiel ein Hausrecht ausüben kann.
**Empirisch gesehen wird jeder Besucher von Vernisagen und Kunst- und Theateraufführungen etc. bestimmt festgestellt haben, dass die "Vielen" meist aus einer wohldefinierten Gruppe vom Menschen mit bestimmten sozio-kulturellen Ausprägungen sind, die so wahnsinnig unterschiedlich nicht sind.
*** Um die eigenständige Qualität dieses Raumes zu betonen, verwendet Arendt den Begriff des "Zwischen" und verzichtet auf das "Da". Denn ein "Dazwischen" zeigt lediglich eine unbestimmte Lücke zwischen zwei Entitäten an und besitzt eben nicht jene identitätsaffizierende Macht, die Arendt dem Zwischen zuspricht.
**** Es besteht generell eine spezielle Wahrnehmungsweise vieler Linker in Bezug auf die Gewaltfrage. Oftmals wird nach der Zweck-heiligt-die-Mittel-Idee die Gewaltausübung als legitim oder als gar nicht so schlimm empfunden – aber selbstverständlich nur, wenn es um die eigenen hehren linken Ziele geht -, oder man spricht im nachhinein der gewaltausübenden Ideologie ihr linkes Wesen einfach ab. Diese Immunisierungsstrategie mündet dann häufig in dem eigenartigen Satz, dass „die Rechten“ Menschen Gewalt antun, während „die Linke“ maximal zur Sachbeschädigung neigen würde. Jedoch ist weder historisch noch in der Gegenwart wahr.
***** Auch die Sprachwahl ist bezeichnend: die Vision wird angegriffen, so als ob es per se gewaltsam wäre, hier anderer Meinung zu sein. Und wird wirklich der Kunst der Vielen feindselig gegenüber getreten? Oder bezieht sich die Feindseligkeit nicht vielmehr auf den darin verborgenen politischen Anspruch, was eine ganz andere Sache ist. .
****** Der SPD-Politiker Dr. Carsten Brosda, seines Zeichens Senator für Kultur und Medien, also nicht unbedingt ein andersdenkender Außenseiter, äußerst sich zustimmend: „Kunst kann uns helfen, ein gemeinsames Verständnis für unsere vielfältige Gesellschaft zu finden. Dazu braucht sie die Freiheit, Stellung zu beziehen und anzuecken. Wir stehen deshalb in der Pflicht, einen gesellschaftlichen Grundkonsens zu sichern, der diese Freiheit nicht in Frage stellt, sondern als wesentlichen Wert unseres Zusammenlebens erkennt und fördert. Ich freue mich über die breite Unterstützung der Initiative ‚Die Vielen‘ auch in Hamburg (...).“
-- https://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/11846094/erklaerung-der-vielen/ -- Mutig wäre gewesen, wenn zum Beispiel ein SPD-Politiker*in einige differenzierende Wort zu der Erklärung gefunden hätte. Auch ist es doch keineswegs belanglos, dass viele dieser Erklärungsinstitutionen von staatlichen Fördermitteln abhängig sind, wobei die Kulturförderung zweifelsohne notwendig und richtig ist. Jedoch handelt es sich eben nicht um marginalisierte und ausgegrenzte Kunst- und Kulturorte.
*******Die oben erwähnte Äquivalenzkette taucht prominent in einem Buch von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe auf, das, aus einer einstmals linken Perspektive kommend, die Determinationsgedanken des Marxismus in eine politische ‚Logik’ überführen will. Darin findet sich auch folgendes Zitat, das die Spaltungseffekte der obigen Äquivalenzketten beschreibt. Auch deshalb interessant, weil der Erklärungstext genau das nichtet, was er zuvor doch einfordert: demokratische Pluralität:
"Wir werden folglich dann von demokratischen Kämpfen sprechen, wenn diese eine Pluralität politischer Räume implizieren und von popularen Kämpfen, wo bestimmte Diskurse tendenziell die Spaltung eines einfachen politischen Raums in zwei entgegengesetzte Felder konstruieren." S 196
Laclau, Ernesto; Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie: zur Dekonstruktion des Marxismus; Wien 1991 (1985), S. 196
******** Siehe dazu den offenen Brief von Uwe Tellkamp --https://www.google.com/search?q=Offener+Brief+von+Uwe+Tellkamp&ie=utf-8&oe=utf-8&client=firefox-b --
Staunend habe ich im März zur Kenntnis nehmen müssen, wie schnell und gnadenlos jemand abgeschrieben wird, der nicht mehr mit dem linken Mainstream heult. So beispeilsweise geschehen im Feuilleton der ZEIT vom 15. März 2018 (Nr. 12/2018), in dem Thomas Assheuer im Tellkamp-Roman "Der Eisvogel" nach Spuren rechter Gesinnung sucht und fündig wird. Ungerührt lautet das eigentlich ungeheure Fazit seines Artikels: „Dass Wiggo (der Protagonist des Romans) aus Angst und einem fanatischen Verlangen nach Sicherheit und Ordnung zum Rechtsradikalen wird – dies ist das Schonendste, was man über ihn sagen kann. Der Spiegel zitiert Tellkamp mit der Bemerkung (14/2005), diese Figur sei ihm beim Schreiben oft sehr nahe gekommen und er habe sich von Wiggo innerlich distanzieren müssen. Das ist ein rühmenswert ehrlicher Satz, denn er beichtet die Angst des Autors vor seiner eigenen Verführbarkeit. Der Schoß ist fruchtbar noch.“ Inzwischen soll scheinbar nicht nur die äußere Wirklichkeit nach moralischen Kriterien schöngefärbt werden; nein, auch die inneren Ambivalenzen sollen am besten überhaupt nicht mehr auftauchen. Der angstbesetzte und zugleich anklagend vernichtende Schlusssatz „Der Schoß ist fruchtbar noch“ ist in diesem Kontext eine Denunziation der Kunst. Man möchte dem entgegen halten: was nicht symbolisiert wird, kehrt im Realen wieder, wobei das Reale im Gegensatz zur Realität eben jenes Moment ist, das die Angst entfacht und zur zwanghaften Wiederholung führt.
