Abenddämmerung hat sich über die Stadt gesenkt, Dunkelheit kommt; Lichtspuren fahrender Autos, Ampelrhythmen, Geräusche der Beschleunigung, Lärm der Sirenen, Dringlichkeit anmahnend. Stunden werden vergehen, bevor das Dunkel die Strassen beruhigt und eine halbe Stille einkehrt. Vor mir ein Glas Wein, das Butterbrot schon gegessen, zuvor. Noch einmal Rosa und die Frage nach der Resonanz. Und darüber hinaus auch die Frage nach der Schwelle.
Rosa will die Idee der Beziehung radikalisiert wissen (Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung; Berlin 2019 (2016), S. 62). Subjekt (sollte man in Klammern einfügen: Leib und Geist?) und Welt sind keine Entitäten, sondern werden erst durch eine wechselseitige Bezogenheit konstituiert. Schaut sich man die Art dieser Bezogenheit von Welt – Leib –Geist (oder Gehirn?) genauer an, so Rosa weiter, kann man nicht von einer Repräsentation oder Kausalität sprechen, die von der einen in die andere Richtung oder umgekehrt läuft (ebd. S. 246; siehe auch: Der Sprung in die Weltverhältnisse - Teil I und die Frage nach der „empirisch-transzendentalen Dublette“ / http://www.schwingungsbreite.de/index.php?archive=201907 ). Stattdessen entsteht unser Zugang zur Welt und zu unserem Leib und zu unserem Denken als Beziehungswesen aus Antwort- und Rückkopplungsverhältnissen und dies von Anfang an, so könnte man mit Rosa sagen und diesen Aspekt weiter fort führen. So ist auch unsere Subjektwerdung davon betroffen. Wir sind keineswegs der selbstbewusste Akteur unseres Werdens vom Säugling zum sich selbst identifizierenden Kleinkind, sondern Zuschauer einer ‚Entwicklung’, die unbedingt von äußeren Umständen abhängig ist. Das ist einerseits insofern trivial, als dass ein Säugling ohne Hilfe nicht lange überleben würde. Andererseits sichert diese Hilfe aber nicht nur das physische Überleben, sondern trägt überhaupt dazu bei, dass sich unser psychischer Apparat entwickeln kann.*
Wenn wir uns als souveräne Subjekte imaginieren, verkennen wir nicht nur unsere radikale Abhängigkeit von einer ‚sorgenden Umwelt’, die uns nicht nur versorgt hat, sondern die uns in und mit einer Beziehungsstruktur überhaupt erst ein Selbstverhältnis ermöglicht hat (insofern hat Subjekt hier die ursprünglichere Bedeutung von lateinisch subiectum ‚das Daruntergeworfene‘). All dies ist mehr oder minder explizit auch Teil der von Hartmut Rosa vertretenen Resonanzpriorität. Interessant ist nun die Rolle, die dieses Verkennungsmoment im weiteren Verlauf der Resonanztheorie spielt. Denn man könnte ja, so das Subjekt erstmal „ausgehärtet“ ist (einige Theorien nennen das Entwicklung), auf die Idee verfallen, dass das Subjekt der Welt selbstbewusst und ausgereift gegenüber stehen kann.
Obwohl Rosa diese Position nicht ganz zu Eigen macht, schwankt er jedoch bezüglich der Bedeutung des Verkennungs- bzw. des Öffnungsmoments, was auch für den weiteren Fortgang seiner Untersuchung von Bedeutung ist. Exemplarisch sei hier kurz auf das Kapitel IV – 1, Angst und Begehren als elementare Formen der Weltbeziehung (ebd. S. 187 ff.), eingegangen. Er rekurriert dabei unter anderem auf Fritz Riemann und seinem Klassiker „Grundformen der Angst“ (München 1961). Bei Riemann, so Rosa, werden auf den beiden Achsen „Bindung“ und „Ordnung“ die Qualität der Weltbeziehung bestimmt (ebd. S. 192). Die Subjekte würden sowohl hinsichtlich der Achse der Ordnung, als auch bezüglich der Achse der Bindung Ängste entwickeln (können), wenn ein Zuviel oder Zuwenig im Spiel ist. Ist ein Zuviel an Bindung im Spiel, droht Selbstverlust (schizoide Persönlichkeit), während Bindungslosigkeit zur Vereinsamung führt (depressiver Typ). Ist hingegen eine Ordnung zu starr, findet eine einengende Überregulierung statt (hysterische Persönlichkeit), während zuwenig Halt zum Chaos führt (zwanghafter Charakter). Für Rosa präsentieren diese vier Formen misslingende Weltbeziehungen, was zunächst auch nachvollziehbar ist. Hingegen wäre der angstfreie und ausgeglichene Schnittpunkt der beiden Achsen eine Form der intakten Weltbeziehung (ebd. S. 193).
