- Wir ergänzen die Verluste permanent und machen die Welt so vollständiger, als sie jemals war, ohne dass wir merken, dass die Welt nicht vollständig werden wird - das liegt nicht im Wesen der Welt.
- Zum Bleiberecht gibt es nun die theoretisch ausgearbeitete Bleibefreiheit; letzteres klingt ein bißchen nach Beinfreiheit, womit doch , Bewegung in die Sache kommt.
- Irritation morgens beim Blick auf die Zahnpasta - Sahnefleischzopf, nein Zahnfleischschutz.
- Aufkleber auf einem Auto vor mir: "Life begins at the end of your comfort zone" wie wahr, vielleicht auch eine Aufforderung dem Voraussfahrenden ins Heck zu fahren?
- Gestern: Bei der Frauen-WM im Fußball verliert die favorisierte deutsche Nationalmannschaft gegen Kolumbien. Um den deutschen Fußball ist es nicht gut bestellt. Ist der Fußball - zumindest bei den Fußballnationen - nicht immer auch ein Spiegel des Zustands der Nation. Und: nimmt die politische Klasse den Erfolg einer Mannschaft (Frauschaft?) nicht zum Anlass, um sich im Licht einer guten Leistung zu sonnen. Insofern passt es zur aktuellen Regierung, dass selbst auf dieser Ebene nichts zu gelingen scheint.
- Klimakrise läuft, Ukraine-Krieg hängt fest, Kapitalismus arbeitet im wohlbekannten Krisenmodus (in dem er sich wohl zu fühlen scheint). Neue Alltagstraurigkeiten.
31. Juli 2023
Der Frühlingszenit war schon überschritten, um genau zu sein, am 13. Mai 2023, verstarb die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff. Ich kenne von ihr nur den sehr lesenswerten "Blumenberg"-Roman. Den folgenden Satz habe ich mir markiert:
“Wir wissen, dass wir sterben müssen, aber wir glauben es nicht, weil wir es nicht denken können.”
Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg, Berlin: Suhrkamp, 2013, S 48
Am gleichen Tag starb ein Freund von mir, mein Alter, d.h. noch keine 60 Jahre alt. Zu früh, natürlich zu früh. Er lag seit einigen Wochen in einem Hospiz-Zimmer, halbseitig gelähmt, konnte nur noch einzelne Worte rausbringen. Seine Augen blickten aufmerksam, auch müde und doch freundlich; er war, so denke ich, mit sich im Reinen. Der Gehirn-Tumor wurde vor vier Jahren diagnostiziert. Die prognostizierte Lebenserwartung bei dieser Krebsart lag - und liegt wohl immer noch - statistisch gesehen bei fünf Jahren. Er nutzte die Zeit für einige große Radtouren, mit denen er die Grenzübergänge zu den Nachbarländern abfuhr. Ich begleitete ihn auf Teilstücken bei zwei dieser Touren, was großartig war, auch wenn die Melancholie des Abschieds mitfuhr. In einigen Alltagssituationen merkte ich, dass sich bei ihm Defizite bezüglich Organisation, Artikulation und Koordination bemerkbar machten, die bei der zweiten Tour im letzten Jahr noch viel deutlicher zu Tage traten. Auch wenn die Lebensuhr bei uns allen tickt, hier war sie in Bezug auf das Ende geräuschvoller. Trotzdem waren es gemeinsame schöne Tage.
Wenn ein lieber Mensch, ein lieber Freund stirbt, wird die Welt etwas ärmer. Die gemeinsamen Konzerte, die Gespräche über Arbeit, Gott und die Welt, die Musik- und die Büchertipps, gemeinsames Essen und Trinken - vorbei, vorbei. Es ist nicht so, dass man im Alter nicht neue Erfahrungen machen, neue Kontakte knüpfen kann; unbedingt sollte man das. Aber die Jahre einer Beziehung, auf welchem Niveau und in welcher Färbung auch immer, kann man nicht in Wochen oder Monaten nachholen. Ein Teil der der eigenen Welt stirbt mit. Man kramt in seinen Erinnerungen und stellt fest, wie einige emblematische Zeitstränge unser Leben und unsere Beziehungen strukturieren. Und wenn man jemanden wirklich gern gehabt hat, schwinden seine Schwächen zu liebenswerten Tics. Auch die vermisst man.