30. Novemeber 2018
Heute ist Halloween, eine Unruhenacht, in der Geister, Gespenster und Untote ihr Unwesen treiben. Meist sind es wohl Kinder, die das Spukgeschäft, d.h. den Tausch „Süßes sonst gibt`s es Saures“ betreiben, bevor „All Hallows’ Eve“, also der Abend vor Allerheiligen, um Mitternacht zum ersten November und damit zum christlichen Festtag wird, an dem aller Heiligen gedacht wird. Heilige sind diejenigen, die es christlich gesehen schon zur Vollendung gebracht haben, für die der Spuk also vorbei ist. Während sich für die Heiligen die Dinge in guter Weise erledigt haben, spukt es für die Gläubigen weiter, ist die Welt doch beseelt von unerledigten Dingen. Umgekehrt gilt: Ungläubig ist nur der, der meint, die Heimsuchung, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart reicht, nicht zu kennen. Wer könnte sich unter solchen Vorzeichen wirklich als Ungläubiger bezeichnen? I’m a believer!?
Die Anschlussfrage für alle Gläubigen lautet nun, wie werde ich zu einem Heiligen? Oder, um die Aussichtslosigkeit der Sache etwas freundlicher zu gestalten: Wie bekomme ich das Unerledigte aus der Welt, wie bereite ich dem Spuk ein Ende? - Als Parenthese: ein spuk- und spaßbefreiter Zug des Protestantismus besteht darin, hart und fleißig zu arbeiten, redlich zu leben und ansonsten auf die Gnade Gottes zu vertrauen. So geht’s auch, aber ist das noch ein Leben? - Auf einer mehr theoretischen und denkerischen Ebene hat Jacques Derrida sich dieser Frage angenommen - also der Spuk-Frage -, Meister und Begründer der Hantologie und Experte für dekonstruktive Angelegenheiten.
Um es vorweg zu beantworten: für Derrida kann (und muss) das Unerledigte angedacht und angegangen werden; es kann (und muss) im Namen der Gerechtigkeit besprochen, bearbeitet und schließlich begraben werden. Da wir es aber mit weltlichen Angelegenheiten zu tun haben, wird es – so man mit dem Anti-Hegelianer Derrida denkt - zu keiner Erlösung kommen – wir leben phylogenetisch gesehen in einer Fortsetzungswelt. *
Die interessante und im eigentlichen Sinne höchst politische Frage: wie stehen wir zu den unerledigten Dingen und wie können wir sie angehen? Bekanntlich bestehen Welt und unser gemeinsames Zusammenleben auch aus der organisatorischen Anstrengung möglichst viel erledigt zu bekommen. Die Gesellschaft und erst Recht die Ökonomie ist (auch) ein Erledigungszusammenhang. Ein kurzer Blick auf die Gegenwart, und - so Zeit vorhanden - ein längerer in die Vergangenheit, zeigt, dass das nicht richtig funktioniert (hat): irgendwas ist immer, zum Teil auch deshalb, weil die Kategorie der Erledigung nicht zu den Dingen passt, mit denen wir konfrontiert werden. Als nicht ganz unrelevant hat sich die Frage herausgeschält, welche Art von Reste-Verwertung und Mangel-Management wir zuneigen. Die klassisch metaphysische Antwort lautet grob: die Vollkommenheit ist greifbar, die Erlösung machbar. Das was nicht passt, also der Rest, muss eliminiert, das was fehlt, also was mangelt, noch hinzugefügt werden. Als Mechanismus zur Herstellung wünschbarer Verhältnisse hat sich in diesem Zusammenhang die Kritik durchgesetzt, verstanden als konstruktive Anleitung zur Komplementierung unvollständiger Lebenslagen und -welten. **
Und die Dekonstruktion? Genau, die Welt ist nicht zur Vervollkommbarkeit, zur Erlösung bestimmt, sondern gezeichnet durch die produktiven, wenn auch nicht immer „schmerzfreien“ Momente der Differenz und des Aufschubs. Ausgehend davon und getrieben durch unsere Heimsuchungen, gilt es die erledigungstechnischen Vereisungen, Sedimente und Verhärtungen aufzutauen (Arendt), abzubauen (Heidegger) und zu dekonstruieren (Derrida), damit es wieder Frühling werden kann, wir das Spielfeld sehen und mit scheinbar alten Steinen neu beginnen können.***
Doch die Dekonstruktion eignet sich schlecht, um lediglich Ideologien zu öffnen und zu zerlegen, ohne sich selbst aufs Spiel zu setzen. Wir sind alle Metaphysiker, die von verschiedensten Dingen heimgesucht werden und deshalb - vielleicht - zu Dekonstruktivisten werden, um andere Anfänge bzw. Ausgänge suchen und zuweilen auch zu finden: Neubeginn. Aber wir werden auch dann nicht jenseits „der Ideologie“ landen oder leben können. Unvermeidlich fallen wir wieder auf oder in (neue) „Konstruktionen“ zurück, also zurück in unsere Erledigungs- und Entscheidungszusammenhänge. Hier würde uns die Dekonstruktion daran erinnern, dass wir davon lassen sollten, unsere „Konstruktionen“ in der Hoffnung auf Vervollkommnung immer weiter abzudichten, mit der Folge, uns und anderen Gewalt anzutun; uns an das Versprechen erinnern, dass es jenseits des Zwangs und/oder der Versuchung auf Vervollkommnung immer andere Ausgänge geben kann.
Die Konstruktionen metaphysischer und ideologischer Art können also nicht einfach verworfen werden. Unser Leben ist geprägt von Entscheidungen, geprägt von den Ausschließungen, die damit einhergehen, von den Grenzen, die davon zeugen. Ein Großteil der Moderne war (und ist teilweise noch) von der Illusion geprägt, dass diese einschränkenden Grenzziehungen im Zuge des Fortschritts und der Vervollkommnung verschwinden werden, ebenso wie die Gespenster und der Spuk. Wenn Dekonstruktion hingegen die Kunst des öffnenden Umgangs mit den Konstrukten, die Begegnung mit den Gespenstern „ist“, nicht der Wille zur Überschreitung oder Verwerfung, dann liegt auch der Gedanke nahe, dass unsere metaphysischen Konstrukte nicht nur „Funktionen“, sondern auch spezifische Qualitäten haben, die keineswegs voraussetzungsfrei sind. Peter Sloterdijek schreibt in seinem lesenswerten Derrida-Essay „Der Denker im Spukschloss“:
„In Wahrheit sind, wie Derrida zeigt, die Träume der Metaphysik unruhige Fabrikationen, die nicht wirklich vom Selbstgenuss des Wissens oder der Macht Zeugnis geben, sie sind vielmehr Manifestationen einer allumfassenden Sorge um sich und um das Gebäude der Welt und des Wissens – mit einem Wort, sie stellen eher kompensatorische Gebilde dar, die gegen die Gefahren der Unwissenheit und der Unübersichtlichkeit Abwehren errichten.“
Peter Sloterdijk: Der Denker im Spukschloß (2009); in: Was geschah im 20. Jahrhundert; Berlin 2016; S 168
Ich bin mir nicht sicher, ob Derrida diesen Satz in seiner Eindeutigkeit unterschrieben hätte. Worauf Sloterdijk zu Recht verweist: unsere Konstrukte, keineswegs naturgegeben oder substanzgegründet, deshalb im eigentlichen Sinne symbolische Ordnungen, haben als geschichtlich geprägte immunitäre Bündnisse nicht nur einschränkende, sondern zugleich ermöglichende Potentiale.**** Weltoffenheit ist nur durch sphärische Sicherungen lebbar, wobei umgekehrt die Sicherungen immer wieder am Offenen sich zu orientieren haben, so Sloterdijk weiter. Wenn also im Zusammenspiel von Sicherung und Offenheit die Qualität symbolischer Ordnungen in den Blick gerät, dann könnte man fast versucht sein, diese Qualität am Umgang mit den unvermeidlichen Gespenstern festzumachen. Kurzum: wenn die Gespenster zu Halloween klingeln, auf jeden Fall Süßigkeiten rausrücken.