Wenn Angst also ein Zeichen dafür sein soll, dass etwas mit unserer Weltbeziehung nicht stimmt, heißt das dann, dass ein angstfreies in-der-Welt-sein auf eine intakte Weltbeziehung hindeutet? Oder wäre es nicht ebenso legitim zu sagen, dass die vier Defizitär-Typen nicht Resultate der Angst darstellen, sondern aus ‚falschen’ Antworten auf die Angst resultieren. Oder sollte es grundsätzlich so sein, dass aus der Angst keine resonanzfähigen Antworten gegeben, keine Resonanzen aufgebaut werden können? Wenn umgekehrt in einer intakten Weltbeziehung die Resonanz schon immer ‚da‘ wäre, d.h. die Beziehung nach Rosa nicht zu starr und auch nicht zu chaotisch ist, wie können sich dann Beziehungsformen ändern?
Kurzum, müsste man nicht in aller Konsequenz von den Menschen als „geöffnete Wesen“ sprechen, durch die ein Riss geht, deren Oberfläche nicht nur in mehrfacher Hinsicht durchlässig und durchbrochen ist, sondern in die die Seinsunabgeschlossenheit konstitutiv ins Innerste miteingeschrieben ist. In dieser Hinsicht wäre zum Beispiel die Angst nicht ein Ausdruck eines defizitären Lebens, sondern ein unhintergehbares Zeichen unserer Existenz (diese „Idee“ ist keineswegs neu, siehe: Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1986 (1927)).
Ähnlich verhält es sich mit dem, in dem obigen Kapitel des Rosa-Buches ebenfalls angeführten Komplementärbegriff zur Angst, mit dem Begehren. Nicht nur wäre darauf hinzuweisen, dass auch das Begehren, ebensowenig wie die Angst, einfach durch den Willen zu steuern ist und / oder auf den Willen verweist (deshalb führt die Erfüllung des Habens-Wollens auf Dauer selten zu einem stabil glücklichen Zustand). Das Begehren ist nicht nur „da“, unabhängig von unserem Willen, sondern es verschiebt sich, schiebt sich auf, maskiert sich und operiert hinter unserem Rücken, sozusagen in und auf den abschüssigen Ebenen unseres Seins. Gerade die Unverfügbarkeit des Begehrens (und auch der Angst) sind paradoxer Weise zugleich die Bedingung der Möglichkeit unserer eigenen Freiheit, die Bedingung der Möglichkeit für die Freiheit unseres Selbstbezugs. Denn – entgegen der scheinbar intuitiven Annahmen – dass wir erst dann wirklich bei uns sind, wenn wir so denken und handeln wie es unserem Selbstverständnis und unseren Idealvorstellungen entspricht (das gute Leben wäre von der richtigen Entwicklung eines ursprünglichen Ich-Kerns abhängig, wäre also nur die praktische Umsetzung einer präexistenten Vorgabe), ist es gerade die strukturelle Uneinholbarkeit des Begehrens, die uns den Freiheitsspielraum überhaupt erst ermöglicht.