Jemand ist tot. Sibylle Lewitscharoff hat Recht: ich kann meinen zukünftigen Tod nicht glauben, weil ich ihn nicht denken kann. Das gilt zunächst auch in Bezug auf den Anderen: Nicht-Wahrhaben-Wollen. Anfänglicher Denk-Reflex: bei der Todesnachricht muss es sich um ein Versehen handeln, es gab eine erfolgreiche Therapie oder eine wundervolle Spontanheilung - der Freund wird sich bald melden: "Ist noch mal gut gegangen." Aber nein, soviel Vernunft hat die Restvernunft dann doch, um zu versichern, da kommt keine Nachricht. Inzwischen ist er beerdigt, was allen und auch mir dabei hilft, das Unabänderbare, jemand kommt nicht wieder, zu akzeptieren. Wie heißt es so abgeklärt: es handelt sich um einen Trauerprozess und dabei müssen einzelne Trauerphasen durchlaufen werden (Nicht-Wahrhaben-Wollen, Emotionen, Sich-Trennen, neuer Weltbezug). Der Sinn einer jeden "Regional-Ontologie": Beruhigung; kann man doch alles in den Griff bekommen, oder nicht? Und dann meldet sich der Tod an unerwarteten Stellen zurück.
Memento Mori - so heißt es seit Jahrhunderten, schon im antiken Rom (Laut Wikipedia gab es in Rom das Ritual, dass bei einem Triumphzug ein Sklave hinter dem siegreichen Feldherrn ging. Dieser hielt einen Lorbeerkranz über den Kopf des Siegreichen und mahnte: Memento mori - Bedenke, dass du sterben wirst). Also den Tod bedenken. Nur daraus folgt kaum oder selten ein 'neues' Leben. Viel gewonnen, so scheint mir, wäre durch ein bewußteres Leben, in dem man sich von den alltäglichen, nur allzu alltäglichen Stressmomenten nicht vollumfänglich vereinnahmen lässt. Innehalten und darüber erstaunen, wieviel man (in sich) ansammelt und anhäuft mit all seinen Ansprüchen. Weiter so, wirklich, wo zum Schluss alles unseren Händen entgleitet? Mag es so gelingen, aus dem Tod noch so etwas wie einen Nutzen zu ziehen? Aber vielleicht bleibt der Tod einfach eine große Leerstelle, die nie endgültig zu besetzen ist, bis er für uns persönlich das letzte Kapitel aufschlägt.
Die letzten zusammenhängenden Worte, die mein Freund mir zum Abschied mehr zuflüsterte, als dass er sie mir sagte, waren:
"Ich halte die Stellung."
Eine Formel, die signalisiert, dass man sich für den und die anderen noch nicht aufgeben hat (und wie nicht in Zeiten des Krieges auch an jene zu denken, die in Schützengräben buchstäblich die Stellung halten müssen). Vielleicht war es auch anders gemeint. Das folgende Zitat ist vielleicht auch eines über unsere Stellung angesichts unseres Endes:
“Zu den Figuren unseres Schicksals zählt auch jene, die als der Verlorene Posten bezeichnet wird, und niemand weiß, ob gerade dieses Schicksal sich nicht eines Tages auch an ihm vollstreckt.”
Ernst Jünger: Capriccios; Stuttgart 1995 (1938); S. 28
Mein Freund war ein gläubiger Mensch. Er stand nicht auf verlorenem Posten.
30.06.2023
“Wenn man etwas verloren hat und es ein gefährlicher Verlust ist, dann weist man zurück, dass man mit der verlorenen Sache etwas von sich selbst verloren hat.”