-------------------------------------------------------------------------------------------
* Vielleicht könnte man sagen, dass das messianische Moment, das aus der Zukunft auf uns zukommt, uns nicht erlöst, sondern als erlösendes Versprechen uns immer nur ein Stück einer Lösung zukommen lässt. Und für Christen: die Auferstehung vollzieht sich nicht in dieser Welt; hier unten bleiben immer nur die Untoten.
** An dieser Stelle ein kurzer Hinweis zu den Kantschen Kritiken: Bekanntlich besteht die „Kritik der reinen Vernunft“, um eine Kritik herauszunehmen, nicht daraus, die Vernunft zu desavouieren, sondern ihren Geltungsbereich zu umgrenzen; insofern hält sich hier die Kritik noch am Rande der Immanenz.
*** Inzwischen hat es der Begriff, oder sagen wir besser das Wort „Dekonstruktion“ es fast bis in den Alltagsprachgebrauch geschafft, zumindest jedoch die feuilletonistischen Höhen erklommen, wobei es einer eigenen Untersuchung bedürfte, um jene schönen Verwechslungen nachzuzeichnen, die aus ihm einen kritischen Terminus machen: „Es ist notwendig diese Sicht der Dinge zu dekonstruieren (böse Meinungen, böse Meinungen), wobei ich schon im voraus weiß, dass mich nichts weiter erwarten wird, als die Richtigkeit meiner eigenen Wahrheit.“
**** Es ist offensichtlich, dass die geschichtliche Antwort auf eine einstmalige totalitäre Schließung nicht darin bestehen kann, im Namen der Offenheit alle Grenzen und Sicherungen zu negieren. Letzteres bleibt in unguter Weise an das gekettet, was unbedingt vermieden werden soll. Die Verachtung der eignenen symbolische Ordnung (im Namen eines universell Guten), wird jenes Moment schwächen, was das Zusammenspiel von Offenheit und Sicherung trägt. Nicht das Gespenst der totalitäre Schließung, sondern das der Nichtung der demokratischen/politischen Nation steht vor der Tür.
31. Oktober 2018
Unser Körper spricht mit uns, mal mehr, mal weniger, mal sanft, mal nachdrücklicher. Wir haben Hunger, wir haben Lust auf Sex, wir müssen unsere Notdurft verrichten und wir haben Schmerzen. Da kann sich unser Geist so ziemlich auf den Kopf stellen, man muß diese Körpersignale zumindest zu Kenntnis nehmen - nein, man muß gar nicht, sie sind einfach da. Nun hat wohl jeder seine eigenen Strategien entwickelt mit diesen Dringlichkeiten umzugehen - in den meisten Fällen wird man einen Weg finden, dem Körper das zu geben, was er verlangt.
Nun haben einige Menschen die Angewohnheit, den Körper mehr zu bewegen, als es die Lebensumstände verlangen. Der Fachbegriff dafür lautet Sport. So man sich entschieden hat, sich sportlich zu betätigen, stehen fast unendliche Möglichkeiten zur Verfügung. Man kann Schwimmen, Segeln, Golfen oder auch Schach spielen - alles Sport. Für mich ist es das Laufen, teils weil ich aus Jugendzeiten diese Sportart intensiv betrieben habe, also mit ihr vertraut bin, teils weil sie relativ einfach umzusetzen ist, man kaum technisches Equipment braucht und man seine Trainingseinheiten frei einteilen kann.
Wie bei so vielen Dingen, und erst recht beim Sport, und ganz besonders bei Ausdauersportarten, lernt man schnell, dass der Körper seine eigenen, uns oftmals sehr unvertrauten Ansprüche und Gewohnheiten hat. Zunächst erfährt man nachdrücklich, dass der Körper ein Beharrungswesen ist. In gewisser Weise könnte man sogar sagen: wo Körper ist, da ist Todestrieb. Damit ist nicht nur gemeint, dass der Körper, erstmal auf dem Sofa geparkt, höchst selten sich zu sportlichen Aktivitäten überreden lässt. Nein, viele kennen auch die Momente innerhalb des Trainings und des Wettkampfs, wo der Körper nicht mehr so Recht weiter will; man fühlt sich erschöpft, der Rhythmus stimmt nicht mehr, die Beine fühlen sich schwer an oder brennen - man möchte am liebsten die Bewegung abbrechen und sich und dem Körper etwas Ruhe gönnen. Zurück zum Urzustand.
Aber ein erfahrener Sportler muss man nicht sein, um zu wissen, dass mit dem 'Nachgeben' der Trainingseffekt ziemlich schnell gegen null tendiert, ja der Angang zum Training erschwert, gar verunmöglicht wird. Eigentlich besteht das Training oftmals daraus, diese Schwelle - der Körper meldet: es ist anstrengend, bitte aufhören - zu betreten und sich in ihr einzurichten. Zuweilen kommt es vor, dass der Körper quasi nachgibt und die negativen Signale ganz einfach wieder verschwinden. Der magische Flow stellt sich ein und alles geht von ganz alleine. Aber bei mir ist das eher die Ausnahme. Gleichwohl ist es so, dass dem Körper auch das Training zur Gewohnheit wird und dass er, erstmal im Training, gerne weiter bewegt werden möchte, sich gar Unwohl fühlt, wenn das Training ausbleibt. Nichtsdestotrotz steht mein 'Ich', also mein geistiges Ich im Gegensatz zum Körper-Ich, oft genug vor der Aufgabe, mit den 'unangenehmen' Körpersignalen umzugehen.*
Erstaunlicher Weise wird dieses Thema bei den meisten Lauftipps sehr stiefmütterlich behandelt und beispielsweise mit dem Hinweis abgetan, dass man sich mental auf seine Laufstrecke vorbereiten soll, was immer das genau heißen soll. Oder es wird empfohlen, dass Laufen maximal entspannt anzugehen, es als eine Variante des ambitionierten Spazierengehens zu betreiben, was weder zu einer Verausgabung, noch zu anderen Arten von negativer Rückkopplung führen kann.