Unser „wahres Ich“ ähnelt eher einer revoltierenden Instanz, von der „Ich“ (also mein reflektierendes Ich) im besten Fall erst im Nachhinein weiß, wohin „es“ mich geführt bzw. revoltiert hat. Daher auch das von dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan in diesem Zusammenhang so gern verwendete Futur II: ich werde gewesen sein. Weiterhin nimmt es kein Wunder, dass Lacan gerne und in immer neuen Wendungen auf die Dezentrierung dieses Ichs verwiesen hat:
„Ich bin nicht, dort wo ich das Spielzeug meines Denkens bin, ich denke an das, was ich bin, (nur) dort, wo ich nicht denke, dass ich denke.“
Jacques Lacan: Schriften II, S. 43; zitiert in: Samuel Weber: Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse; Wien 1990 (Passagen Verlag), S. 115
Wenn also unser „unbewußtes“ und „wahres“ Ich als halbanonyme Instanz mit revoltierender Kreativität neue Wege in die Freiheit bahnt, so wäre der Begriff der Entfremdung zumindest ein sehr fragwürdiger. Ich bin entfremdet, wenn ich aufhöre zu werden – oder etwas antimetaphysischer: wenn ich aufhöre mich zu ereignen (damit im Zusammenhang: wir sind am sozialkonformsten dort, wo wir uns glauben verwirklicht zu haben). Ich bin dort entfremdet, wo ich allzu sicher bei mir bin. Umgekehrt wäre Freiheit die sich ereignende Differenz. Das körperliches Symptom - beispielsweise - ein Zeichen für die ausbleibende Einschreibung in den sozialen und politischen Körper. Weites Feld.**
Als geöffnete und sterbliche Wesen wohnt also ein abgründiger Überschuss von Freiheit in uns, der zuweilen im Namen der Stabilität und Stabilisierung an unscheinbare Ränder gedrängt wird und weiter vor sich hin schwelt. Zuweilen aber auch mit Kreativität und Witz sich handelnd in die Welt schlägt. Rosa schreibt nun:
„An der Wurzel der Resonanzerfahrung liegt der Schrei der Nichtversöhnten und der Schmerz des Entfremdeten. Sie hat ihre Mitte nicht im Leugnen oder Verdrängen des Widerstehenden, sondern in der momenthaften, nur erahnten Gewissheit eines aufhebenden >Dennoch<.“
(Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung; Berlin 2019 (2016), S. 322; Kursiv im Original)
Auch wenn die Differenz nur unscheinbar und marginal erscheinen mag und Rosa die folgende Interpretation nicht ganz gelten lassen würde, so zeigt sich doch in diesem Satz letztendlich eine hegelsche Denkfigur, die weniger in ein Substanz-, denn in ein Prozessdenken mündet. Das Subjekt „ist“ (mit seiner Resonanzerfahrung) zwar auch hier die „Differenz“ zu den Verhältnissen, entwirft sich aber nicht auf etwas Neues hin (was natürlich auch heißt, dass man in Freiheit scheitern kann), sondern erfährt sich als entfremdet. Während das „dezentrierte Subjekt“ in der (Wurzel der) Resonanz die Möglichkeit eines anderen Seins, die Pluralität anderer Ausgänge erfahren könnte, ahnt das Rosa-Subjekt die „Gewissheit eines aufhebenden >Dennoch<“. Und „Aufhebung“ heißt bekanntlich, so man hier einer hegelschen Lesart folgt, wozu Rosa allen Anlass gibt, die Subsumierung des geschichtlichen Seins als Baustein zu einem sich – durch die Negativität - vervollkommnenden Prozess. Die Freude und / oder der Schmerz liegt nicht im Handeln selbst, in der Freiheit des Handelns mit all seinen Unwägbarkeiten, sondern in der Gewissheit, dass vom Ende her gesehen sich noch etwas „aufheben“ lässt. Kurzum, in guter schwarzer Tradition der Dialektik der Aufklärung wird die Wurzel allen Seins mit Schrei und Schmerz amalgiert, um so den dialektischen Prozess zumindest mit einem moralischen Mehrwert auszustatten (wer leidet büßt).
Die Frage also: werden hier nicht jene Zugänge verschlossen, die mit dem Begriff der Resonanz als Anti-Überschreitungs-, Anti-Substanz- und Anti-Prozess-Begriff erfahrbar gemacht werden sollten? Resonant sprechen, wie?