Hélène Cixous: Die unendliche Zirkulation des Begehrens; Berlin 1977; S. 43
Dieser Satz scheint, so man ihn auf auf Fußballangelegenheiten beziehen will, etwas groß, etwas übertrieben zu sein. Und überhaupt stellt sich die Frage, was ein gefährlicher Verlust sein soll. Sind damit äußere Gegenbenheiten gemeint? Kann man nicht auch ein Gefühl verlieren? Und was heißt verloren und Verlust? Bezieht es sich lediglich darauf, dass etwas abhanden gekommen ist, so wie man ein Kette verloren hat, oder darauf, dass etwas vernichtet wurde oder gestorben ist? Und was ist das Gefährliche an einem Verlust? Offenbar kann es nicht darum gehen, dass auf einer biologischen, oder sollte man besser sagen, auf einer rein biolgischen Ebene etwas verloren wurde, was das eigene Fortleben in Frage stellen könnte. Denn ganz konsequent zu Ende gedacht, führt ein solcher Verlust entweder zum Tod, so man zum Beispiel den Kopf verliert, oder er ist auf biologischer Ebene nicht - mehr - gefährlich. Was also ist ein gefährlicher Verlust? Antwort: das Gefährliche an einem Verlust ist der Umstand, dass er unsere Identität in Frage stellt, dass er unsere Vorstellung von dem, was und wie ich bin, was und wie wir sind - und zwischen dem Ich und Wir laufen verwickelte Fäden -, unterminiert.*
Also muss man die Denkfigur etwas drehen: das Gefährliche an einem Verlust ist nicht der Verlust an sich, sondern der Umstand, dass er unsere Identität tangiert und wir darauf nicht antworten, wir uns also nicht ändern. Ist es nicht das, was in dem obigen Zitat von Hélène Cixous gesagt wird: "(...) dann weist man zurück, dass man mit der verlorenen Sache etwas von sich selbst verloren hat." Man kann nicht etwas von sich selbst verlieren und sich gleich bleiben, oder?
Offensichtlich sind davon auch alle Formen der Identifikationen betroffen, wie sie zum Beispiel beim Fußballfan aufs Schönste anzutreffen sind. Nun identifiziert sich der Fußballfan nur partiell mit der Fußballkultur, im Unterschied zum Opernfan, der sich vollumfänglich mit der Oper und nicht nur mit dem einem Komponisten 'identifiziert'. Der eigentliche Fußballfan ist primär mit einem Verein oder mit einer Nationalmannschaft verbunden. Denn im Unterschied zur Oper ist Fußball ein Wettkampfsport, in dem es (auch) um das Gewinnen und Verlieren geht, was folgerichtig dazu führt, dass man für und gegen etwas 'ist'. Mit etwas Küchenpsychologie kann man zu dem Schluss kommen, dass es gerade diese einfache Struktur von Gewinnen (Lust) und Verlieren (Unlust) ist, die zur Identifikation einläd. Daraus ergibt sich jedoch die Frage: warum sollte man sich mit etwas identifizieren, das immer wieder auch Unlust bereiten kann (denn bekanntlich gewinnt kein Verein immer).