Diese Wellness-Sportidee ist mir ob ihrer Anstrengungslosigkeit immer etwas suspekt geblieben. Oder wie Haruki Murakami in seinem Laufbuch schreibt:
„Ich erreiche allmählich das Alter, in dem man nur etwa bekommt, wenn man auch dafür bezahlt hat.“
Haruki Murakami: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede; Köln 2008, S. 53
Was also tun, wenn der Körper signalisiert: "genug" und dein Geist darauf anspringt und ernsthaft überlegt, beispielsweise die Strecke abzukürzen. Wahrscheinlich gibt es ganz viele Antworten darauf. Meiner Erfahrung nach sind die Möglichkeiten überschaubar und nicht eindeutig voneinander zu trennen, sondern gehen ineinander über, als da wären: ignorieren – konzentrieren – verschmelzen. Naheliegend ist es, den Körper-Unmut zunächst als kleinen, fehlgeleiteten Wink zu betrachten, sozusagen als eine Falschmeldung, die sich im weiteren Fortgang des Laufens von alleine korrigieren, das heißt verschwinden wird. Kennt jeder auch aus anderen Kontexten: ein leichtes Stechen im Bauchbereich, ein Anflug von Kopfweh und dann wieder weg. Das Ignorieren eignet sich also für den Anfang, da es mit der Hoffnung verbunden ist, dass der Körper mit sich und seinem Tun auch wieder ins Reine kommt und das Quengeln einstellt. Sollte dies nicht der Fall sein, kann man im eigentlichen Sinne nicht mehr von Ignorieren sprechen. Ich lasse meine Gedanken schweifen, werde ‚unterbrochen’, ignoriere den ‚Köperhinweis’, versuche an andere Dinge zu denken, werde wieder ‚unterbrochen’ usw. Setzt sich dieses Spiel über einen gewissen Zeitraum fort, weiß ich, dass diese Strategie nicht aufgeht und ich mich mit meinem Körper anders ins Einvernehmen setzten muss.
Statt also nur so vor mich hinzudenken, schalte ich in den Modus der Konzentration. Ich lade meinen Körper ein, ebenfalls mitzumachen, indem ich mich zum Beispiel voll und ganz auf das Atmen konzentriere und diese ‚Bewegung’ noch mit einer ‚Satzformel’ unterlege, damit mein Geist nicht auf die Idee kommt, wiederum selbst Gedanken fortzuspinnen, die mit der Atmung nichts zu tun haben. Und damit mein Körper sich nicht durch meinen Geist gegängelt fühlt, benutze ich immer eine passivische ‚Satzformel’ wie zum Beispiel ‚es läuft mich gut’. Der Körper lässt sich darauf ein und ich laufe ganz zufrieden vor mich hin, bis ‚Ich’ - ja welches Ich - merke, dass mein Geist ganz unauffällig das Thema gewechselt hat und sich mit anderen Dingen beschäftigt. Das ist natürlich nicht in Ordnung, da auch der Körper wieder anfängt auf sein Recht zu pochen. Also heißt es, Konzentration aufbauen und sich die Dinge fügen lassen. Oft wechseln sich diese Phasen der Konzentration und des Abschweifens eine Zeit lang ab, manchmal bis ins Ziel. Auch gut. Schließlich gibt es die glücklichen, jedoch seltenen Augenblicke, in denen die Konzentration sich quasi verselbständigt und zu einer Art Verschmelzung führt. Ein beglückendes Gefühl, da Körper, Geist, Bewegung und Umwelt sich nicht mehr wie verschiedene Dinge gegenüberstehen, sondern sich ineinander verschränken, ohne ineinander aufzugehen und doch zusammengehörig. Daher mag Verschmelzung auch nicht ganz der richtige Begriff sein; jedoch zeigt er an, dass ich in etwas eingelassen bin, das mich trägt, ohne dass ich es wollen muss oder kann. Insofern ‚läuft es mich dann wirklich gut’. Selten, sehr selten.
Der Körper ist ein sehr ehrlicher Begleiter (Bin ‚Ich’ das auch immer? Aber was weiß ‚Ich’? Sprechen wir nicht ganz oft miteinander, ohne dass ‚Ich’ es merke?). Wenn ich schließlich meine Sportaktivitäten beendet habe, belohnt er mich, je nach Trainingsintensität und nach Tageszeit, mit einer tiefen und umfassenden Müdigkeit. Diese unterscheidet sich von der Erschöpfung, weil sie in sich eine Zufriedenheit vermittelt, die ich mit allen Fasern spüre. Ich weiß, dass ich mich dieser Müdigkeit nicht nur bedenkenlos hingeben kann, sondern ich mich hingeben möchte. Es ist ein Versprechen auf einen tiefen Schlaf und auf eine umfassende Erholung. Zweifelsohne, abseits der Couch und abseits der Trägheit offenbart der Körper seine thymotische Dimension.
----------------------------------------------------------------------------------------------------
* An dieser Stelle der pädagogische Hinweis, dass man bestimmte Körpersignale keinesfalls überhören oder ignorieren sollte, insbesondere wenn etwa schmerzt. Beendet man dann die sportliche Aktivität nicht, können sich Verletzungen verschlimmern oder gar chronisch werden. Schwieriger wird es bei der Frage, inwieweit man seinen inneren „Schweinehund“ bis zur welchen Grenze überwinden sollte. Es gibt Marathonläufer, die sich zur finalen Verausgabung führen, weil sie kurz vor dem Ziel voller Euphorie die buchstäblich letzten Signale überhören und sich in den Tod laufen
30. September 2018
Während ich das Auto in der Blechlawine mitschwimmen lasse, fällt mir ein Radiobruchstück in die Ohren. Eine Buchbesprechung mit schönem Ausklang, da das verhandelte Sachbuch mit dem Titel "Spurlos verschwinden" rundum verrissen wird. Also einer jener seltenen Momente, in denen mir mitgeteilt wird, dass ich etwas nicht brauche. Komischer Weise bleibt doch etwas hängen, nämlich der im Buch beschriebene Umstand, dass der radikale Beginn eines neuen Lebens, eingeleitet durch den abrupten Abbruch aller sozialen Beziehungen, durch Namenstausch, Ortswechsel usw. meist nicht vollständig gelingt, da die Spur bestimmter Gewohnheiten und Vorlieben für einen erfahrenen Detektiv zur gesuchten bzw. verschwundenen Person führt.