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* So weist Joachim Bauer in seinem Buch „Das Gedächtnis des Körpers“ darauf hin, dass die Erzeugung von Vorstellungen erst durch die Verbindung von Nervenzellen geschehen kann, wobei die Nervenzellen-Netzwerke in einer simultanen, synchronen und rhythmischen bioelektrischen Aktivität sich befinden müssen, damit eine Vorstellung entstehen kann (Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers; Frankfurt/M. 2002, S. 76). Bei der Frage, wie Säuglinge Signale „verstehen“ können, scheint es interessanter Weise so zu sein, dass die eigenen Säuglings-Körpersignale im Gehirn mit Signalen und Handlungen der Mutter verknüpft werden, wobei die Muttersignale und -handlungen den Empfindungen des Säuglings rückwirkend (!), so sie für den Säugling erfreulich und problemlösend sind, eine >Bedeutung< verleihen (Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers; Frankfurt/M. 2002, S. 87).
Das heißt, unsere ersten ‚inneren’ Vorstellungen sind von einem Außen abhängig, dass ihnen (rückwirkend) überhaupt erst Bedeutung verleiht. An dieser Stelle sei auch auf den britischen Psychoanalytiker D. W. Winnicott hingewiesen, der davon spricht, dass für das (psychische) Wohl des Kindes das Handeln der Mutter (oder einer anderen primären Bezugsperson) ‚gut genug’ sein muss. Die Mutter erfüllt die Wünsche des Kindes auf eine (keineswegs perfekte) Art und Weise, dass dieses im Laufe der Zeit die aufgeschobene Versorgung nicht als traumatisches Fehlen, sondern als Abwesenheit erfahren kann. Läuft alles gut, wird die Erfahrung der Abwesenheit und des “Kommens” (dessen was man sich wünscht, was wünschbar ist) als psychische Rahmenstruktur vom Kind übernommen, die auch und gerade dann ‘funktioniert’, wenn die Mutter nicht mehr da ist (siehe zum Beipsiel: D. W. Winnicott: Reifungsprozess und fördernde Umwelt; Frankfurt/M. 1990 (1960)).
** Insofern werden politischer Kämpfer und Kämpferinnen vermutungsweise wenig von neurotischen Problemen geplagt. Sicher, sie haben besseres zu tun. Aber: ist der Gedanke einer gewünschten Veränderung – und hier die Frage die an anderer Stelle anzugehen wäre: was ist eine gewünschte Veränderung - erst mal artikuliert und symbolisiert, verschwindet das Symptom (der Verdrängung).
31. Januar 2020
Wenn die 2 und ihre Verbindung zur Wiederholung als Zahl des ereignishaften Konflikts und der sich verschiebenden Fortschreibung gesehen werden kann, so zeigen sich diese Momente geradezu paradigmatisch in einer der ältesten und bekanntesten Geschichten aus dem Alten Testament, im Buch Exodus und zwar wie folgt:
Also, die Kinder Israels landen im dritten Monat nach dem Auszug aus Ägypten in der Wüste Sinai. Gott bietet, vermittelt durch Mose, dem Volk Israel einen Bund an (Exodus, 19, 5), wobei ein Bund bekanntlich aus (mindestens) zwei Parteien bestehen muss (zum Aspekt des Bundes und seiner politischen Implikationen siehe auch: Michael Walzer: Exodus und Revolution, Frankfurt/M (Fischer), 1995 (1985)). Gott verkündet, dass er am dritten Tag daher herabfahren werde (Exodus 19,11), wobei das Volk, als es denn soweit ist, aus Furcht und Angst Mose bittet, alles weitere zu regeln. Mose empfängt und übermittelt die Worte und die Rechtsvorschriften des Herrn (Exodus 24,3) und schreibt alle Worte des Herrn auf. (Exodus 24,4). Das Volk ist mit dem Bund einverstanden und Mose geht, Gott befohlen, wieder auf den Berg, um von Gott die steinernen Tafeln und Gesetze und Gebote, die ER (Gott) selbst geschrieben hat, zu empfangen (Exodus 24,12). Mose bleibt vierzig Tage oben (Exodus 24,18) und empfängt detaillierte Anweisungen zur Ausgestaltung des Bundes.