Und schon sind wir bei der guten, alten Dialektik, diesmal von Leid und Freud. Denn je höher der Einsatz, umso höher die Gewinne und Verluste, desto schöner die Siege, desto trauriger die Niederlagen. Die Maßeinheit für ein Fußballspiel heißt in diesem Fall Spannung. Je weniger ich an Identifikation investiere, desto geringer die Spannung, desto geringer Freud und Leid. Eine Emotionssicherungslogik katapultiert den Zuschauer fast vollständig aus dem Bedeutungshorizont eines Fußballspiels, wenn man nicht die 'reine' Ästhetik des Spiels goutieren kann, was wiederum eine immense Kennerschaft voraussetzt. Insofern ist Fußball tatsächlich Teil der Kultur, da Fußball, mal mehr, mal weniger, auch Ambivalenzbewältigung ist (the higher they fly the deeper they fall und umgekehrt). Nun gibt es neben der ästhetischen noch eine weitere Ebene, die die ungeschützte Emotion einhegen kann: man macht die Treue zu einem Verein unabhängig von seinen Erfolgen zum eigentlichen Kristallisationspunkt der Identifikation. Und was ist nun der Mehrwert der Treue, die Lust an der Treue? Teil von etwas zu sein, das als 'Schicksalsgemeinschaft' en miniature funktioniert. Zugehörigkeit meint wiederum Kontingenzbewältigung, meint Solidarität und Hoffnung, selbst in 'schweren Stunden'. Eine Niederlage, und wäre sie auch noch so gravierend - zum Beispiel indem eine Mannschaft am letzten Spieltag in einem Heimspiel bei einem mittelmäßigen Gegner die Meisterschaft verspielt -, wäre nur ein weiterer Prüfstein für die eigene Loyalität. Es wäre sonst kaum zu verstehen, warum wenig erfolgreiche Vereine überhaupt eine Fankultur entwickeln können, wobei man einschränkend sagen muss, das zum einen natürlich die jeweiligen Voraussetzungen und Möglichkeiten eines Vereins mit ins Kalkül gezogen werden müssen (Erfolg im Rahmen des Möglichen) und zum anderen die meisten Fans eben bei dem höchstklassigen Verein der Heimatstadt 'hängen' bleiben (Tugend: Akzeptanz der Geworfenheit).
Ein einzelnes Fußballspiel wird also für einen wahren Fußballfan nicht zu einem 'gefährlichen Verlust' führen können. Jeder Fan weiß, dass Fortuna in dem entscheidenden Spiel ihre Gunst auch leistungsunabhängig zuteilen kann. Die eigentliche Währung der Treue ist die Identifikation derer, die für den Verein spielen und den Verein führen. Der Feind der Treue ist umgekehrt die Kommerzialisierung, die aus Spielern gewinnorientierte Sportler und aus Vereinen Wirtschaftsunternehmen macht. Dieser Schritt wurde schön längst vollzogen, was zur Folge hat, dass es sich nicht mehr um einen rein sportlichen Wettkampf handelt, da einige Vereine Dank ihrer finanziellen Möglichkeiten den Erfolg - zugegeben: mal besser, mal schlechter - herbeiorganisieren können. Was der Fan eines solchen Vereins an 'Treuemöglichkeiten' verliert, wird ihm auf der anderen Seite als 'Gewinnversprechen' zurückgegeben. Daher fühlen sich solche Fans mehr als Kunden, was wiederum dazu führt, dass sie bei einem schlechten Spiel die Spieler nicht unterstützen und frühzeitig das Stadion verlassen.
Das Eingangszitat könnte also auch heißen, dass mit der Kommerzialisierung ein gefährlicher Verlust einhergeht, den 'Kunden' dieser Entwicklung nicht wahrhaben wollen. Sie sehen nicht, dass mit der verlorenen Sache sie etwas von sich selbst verloren haben. Aber die Klage über die Kommerzialisierung ist so alt wie diese selbst. Die Entwicklung ist auch keineswegs überraschend und die kapitalförmige Durchdringung vieler Lebensbereiche vollzieht sich seit Jahrzehnten. Jede Fan-Treue zu einem Profiverein ist daher immer eine eingetrübte vor dem Hintergrund einer warenförmig organisierten 'Identitätsstiftung' ('Echte Liebe', wirklich?). Es kommt auch nicht von ungefähr, dass neben der Kundenmentalität sich auch eine Eventkultur in den Stadien etabliert hat, die die Stimmung an sich genießen möchte, fast unabhängig vom Spielanlass. Kulturpessimismus geht immer. Nichtsdestotrotz gibt es eine vitale Fußballkultur, die sich der Kommerzialisierung zu widersetzen versucht. Aber eine heile Welt gab es auch im Fußballuniversum nie. Das was man sucht, war und ist schon verloren. Eine bedingungslose Treue kann auch eine Immunisierungsstrategie sein, die es sich erspart, auf neue Gegebenheiten neue Antworten zu finden. Auf jeden Fall ist eine in sich gebrochene Treue 'ehrlicher' und die in mehrfacher Hinsicht sinnlose Fassungslosigkeit angesichts einer großen Niederlage 'besser', als die nüchterne Mutation zum Kunden oder zum Fußballkenner. Alternativ kann man auch den Tipp des Liedermachers Funny van Dannen beherzigen:
"Sie vermissen die großen Gefühle, das kann ich gut verstehn
Auch Sie sollten mal wieder in die Oper gehn..."