Einmal in der Welt, können wir ihr kaum entkommen, so scheint es. Was bleibt, lebenslang, ist die Sehnsucht nach einem Anfang. "Man hungert nach dem Beginn" dichtete T.S. Eliot. Und Meister Eckhart wußte schon im 13. Jahrhundert: "Und plötzlich weißt du: Es ist Zeit, etwas Neues zu beginnen und dem Zauber des Anfangs zu vertrauen." Hannah Arendt prägte, um wieder in das 20. Jahrhundert zu springen, den Begriff der Natalität, ausgehend von der Erfahrung, dass wir als Neuankömmlinge auf dieser Welt mit der Fähigkeit ausgestattet sind, zu Handeln, d.h. in Freiheit einen neuen Anfang zu machen.
Lew Schestow, russisch-jüdischer Philosoph, geboren im Jahre 1866 (und gestorben 1938), beschäftigt sich in einem Gedankensplitter mit der Frage, ob das Postulat, dass Dichter, also die Anfangs-"Macher" schlechthin, geboren und nicht gemacht werden (Poetae nascuntur), einer Überprüfung stand hält (Schestow, Lew: Apotheose der Grundlosigkeit; Berlin 2015, S. 112 f.). Zunächst einmal, so hebt seine Argumentation an, können wir ein Kind nicht zum Dichter erziehen, indem wir ihm verschiedene literarische Ausdrucksweisen eintrichtern. Aber ist deshalb das Dichter-Schicksal mit der Geburt besiegelt? Ist der Dichter mit seiner Geburt schon auserwählt zu seinem Natalitäts-Handwerk? Nein, sagt Schestow, der Zufall ist's, der die entscheidende Rolle spielt: ein eingeschlagener Schädel oder der Sprung aus dem dritten Stock können hier Wunder wirken. Folgerichtig könnte der dichterische Nachwuchs auch weniger durch die Konfrontation mit Büchern, als durch solche Zufalls-Zumutungen erzeugt werden (so er denn das Experiment überlebt, möchte man hinzufügen).
Der Punkt: das Schicksal, und mag es das erhabenste und/oder schwerste sein, und wer könnte das bei einem Dichter wirklich sagen, entscheidet sich nicht mit unserer physischen Geburt - insofern hat Schestow Recht. Andererseits bürgt ein zufälliges Ereignis, das uns widerfährt, keineswegs für einen Dichter oder einen dichterischen Anfang, möchte man Schestow entgegen halten. Der Schlag auf den Schädel, auch wenn man ihn jährlich wiederholt, und manche Menschen würden bei gewissen anderen Menschen schwerlich widerstehen können, wird in den seltensten Fällen zu dichterischen Zeilen führen. Wenn das dichterische Vermögen also weder angeboren ist, noch durch einen reinen Zufall entsteht, so verdankt es sich doch ebenso wenig - und das schwingt in dem "poetae nascuntur" intuitiv mit - unserem Wollen (oder eben einem zu erlernenden Können). Dies scheint mir eine Lehre für einen zu erhandelnden Anfang zu sein: er ist weder reine Aktivität, noch reine Passivität. Wir kommen als Sterbliche weder einfach aus der Welt hinaus (siehe oben), noch einfach erneuernd in sie hinein - es sind Spuren, die wir gewollt/ungewollt auflesen und fortschreiben und die zuweilen anders zu uns zurückkommen und einen anderen Anfang markieren, so wir aufmerken, manchmal verdichtet.
"Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben."
Hermann Hesse
30. August 2018
Der Mensch, ein Mangelwesen. Wir kommen biologisch gesehen zu früh auf die Welt und müssen die ersten Monate, Jahre mit fremder Hilfe über die Runden gebracht werden. Wenn wir dann auf eigenen Füßen stehen, hört der Mangel keineswegs auf. Das Leben, eine zu kurz geratene Bettdecke: wie man sie auch zurechtzupft, zu kurz bleibt zu kurz. Entweder mangelt es oben oder unten an Wärme. Irgendwas ist immer.
So profan der Befund, so groß die Hoffnung auf Besserung, einstmals. War es nicht das Versprechen der Moderne, den Mangel, unseren Mangel endlich aus der Welt zu schaffen. Während noch vor hundert Jahren (in Worten: vor hundert Jahren) das Auto, der Fernseher, der Kühlschrank und das Mobiltelefon - eine zufällige Auswahl - für das normal sterbliche Mangelwesen kaum zur Verfügung standen, oder aufgrund technischer Limitiertheiten noch nicht einmal imaginierbar waren, freuten sich die meisten Menschen wohl über ein Bett, ordentliche Kleidung, über ausreichende gute Nahrung, über eine medizinische Notfallversorgung – ebenfalls eine zufällige Auswahl. Letzteres mag für einige Teile der Welt immer noch gelten, aber in jener Welt, die man westlich nennt, hat der große Mangelaufheber, etwas zu pauschal Kapitalismus genannt, die Verhältnisse fast grundlegend bereinigt. Inzwischen werden Mangelzustände produktbezogen versorgt, von denen wir nicht einmal ahnten, dass es sie gibt. Mangel scheint also eine relative Sache zu sein. Strickt man fleißig an der Bettdecke, scheint der Körper im gleichen Maße mitzuwachsen.
Allein, dies ist nur die halbe Wahrheit, maximal. Denn schon früher hieß es: der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Spätestens wenn man nicht mehr weiß, wohin mit all den Produkten, die für unsere Mangelaufhebung konzipiert wurden (best practice: Mülltonne), merkt man, dass der Mangel längst an anderer Stelle an uns nagt, ja schon immer genagt hat. Inzwischen weiß das natürlich auch Kollege ‚Kapitalismus’ und versucht die Produkte identitätsstiftend und für Anerkennungszwecke passend zu vermarkten (Stichwort: branding etc). Der Mehrwert lag noch nie in der Materie beschlossen.
Aber diese Art von Kritik ist billig. Die Vorstellung unendlicher Energieströme, die, um kein Mangelgefühl aufkommen zu lassen, permanent warenförmig in die Wohlstandskollektive eingespeist werden, bricht sich am Unbehagen derer, die postmateriell die Produktsackgasse mit Turboantrieb schon längst erkannt haben. Nein, die aufgeklärten Menschen wissen (und die konservativen schon längst), dass der Mangel keineswegs nur Bedürfnisse erschafft, die mit dem passenden Produkt kurzerhand zu befriedigen wären.