Zwischenzeitlich ist das Volk eigene Wege gegangen und hat das sprichwörtlich gewordene goldene Kalb erschaffen (Exodus 32,1-6). Gott wird darüber zornig (Exodus 32,7-10), wird aber von Mose besänftigt (Exodus 32,11-14). Mose steigt schließlich den Berg mit den zwei Tafeln, die nicht nur von Gott selbst gemacht, sondern auch auf beiden Seiten von Gott selbst beschrieben worden sind, hinunter (Exodus 32,15). Allerdings entbrennt daraufhin der Zorn Mose, als er das gotteslästerliche Malheur sieht und er zerschmettert die Tafeln am Fuß des Berges (Exodus 32,19).
Was dann geschieht ist, so Michael Walzer, die erste „revolutionäre Säuberung“ in der Geschichte (Michael Walzer: a.a.O., S. 65) (Exodus 32, 26). Die Götzenanbeter werden ohne Warnung und ohne Urteil getötet, wobei Mose im Namen Gottes dazu aufruft, erbarmungslos vorzugehen, d.h. selbst Brüder, Freunde und Nächste nicht zu schonen. Am nächsten Tag schaut Mose was er in der Kommunikation mit Gott für das um 3.000 Menschen reduzierte Volk tun kann, wobei sich Gott recht unversöhnlich zeigt. Nach einigem hin und her befiehlt Gott schließlich Mose zwei neue steinerne Tafeln zu hauen, auf die Gott nochmals die Worte der ersten Tafeln schreiben will (Exodus 34,1) „Ich werde darauf die Worte schreiben, die auf den ersten Tafeln standen, die du zerschmettert hast.“( Exodus 34,1, zitiert nach: Die Bibel, Einheitsübersetzung, Stuttgart (Katholische Bibelanstalt GmbH), 1980). Mose haut und steigt am nächsten Tag auf den Berg Sinai. Gott erneuert den Bund Exodus (34,10) und trägt Mose verschiedene Anweisungen auf. Schließlich ergeht von Gott die Anweisung: „Schreib diese Worte auf.“ (Exodus 34,27) Daraufhin bleibt Mose beim Herrn wiederum 40 Tage und Nächte: „Er schrieb die Worte des Bundes, die zehn Worte, auf Tafeln.“ (Exodus 34,28). Danach steigt Mose mit den beiden Tafeln der Bundesurkunde vom Berg und übergibt den Israeliten die Gebote (Exodus 34, 32).
Kann man diese Geschichte nicht als ein Lehrstück über die Zahl 2 und über die ‚Geheimnisse’ der Wiederholung lesen, über die „Wiederholungseffekte“ in Form von Verbindungen, Trennungen, Konflikte, Um- und Fortschreibungen, Geboten?