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*So gesehen ist ein gefährlicher Verlust nicht nur Innen und/oder nicht nur Außen, sondern betrifft die Schwelle, die diese beiden Zonen voneinander trennt und zugleich verbindet. Aber: wenn ich einen Schlaganfall erleide, verliere ich unter Umständen basale Fähigkeiten, wie zum Beispiel mein Sprachvermögen. Kann man zurückweisen, dass man mit diesem Verlust etwas von sich selbst verloren hat? Wohl kaum. Man könnte erwidern, dass es im eigentlichen Sinne kein gefährlicher Verlust ist, weil sich die Frage der Zurückweisung gar nicht stellt. Der Verlust ist so tiefgreifend, dass ich gezwungen bin die Innen-Außen-Beziehungen neu zu ordnen. An dieser Stelle, schwacher Trost, sei darauf hingewiesen, dass jeder Verlust auch neue Möglichkeiten entstehen lässt, wenn auch auf einer ganzen anderen 'Ebene'. Ein wirklicher Verlust erschüttert die Vorstellung unserer Souveränität, so dass ich 'geöffnet' werde, was immer daraus folgen kann.
29. Mai 2023
Schreiben ist bestimmt eine bedeutungsvolle Angelegenheit, vielleicht:
"Von allen Wahngebilden, denen ich anhing, scheint mir dieses das kompromittierendste und unbegreiflichste."
E. M. Cioran: Vom Nachteil geboren zu sein; Frankfurt/M. 1979 (1973), S. 159
Jeder Buchstabe, jeder Satz ein Spiegelbild der Seele und diese, gleich Narziss, blind und blöd verliebt - wie das nicht durchschauen und trotzdem schreiben?
09. April 2023
Eigenartige Fügung, dass mir "Das Wüste Land" von T.S. Eliot in die Hände fällt und dazu Zeilen, die nur zu wenigen Geburtstagen passen, wenn überhaupt:
"April ist der grausamste Monat, er treibt
Flieder aus toter Erde, er mischt
Erinnern und Begehren, er weckt
Dumpfe Wurzeln mit Lenzregen."
T.S. Eliot: Das Wüste Land; Leipzig 1990 (1923); S. 7
Aber für einen Denker, der zumeist - wie obiger Dichter auch - seine Vornamen mit zwei Buchstaben abzudecken pflegt, E.M., scheint diese Monatsklage durchaus passend. Denn auch er war der Meinung, dass der Anfang, der Frühling usw. weder Verheißung noch Versprechen ist, sondern der Beginn einer Bürde, die man ungefragt zu schultern hat - das Leben. Die Rede ist von E.M. Cioran, der heute 112 Jahre alt geworden wäre (er starb 1995). Geboren wurde er in Rasinari bei Hermannstadt in Siebenbürgen, Sohn eines griechisch-orthodoxen Priesters. Statt Transzendenzgaben hat ihm sein Vater aber wohl einen Entzauberungszauber mit auf den Weg gegeben, der dazu führte, dass er das Leben nicht nur als eine große Illusionsmaschine sah, sondern sich in den dumpfen Schmerz des Seins hineindachte und hineinfühlte - oder besser: in den Schmerz hineingedacht und hineingefühlt wurde. In seiner "Notiz über Cioran" weist Peter Sloterdijk darauf hin, dass diese Art von Denken sich dem metaphysischen Schlafprivileg verweigert, also keine Phasen der Ruhe, der Beruhigung und der Erholung für sich in Anspruch nehmen kann, was auch zur Folge hat, sich von den Siegesbegriffen der Moderne wie Autonomie und Souveränität - partiell - zu verabschieden:
"Der Schlaflose weiß, im Unterschied zum Kritischen, dass er nicht der Herr seiner Prämissen ist."