Selbst von immateriellen Bedürfnissen zu sprechen geht am Kern der Sache vorbei, produziert doch unsere Körper-Geist-Maschine in Rückkopplung mit dem, was Gesellschaft zu nennen wir uns angewöhnt haben, nicht nur dynamisch und situativ immer neue Momente des Mangels, sondern zugleich solche, die uns nur selten in aller Klarheit zu Bewusstsein kommen. Vielleicht ist es auch hilfreich den Komplementär-Begriff, nämlich den des Begehrens ins Spiel zu bringen. Ohne Begehren kein Mangel, ohne Mangel kein Begehren. Der Mangel drängt, das Begehren zeigt und spricht.
Dies im Hinterkopf jetzt also zu der der Frage, wie wir mit unserm Mangel/Begehren umgehen können, so wir nicht weiter auf den alten Schlawiner Kapitalismus, wie es liebevoll in einem Lied heißt, setzen können oder wollen. Darüber, keine Übertreibung, wurde schon das ein oder andere Buch geschrieben. Die konservativen Antwort-Varianten mögen existieren, haben es jedoch nicht zu großer Popularität gebracht. Aus gegebenem Anlasse, Vortrag von Götz Kubitschek, gehalten am 15. 02. 2018 in Kopenhagen*, der Versuch einer Auseinandersetzung, wobei besagter Text die Frage nur implizit aufgreift.
Erster Punkt: entschiedene Ablehnung dessen, was die Optimierung und Vernutzung des Menschen vorantreiben will. Dagegen Bejahung der fundamentalen Freiheit und Verantwortung für das eigene Leben. Ein Ja zum Mangel, zur Last der Geschichte, zur Leidenschaft, zur Trauer, zum Zorn, zum Risiko. Also grundlegende Anerkennung des Mangels und des leidenschaftlichen Begehrens als Voraussetzung für ein Leben, das auch so genannt werden kann.
Schon im „Anschwellenden Bocksgesang“ von Botho Strauß, Kubitschek geht der Frage der Wirkungsmächtigkeit dieses Essays nach, hieß es, dass sich die Rechte keine künftige, heilsgeschichtlich gefärbte Utopie ausmale, sondern Wiederanschluss an die lange, unbewegte Zeit suche:
„Sie ist immer und existentiell eine Phantasie des Verlustes und nicht der (irdischen) Verheißung. Eine Phantasie also des Dichters, von Homer bis Hölderlin.“
(Botho Strauß: Anschwellender Bocksgesang; in: Der Spiegel vom 08.02.1993)
Das ist gesprochen gegen die durchaus ins Totalitäre kippende Idee eines Himmels auf Erden, gegen die phantasmatische irdische Verheißung, wobei die sorgfältig gesetzte Klammer um irdisch den vertikalen Bezug offen lässt. Das, was wir Menschen teilen, ist zunächst und zuerst der Mangel und der Verlust, nicht die Erfüllung. Daran zu erinnern, ewige Dichterpflicht, ist eine Mahnung an die menschliche Hybris und ein Wink an unser gemeinsames Band.
Und ja, in diesem Zusammenhang werden auch die durch die Gegenwartsfixierungen zum Schweigen gebrachten Primärtugenden eines seinsoffenen und -bewahrenden Lebens ins Spiel gebracht, die da lauten: Hinhorchen – Dankbarsein – Wiederherstellen. In anderen Kontexten von anderen Autoren heißt es, dass wir unsere Gespenster pflegen sollten, wollen wir eine Zukunft haben. Hier allerdings sind wir an einen kritischen Punkt angelangt, der in die Frage mündet, ob wir es mit einer rein reaktiven, quasi aufhaltenden Geste zu tun haben: Katechon? Auch Strauß bleibt im „Anschwellenden Bocksgesang“ was den - wenn man es so nennen will – konstruktiven Teil angeht - sicherlich nicht sein primäres Anliegen -, etwas vage. Zumindest gibt er den Hinweis, dass bei der fortgesetzten Erosion von Tradition und Autorität wir in der Not freischwebend werden:
„Aber in wessen Hand, in wessen Mund die Macht und das Sagen, die Schlimmeres von uns abwenden?"
Aber welche Not und welches „Schlimmeres“ ist schließlich gemeint? Handelt es sich um die am Horizont in neuer Gestalt aufziehende Hybris neuer Vervollkommnungsattacken, die durch das richtige Sagen aus der Tradition heraus abgewendet werden müssen. Abwegig ist diese Sorge keineswegs. Man denke nur an die gentechnischen Eingriffe ins Erbgut und an die kühnen bis abstrusen Visionen künstlicher Intelligenzen. „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“ und so sieht Götz Kubischek im November die Kreuzkirche in Dresden immerhin voll besetzt, wenn dort das Brahmsche Deutsche Requiem gegeben wird.
Jedoch, was ist der Punkt?. Mag Strauß noch einen poetisch gefärbten Text geschrieben haben, in dem es sich dichterisch sicherlich wohnen lässt, so gilt das für Götz Kubitschek, als einen politisch engagierten Schreiber und Verleger, und seinen Text nicht, mögen auch die poetisch-pathetischen Anteile hoch sein.
Das heißt, in Fragen des Politischen geht es nicht nur um die Abwehr imaginärer, letztendlich destruktiver Verheißungen (konservatives Moment), sondern auch um die Frage der Kreation, des Gestaltens und des Versprechens. Dabei ist ein politisches Versprechen keine ideologische Verheißung, auch wenn, ganz sophisticated, ein Teil des Versprechens die Abwehr der Verheißung umfassen kann. Denn schließlich besteht die in Anspruch genommene Freiheit nicht aus heiliger Mangelbewahrung oder aus reinem Schmerz, sondern auch daraus, auf das Begehren eine neue, gemeinsame Antwort zu finden.