Schon der anfängliche Bundesgedanke ist auf zwei Entitäten angewiesen, hier„Gott“ und die „Menschen“ (ein Volk, nicht ein Individuum), die im Bund aber nicht zu etwas Drittem verschmelzen, sondern dem Anderen in seinem „So-Sein“ beistehen (heißt auch: Beibehaltung eines Freiheitsmoments; man folgt dem Bund aus freien Stücken, kann ihn aber auch brechen). Als das Volk dann schließlich mit Gott in Berührung kommen kann, also kurz vor (s)einer unmittelbaren Kontaktaufnahme, wird es den Menschen doch unheimlich, sie fürchten sich und Mose soll alles Weitere übernehmen. Letzterer fungiert, wie die Engel auch, als Vermittler einer „Wahrheit“, die in ihrer Unmittelbarkeit nicht nur unaussprechlich, sondern bedrohlich daher kommt.*
Im weiteren Verlauf der Erzählung wird viel dafür getan, diese unmittelbare und unheimliche Bedrohlichkeit durch Vermittlungsinstanzen zu entschärfen. Im Beisein des Mittlers Mose werden die Vereinbarungen, die Gesetze und Gebote, zunächst durch Gott selbst in steinerne Tafeln gefasst. Dabei ist die Schrift einerseits Abstandnahme zur Präsenz des gesprochenen Wortes und bürgt andererseits für eine größere Halt- und Tradierbarkeit als die bloß mündliche Weitergabe. Es dürfte ebenfalls kein Zufall sein, dass es sich um zwei Tafeln handelt, die zudem von beiden Seiten beschrieben wurden. Alles verdoppelt sich mit dem Ziel, zwar eine Bindung und einen Bund auf Dauer zu etablieren (obwohl beide Tafeln für das Volk bestimmt sind, haben sie doch– wie bei einem Vertrag –einen „Durchschriftcharakter“), jedoch zugleich den Interpretations- und Freiheitsspielraum zu vergrößern. Das was geschrieben steht, kann und muss interpretiert werden, damit es im täglichen Leben, in immer neuen und anderen Kontexten auch umgesetzt werden kann.
Und um die Ernsthaftigkeit des Bundes zu verdeutlichen, wird der Akt der Tafel-Übergabe ebenfalls ein zweites Mal vollzogen, weil bekannter Maßen inzwischen das Volk abtrünnig geworden ist. Die Ursprungstafeln werden durch Mose zerstört. Wie auch immer der Konflikt im Anschluss an das goldene Kalb interpretiert werden mag (als ‚pädagogischer Hinweis’ an all diejenigen, die nicht an den Bund glauben; als Aussortierung derjenigen, die mit ihrer ägyptischen Sklavenmoral die neue Freiheit des Bundes nicht leben wollen), er veranschaulicht, dass ein Neubeginn ohne Ursprung, ohne die Reinheit der unmittelbaren Übereinstimmung möglich ist, ja vielleicht sogar, dass ein Neubeginn – ein neuer Bund - notwendiger Weise konflikthafte Momente umfasst. Im Anschluss daran werden die Tafeln also nochmals gefertigt, was jedoch kein Akt der reinen Wiederholung ist, da Mose diesmal die Tafeln nicht nur anfertigen, sondern auch selbst beschreiben muss. Somit wird das Wort Gottes, Gottes Spur, zwar erhalten, diesmal aber durch eine menschliche Hand niedergeschrieben; es erscheint durch Menschenhand. Wäre es also abwegig zu behaupten, dass die Exodus-Geschichte auch eine zutiefst anti-apoklyptische Geschichte ist, da die Wahrheit weniger enthüllt, als durch immer neue Wendungen und Konflikte (in der Schrift, im Bund) verdoppelt und vermittelt wird, um sie den Interpretationen zugänglich zu machen?
Zum Schluss sei dem Ganzen mit Paul Chaim Eisenberg noch eine mehr alltagspraktische Wendung mitgegeben. Eisenberg zitiert eine Lehre des Talmud, die sich mit der Wichtigkeit der Wiederholung befasst:
„Es ist nicht dasselbe, ob man etwas hundertmal oder hundertundeinmal lernt.“
Paul Chaim Eisenberg: Das ABC vom Glück. Jüdische Weisheiten für jede Lebenslage; Wien, 2019, S. 125
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* Der Gedanke, dass die absolute Unmittelbarkeit nah an den Tod heranreicht, ist ein klassischer Topos der Kunst und Literatur. Man denke an Friedrich Schiller und „Das verschleierte Bild zu Sais“. Massimo Cacciari schreibt, dass die Myriaden himmlischer Heerscharen zeigen, dass die Wahrheit sich in Namen verhüllen muss, damit der Mensch ihr beipflichten kann (Massimo Cacciari: Der notwendige Engel, Klagenfurt 1987 (1986), S 13).