Peter Sloterdijk: Der selbstlose Revanchist. Notiz über Cioran. In: Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger; Frankfurt/M. 2001; S. 390
Auch weil Cioran das Unglück der Existenz nie einholen wollte, entwickelt die Radikalität, mit der er allen Verklebungen versöhnlicher Ansprüche begegnete, doch einen Trost der Trostlosigkeit und stiftet Solidarität unter Menschen (eher Männer; in diesem Zusammenhang ein verschlungenes Thema für sich: phallisch anti-phallisch), die mit wütender Verzweiflung und umfassender Resignation begabt sind (also ein Denker für gewisse Stimmungen; ). Es gibt zwei kleine, dünne Suhrkamp Taschenbuch-Aphorismen-Bändchen, die schon sehr lange in meinem Besitz sind: das eine gelb mit rot-oranger Schrift auf dem Einband, "Die verfehlte Schöpfung", ursprünglich von 1969, das andere mit rotem Einband und gelb-orangener Schrift, "Vom Nachteil, geboren zu sein" von 1973. Zwei treue Begleiter, die ganz fröhlich dreinblicken und bei denen ich mich immer gefragt habe, ob die Gestaltung den Inhalt für einen unbedarften Käufer zunächst verdecken sollte oder ob hier ein wissender Humor im Spiel ist, der die kognitive Dissonanz, hier entstehend aus der Differenz von Sein und Schein, bestens in Szene setzt. Wie dem auch sei, lassen wir uns an seinem Geburtstag durch E.M. Cioran selbst beschenken.
"Ganz ohne Ziel leben! Ich habe diesen Zustand aufblinken gesehen und ihn oft erreicht, ohne fähig zu sein, darin zu verweilen: ich bin zu schwach für ein derartiges Glück."
E. M. Cioran: Die verfehlte Schöpfung; Frankfurt/M. 1981 (1969), S. 64
"Wenn man sich selber gut kennt und sich doch nicht gänzlich verachtet, so deshalb, weil man zu müde ist, um sich extremen Gefühlen hinzugeben."
E. M. Cioran: Vom Nachteil geboren zu sein; Frankfurt/M. 1979 (1973), S. 159
8. April 2023
"Ich hatte 'nen Traum - 's geht über Menschenwitz, zu sagen, was es für ein Traum war. Der Mensch ist nur ein Esel, wenn er sich einfallen läßt, diesen Traum auszulegen. (…) mir von diesem Traum eine Ballade zu schreiben; sie soll Zettels Traum heißen, weil sie so seltsam angezettelt ist (…).”