Angefangen bei den Fragen der Mobilität, über die Energieversorgung, die Landwirtschaft, die Tierhaltung bis hin zur medizinischen Versorgung und der Arbeitswelt, um nur einige Stichworte zu nennen, sind andere Weltentwürfe denkbar. Nun erwartet niemand in einem Vortragstext ein ausgearbeitetes Thesenpapier zu politischen Fragen, die an anderer Stelle auch nur unzureichend beantwortet werden. Aber die Einbindung von Kreations- und Versprechensmomenten auf einer theoretischen/abstrakteren Ebene wäre möglich. Denn ansonsten entsteht der nicht unbegründete Verdacht, dass es sich lediglich um eine konservative Verhärtungsstrategie handelt, die das Begehren still stellt. Dann bekommen Schmerz und Verzicht einen Wert an sich, anstatt sie als unausweichliche Momente des Lebens zu sehen, mit denen man sich nolens volens auseinandersetzen muss.**
Eine Ethik angesichts des Mangels? Dem Begehren nicht nachgeben (im Sinne einer Verheißung), das Begehren nicht aufgeben (im Sinne der Konformität oder eines falsch verstandenen Konservatismus). Es ist offensichtlich, dass jedes Zeitalter seine eigenen Schauplätze schafft, auf denen das Begehren sich je spezifisch einzuschreiben sucht.***
Und um eine letzte - etwas forcierte - Schraubendrehung vorzunehmen. Wenn die Tradition weniger ein Hafen, denn eine vielfältige Quelle ist, aus der man immer wieder neu schöpfen kann und die mit jedem Schöpfungsvorgang sich mit anderen Quellen vermischt und neue Quellen entstehen lässt, wie sollte es dann reine Quellen geben? Und warum sollte eine reine Quelle wünschenswert sein? Sind die besten Momente unseres Lebens nicht produktive Mischungen?**** Dies dürfte gelten, solange man den Mangel, sein Begehren und das Begehren des Anderen ernst nimmt. Bezogen auf den politischen Raum und die politische, demokratische Nation, also bezogen auf den gemeinsamen Raum der politischen Freiheit, gibt es keinen „reinen“ Bürger, der durch Abstammung oder intensive Traditionsbewahrung besondere Rechte beanspruchen darf, was aber umkehrt nicht heißt, dass der Zugang zu diesen politischen Raum voraussetzungslos ist.
Für alle, die das Recht, Rechte zu haben - was nur innerhalb eines politischen Gemeinwesens, nicht in einer Weltbürgergemeinschaft möglich ist -, nicht qua Geburt geschenkt bekommen haben, gibt es formale Voraussetzungen für den Zugang, womit es scheinen könnte, als wäre mit der Erlangung dieses Rechts und der Anerkennung seiner Geltung die Inklusion vollständig. Damit aber eine politische Nation als Freiheits- und Konfliktraum existieren kann, müssen die Bürger, vermittelt durch welchen politischen Diskurs auch immer, ihre eigenen identitätsverknüpften Anliegen artikulieren können und wollen, sowie die Anliegen der Anderen verstehen und partiell akzeptieren können und bereit sein, sich darüber auseinanderzusetzen. Oft wird in diesem Zusammenhang von Zivilgesellschaft gesprochen, was die Sache nicht trifft. Eher: konflikthafter Austrag identitätsberührender Momente mit affektiver Aufladung - das ist weniger politische Romantik, denn demokratischer Glutkern. Kurzum, es gibt für den politischen Austrag, bei dessen Fehlen ein politischer Raum implodiert, anspruchsvolle Voraussetzungen, die insbesondere für Neubürger im ersten Schritt des Ankommens mehr oder minder schwer zu erfüllen sind, aber den Kern der Integration als politische Partizipation ausmachen.*****
Eigenartiger Weise spielt dieser Aspekt der Integration in der Zuwanderungsdebatte kaum eine Rolle. Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund können selbstverständlich eine Bereicherung sein, wenn sie bereit und fähig sind, das Gemeinwesen mitzutragen und mitzugestalten. Damit zusammenhängend ist es ebenfalls unbestreitbar, dass man den Zugang zu einem politischen Gemeinwesen nicht überdehnen darf, will man seine grundlegenden Prinzipien und Möglichkeiten nicht mittel- und langfristig zerstören. Dabei geht es weniger um die anfallenden Kosten oder darum, dass jemanden etwas weggenommen wird (richtig bleibt auch hier, dass man die Einnahmen nur einmal verteilen kann), sondern um die, wenn auch langsame Zerstörung eines Freiheits- und Konfliktraums, den man weder mit funktionalen Mitteln, noch mit moralischen Ressourcen eben mal wieder aufbauen kann, was für alle Seiten desaströse Auswirkungen haben dürfte.
Nun scheint es mir, dies die letzte Anmerkung, dass der rechte Diskurs die Ein- und Zuwanderungsdebatte zuweilen nicht im Namen der (bedrohten) Freiheit, sondern im Namen der kulturellen Identität und einer reinen Tradition führt. Warum das ein entscheidender Unterschied ist? Weil sonst die irdische Verheißung aufkommen könnte, dass das deutsche Volk am besten unter sich bleiben sollte, um so den Mangel doch aus unserer Welt zu eskamotieren oder zumindest am schönen Schmerz sich zu ergötzen. Um Ernst Jandl zu zitieren: „werch ein illtum“.
-------------------------------------------------------------------------------------------
* Gefunden auf Sezessions-de: Götz Kubitschek: Nachtgedanken (5): angeschwollener Bocksgesang; 23. Juli 2018; dort auch als PDF verfügbar
** Um zu sich selbst zu kommen, ist es zuweilen notwendig den Riss in sich zu spüren, vielleicht. Aber ob es zielführend ist, auf den Schmerz hinzuarbeiten, um im Land der letzten Dinge das Leben zu spüren, weil ansonsten am Lebensrand so gar nichts mehr gedeiht, ist doch fraglich.
*** Auch wenn die stiftenden Dichter das Selbe sagen, so sagen sie doch nicht das Gleiche. "Das Selbe lässt sich nur sagen, wenn der Unterschied gedacht ist." Martin Heidegger: „…dichterisch wohnet der Mensch.“, Vorträge und Aufsätze, GA 7, Frankfurt/M. 2000, S 197
Und noch eine kleine Anmerkung zu einer Art konformistischen Konservatismus, den ich Kubitschek nicht unterstellen möchte. Mentalitäten wie „weil wir das immer so gemacht haben“ oder, einer abstrakten Verzichtslogik folgend: „weil es nicht geht“ sind nicht immer eine gute Antwort. Das weiß jede lebendige Tradition, die zu ihrer Fortschreibung und Umschreibung anstiftet. Und: Die Antwort im Unterschied zur Reaktion lässt immer Spielraum, ist also keine Wiederholung. Um nochmals Botho Strauß und den „Anschwellenden Bocksgesang“ zu zitieren: „Das Genaue ist das Falsche. Es läßt den Hof, den Nimbus nicht zu. Unsere Lebenssphäre ist das Vage, das Ungefähre.“
**** Dies hat nichts mit einer toleranten Beliebigkeit zu tun, wie sie von einem bestimmten Liberalismus gelebt wird. Jede Mischung, die den Namen verdient, ist das Produkt einer - konflikthaften – Durcharbeitung. Daher auch der berechtigte Vorwurf an den Liberalismus, die in Anspruch genommenen Ressourcen nicht zu regenerieren bzw. nichts zu deren Regeneration beizutragen.