Im Grunde genommen ist die Frage der unmittelbare Wahrheit ein apokalyptisches Motiv, bedeutet Apokalypse doch: die Enthüllung des Wahren, womit die Schöpfung ihr Ende findet (Off. 21,4). Siehe dazu auch: Johannes Fried: Dies Irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs; München, 2016; und: Jacques Derrida: Apokalypse, Wien 2009 (1983). Dazu noch zwei Gedanken: zum einen die Frage, ob und wie die Parusierverzögerung überhaupt den Spielraum für die Moderne geschaffen hat, und ob die Parusierverzögerung des Fortschritts nicht die Frage der Apokalypse wieder drängender macht. Zur Enthysteriesierung des „Es-ist-kurz-vor-Zwölf-Diskurses“ müsste man mit Derrida sagen: “Es gibt nur die Apokalypse ohne Apokalypse.” (Jacques Derrida: Apokalypse, Wien 2009 (1983), S. 74)
30. Dezember 2019
Die Zwei, also die Zahl "2" hat nicht den besten Leumund. Denn die Zwei steckt wohl nicht zufällig in der Entzweiung, ist mit Zweifel, Zwist und Zwietracht verbunden. Metaphysisch gesehen ist die 2 der Abfall vom Einen, der Widerspruch zur göttlichen Einheit. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die 2 in der Magie, in der Kunst des großen Geheimnisses, das die Welt verborgen durchwebt, kaum vorkommt. Und auch bei der Schöpfungsgeschichte passiert Erstaunliches (zitiert nach der Lutherbibel; 1. Mose 1,1 - 2,3)
1. Schöpfungstag
- Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde (...) Und Gott sah, dass das Licht gut war.
3. Schöpfungstag
- Und Gott nannte das Trockene Erde, und die Sammlung der Wasser nannte er Meer. Und Gott sah, dass es gut war.
4. Schöpfungstag
- (...) und den Tag und die Nacht regierten und schieden Licht und Finsternis. Und Gott sah, dass es gut war.
5. Schöpfungstag
- Und Gott machte die Tiere des Feldes, ein jedes nach seiner Art (...) Und Gott sah, dass es gut war.
6. Schöpfungstag
- Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde (...) Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.
7. Schöpfungstag
- Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte.
Kurz zusammengefasst. Gott sah, dass es gut war, dass es gut war, dass es gut, war, dass es sehr gut war und schließlich segnete er den siebten Tag. Alles prima, allein der zweite Tag endet mit folgender Beschreibung
2. Schöpfungstag - (...) Und Gott nannte die Feste (Wölbung) Himmel. Da ward aus Abend und Morgen der zweite Tag.
Nix mit gut oder sehr gut oder sonstigen Segnungen. Der zweite Tag steht somit ein bißchen verwaist in der Schöpfungsgeschichte. Aber neben diesen eher traurig-negativen Konnotationen hat die 2 sehr wohl auch produktive Momente zu bieten. In den gnostischen Systemen verkörpert sich die Zweiheit der Welt zwar ziemlich restriktiv in Gut (das Geistige) und Böse (das Materielle); aber schon hier deutet sich eine Spannung an, die in den propehetischen Religionen durchaus einen positiven Wert erhält. (dazu: Franz Carl Endres; Annemarie Schimmel: Das Mysterium der Zahl; München 1993(1984))
Nicht zuletzt verweist der Trintitätsgedanke schon von Anfang an darauf, dass mit der Zweiheit, mit dem Heraustreten aus dem Einen, auch der Gedanke der Synthese, der Vermittlung und der Aufhebung einhergehen kann. Das ist natürlich auf Hegel zu oder von Hegel rückwirkend formuliert, wobei Hegel der Zwei, wenn man sie denn mit dem Begriff der Wiederholung amalgiert, folgenden Gedanken anhängt:
"Durch die Wiederholung wird das, was im Anfang nur als zufällig und möglich erschien, zu einem Wirklichen und Bestätigten.“
Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Vorlesungen über Philosophie der Geschichte, Frankfurt a.M. 1973 (Werke 12), S. 380
Mit diesem Satz im Gepäck könnte man auch sagen, dass die Wiederholung, die zeugende Wiederholung wichtiger als das Ereignis ist, das Ereignis in gewisser Weise durch seine wiederholende Bezeugung (man holt etwas wieder), überhaupt erst erschaffen wird.