Shakespeare, William: Shakespeares dramatische Werke. Bd. 5: Ein Sommernachtstraum. Diogenes Taschenbuch 20635. Zürich: Diogenes, 2005, S. 55
Draußen probt der April schon im März, als ob der jahreszeitliche Übergang der Kälte zur Wärme parallel durch den tagesinternen Wechsel von Sonne und Regen begleitet werden müsste. Besser man bleibt zu Hause und freut sich an einem warmen und trockenen Zimmer. Doch so wie im Frühling vieles in loser Abfolge durcheinander geht, so breitet sich auf dem Schreibtisch ein wildes Durcheinander von Ideensplitter aus, schnell notiert auf größeren und kleineren gelben Haftzetteln, über- und nebeneinander geklebt, von der Alltagbeobachtung bis zur Theorie-Idee. Jeder Zettel im Ursprung, der Begriff zu groß für den schnellen Einfall, ein scheinbarer denkerischer Blitz, dessen Ausarbeitung, so die Hoffnung, ein schönes Licht in die angedachte Sache bringen wird. Später stelle ich fest, dass ich meine Schrift oftmals nicht mehr, zumindest nicht vollständig lesen kann, der Sinn der Notiz rätselhaft bleibt. Letzteres passiert auch, wenn die Entzifferung gelingt und sich der einstmalige 'Blitz' im Licht der späteren, nüchternen Durchsicht als trivial erweist, der Inspirationsanschluss sich nicht einstellen will. Oder: der Gedanke hat zwar offensichtlich (s)eine Berechtigung - gibt es dafür Passierscheine? -, entwickelt aber nicht den Schub für eine größere Ausarbeitung. Die erwartbare Mühe zu groß, um eventuell aus einem Stückwerk ein anderes Stückwerk zu machen. Also einfach entsorgen? Hier die Idee, die auf einem weiteren Zettel steht: die 'Zettel' als Fragmente zueinanderstellen, in der Hoffnung, dass sie sich vertragen.
- Der Krieg ist keineswegs der Vater aller Dinge
- Ideologie: die innere Verhärtung als Opfer gegen sich selbst feiern
- Golgatha, Ort des Schädels / Golum, Ringbegehrer
- Das Gegenteil von Erlösung ist nicht Verdammung, sondern das Aushalten von Ungewissheit
- Aufgeschnappt: der Sturz von Gott ins ich
- Das Wunder des Christentums: vielleicht der Umstand, dass eine liebende, nachgebende und schwache Glaubensform sich erfolgreich ausbreiten konnte
- Schwere Worte
- Gott ist nicht Tod, er ist nur nicht mehr da
- Der Schlaf ist der Gott des Vergessens
- Trauerkarte: das Runde muss ins Eckige
- Begriffe der Zeit: Vereinzelungsanlagen (Drehkreuze etc.)
- Hoffnung: rückausgerottet
- Für Wankelmütige: Trudelturm
- Neue Berufe: Lebensmittelverderbnisbeobachter (wochenlang vor dem Joghurt am Schreibtisch sitzen)
- Neue Sportarten (mit Chance auf den Weltmeistertitel): Gummiband-Büroklammer-Schleuderung
- Aus einer Krimi-Serie: Es gibt zwei Wölfe die miteinander in uns kämpfen - der Wolf aus Neid, Missgunst und Hass und der Wolf der Liebe, des Glaubens, der Hoffnung. Gewinnen wird der, den wir besser füttern
- Pinocchio-Film: Mein Vater sagte stets, bleib optimistisch, dann wir das Leben stets leichter
- Das Argument gegen Verschwörungstheoretiker: als ob es einen zentralen Punkt in der Gesellschaft geben könnte (oder, ganz empirisch: in der Firma, in der Familie, im Verein - egal auf welcher Organisationsebene), von dem man die Welt zielgenau zum Besseren oder Schlechteren steuern könnte
- Carpe diem: es gibt keine Lebensweisheit, die man nicht widerlegen könnte
- Die Begeisterung für einen Weisheiten-Redner entstammt seiner eigenen Autosuggestion, wobei die Weisheiten sich nicht allzu weit von den gemeinen Plattitüden entfernen dürfen, damit er auch für sich selbst noch überschwenglich überzeugend wirken kann
- Die 'negativen' Tarot-Karten sind ästhetisch besser
- Privileg der Jugend: der Glaube, dass das 'Eigentliche' noch kommt
- Älterwerden ist auch ein Vergleichszugewinn, der mit dem Wegfall noch verbleibender Lebenstage bezahlt wird: ist der März noch so wie früher?
29. März 2023