***** Sollte dieser Schritt nicht möglich sein, wäre vielleicht die Assimilationsforderung immerhin noch besser, als die gutmütige Billigung parallelgesellschaftlicher Lebensweisen. Das Unbehagen an den parallelen Lebenswelten besteht m.E. nicht darin, dass hier andere kulturelle Praktiken gepflegt werden. Das Problem taucht vielmehr an den Bruch- und Konfliktlinien auf, die durch diese Praktiken entstehen. Zum einen werden Überschreitungen rechtlich nicht konsequent geahndet und zum anderen werden diese Konflikte auch nicht politisch ausgetragen bzw. können nicht ausgetragen werden können. Was oftmals bleibt ist ein Vakuum, das sich, bis hin zu kriminellen Strukturen verselbständigt.
Enttäuschend ist in diesem Zusammenhang oftmals auch das Verhalten großer Teile der muslimischen Verbände und Gemeinden. Einerseits werden Rechte eingefordert, während andererseits kleine Zeichen der Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen politischen Artikulationsraum ungenutzt bleiben. So kamen zum Beispiel 2017 zur muslimischen Demonstration gegen den fundamental-islamistischen Terror kaum 2.000 Bürger. Die Chance, verunsicherten Mitbürgern zu verstehen zu geben, dass man ihre Befürchtungen und Ängste wahrnimmt und als Bürger mit muslimischen Wurzeln den Terror ebenso entschieden ablehnt, wurde vertan. Wer dazugehören möchte, muss sowohl hinhören als auch adressieren können. Ansonsten bleibt allein der Eindruck der Gleichgültigkeit.
26. Juli 2018
Einige Zeitschriften bieten Schachkolumnen, manchmal gepaart mit einer kleinen Schachaufgabe. Da ich als Jugendlicher Schach spielte, wenn auch auf einem sehr bescheidenen Niveau, versuche ich mich ab und zu an der Schachherausforderung, gleichwohl ahnend, dass hier die sogenannte Herausforderung für mich ein wirkliches Problem ist. Inzwischen weiß ich, dass ich die Aufgabe fast nie lösen kann, selbst wenn ich etwas mehr Zeit investiere. Auch strategische Flexibilität treibt die Erfolgsquote nicht nach oben. Meist fange ich damit an, die naheliegensten Züge durchzurechnen. Das ist natürlich insofern sinnlos, als dass es immer besonders schöne, d.h. ausgefallene und überraschende Kombinationen sind, die veröffentlicht werden. Die Veröffentlichungswürdigkeit besteht gerade aus dieser Unvorhersehbarkeit. Dies im Hinterkopf suche ich dann nach besonders abstrusen und auf den ersten Blick kontrakproduktiven Kombinationseinstiegen, die sich jedoch ins trostlose Niemandsland einer sich ankündigenden Niederlage verflüchtigen, statt in einen überraschenden und triumphalen Sieg zu münden. Dann sage ich mir, dass ich besser das Gesamtbild auf mich wirken lassen sollte, um Kräftelinien der einzelnen Figuren und ihr Beziehungsgefüge in mich aufzunehmen. Ganz intuitiv, so die Hoffnung, formt sich daraus ein Lösungsansatz, so wie die kontemplative Betrachtung von einem Zimmer und den dazugehörigen Möbeln auch zu einem guten Ergebnis hinsichtlich einer Raumgestaltung führen kann. Nicht jeder gute Raumgestalter ist jedoch ein guter Schachspieler, was unter anderem auch daran liegen dürfte, dass das Schachrätsel zumeist nur eine, und zwar die eine richtige Lösung kennt - da kann es keine zwei Meinungen geben. Kurzum, auch die gestaltspsychologisch inspirierte Herangehensweise führt bei mir nicht zum Erfolg. Hinzu kommen noch die aufmunternden Worte des Schachredakteurs, die aber, obgleich Hinweise auf den Lösungsweg zart andeutend, meist jede Hoffnung gründlich vernichten: ""Mit viel Inspiration finden vielleicht auch Sie die so wunderschöne wie schwere, die schwarze Dame erobernde Opferkombination." Mein persönliches Schach-Sprache-Übersetzungs-Programm sagt mir sogleich: versuche es erst gar nicht. Meist beruhige ich mich mit dem Gedanken, dass ich, wenn ich sehr viel Zeit im Schachuniversum verbringen würde, irgendwann fast mühelos in der Lage wäre, die richtigen Kombinationen zu finden, also damit, dass fehlendes Talent zumindest, wenn ich wollte, mit Arbeit und Übung auszugleichen wäre. Aber auch da bin ich mir nicht sicher; aber mit manchen Illusionen lebt es sich besser, solange sie sich nicht als Illusionen erweisen.
Was mich schließlich vollends zu einem staunenden Bewunderer der Schachwelt macht, ist nicht nur der Umstand, dass viele Schachspieler die Schachrätsel in relativ kurzer Zeit lösen können, sondern, dass der involvierte Schachspieler, also der eigentliche Erfinder des je einzigartigen Schachrätsels, insofern es sich nicht um eine Schachaufgabe handelt, die am Reißbrett entworfen wurde, sondern um eine, die aus einer realen und dokumentierten Spiel- und Turniersituation entnommen ist, die Lösung finden konnte, ohne zu wissen, dass es die Lösung gibt. Ein riesiger Unterschied ist es, eine Aufgabe zu bearbeiten, die fest umgrenzt ist und von der man weiß, dass es auf jeden Fall die eine Lösung geben muss. Oder ob man sich in einem, wenn auch strikt regelbasierten, offenen Feld bewegt, das bei jedem Zug neue Möglichkeiten und neue Konstellationen gebiert, von denen nicht klar ist, ob und welche finalen Gewinnmöglichkeiten in ihnen schlummern. Jede Spielsituation kann, so man Talent und vielleicht auch etwas Glück hat, ein außerordentliches Ereignis hervorbringen. Ereignis deshalb, weil (fast) nichts in der (Spiel)Konstellation auf diesen Ausgang hindeutete.
Und jetzt sage niemand, Schach habe nichts mit dem Leben zu tun, das sich, so betrachtet, keineswegs als ein normales erweist. Jeder Augenblick kann eine neue und schöne Kombination hervorbringen, die alles ändern wird, sofern man über das Talent verfügt, das Leben richtig zu spielen. Und der letzte Gedanke lautet, dass der Tod schließlich gewinnt (und dass Computer inzwischen die besseren Schachspieler sind, aber eben nicht Schach spielen).
22. Juni 2018