Andererseits kann man den Gedanken auch nochmals vertiefend wiederholen, der oder was besagt: je öfter sich etwas wiederholt, umso stabiler und unumstößlicher wird es in unserer Welt verankert werden. Wenn die Sonne den zweiten Tag aufgeht, mag das mehr als ein Zufall sein. Sieht man sie ein Leben lang am Himmel immer wieder am Horizont erscheinen, wird es zu einer unumstößlichen Wirklichkeit. Diese wiederholungstheoretische Prämisse hat auch eine politische Dimension. So haben Ernesto Laclau und Chantal Mouffe gezeigt, dass der Gramscianische Hegemoniebegriff auf die Durchsetzungs- und Beharrungsstärke einmal etablierter Begriffe und Diskurse setzt, die nicht nur durch jeden Gebrauch mit neuer Strahlkraft angereichert werden, sondern zugleich auch den Möglichkeitsraum verengen, also bestimmte Dinge undenkbar machen oder sanktionieren (dazu: Ernesto Laclau; Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie: zur Dekonstruktion des Marxismus; Wien 1991 (1985))
An dieser Stelle sehen wir eine doppelte Funktionslogik der Wiederholung, die jedoch nicht auf eine binäre Logik heruntergrochen werden kann. Zum einen lässt die Wiederholung das Ereignis erscheinen und Wirklichkeit werden, insofern es das Ereignis bezeugt, es in einen Bedeutungsraum hineinträgt, der durch das Ereignis verändert wird, aber doch nur verständlich bleibt, sofern er Verbindungen und Spuren zu schon bestehenden Bedeutungskontexten unterhält. Ein vollkommener Bruch wäre nicht wahrnehmbar (wir alle ahnen oder kennen vielleicht einige Ränder - aber eben nur die Ränder - solcher "Ereignis-Brüche", wie zum Beispiel eine schwere Verletzung, die die Integrität des Körpers in Frage stellt und traumatisch wirken kann. Und niemand, der nicht selbst erkrankt ist, kann ermessen, was es bedeutet, wenn eine schwere, vielleicht unheilbare Krankheit diagnostiziert wird. Dies berührt unsere Identität auf unabsehbarer Weise. Ein weiterer interessanter Aspekt ist die Frage, ob der Tod nicht das Paradebeispiel eines solch radikalen Bruchs ist und/oder ob der Glaube diese Bruchlinie verschieben kann). Oder anders gesagt: ein Ereignis ist immer ein nachträgliches, denn es gibt die Präsenz des Ereignisses als unvermitteltes Ereignis nicht.
Auf der anderen Seite ist aber ebenso klar, dass es keine perfekte Wiederholung gibt und geben kann. Wenn die Wiederholung im Namen der Beharrung und der Stabilität agiert, so kann sie dieses Versprechen, wenn es denn ein Versprechen ist, nur damit geben, dass sie den wiederholten Ausschluss - den Ausschluss anderer Möglichkeiten, anderer Anknüpfungspunkte, anderer Bedeutungen - verdrängt. Eine absolut reine Wiederholung wäre als solche nicht erfahrbar, wäre zeitlos, sozusagen tote Zeit, die Tötung der Zeit, ein Aussetzen, ein nunc stans (auch hier könnte man fragen, ob die Wissenschaft nicht deshalb so erfolgreich ist, weil sie den Spezialfall einer "fast" reinen Wiederholung kultiviert, die auf Kosten der Bedeutung eine Reproduzierbarkeit und Universalität beansprucht).
Wenn es kein reines Ereignis und keine reine Wiederholung gibt, so bilden diese beiden Punkte den unerreichbaren Horizont jeder Wiederholung, ihre absolute Verheißung und ihren absoluten Tod. Die Wiederholung ist ein fortwährender Pendelschlag, der sich mal mehr zu der einen, dann wieder zu der anderen Seite neigt, niemals mit sich selbst identisch, niemals ganz anders. Selbst im in dem ganz neuen Anfang, in dem sich das ganz Andere ereignet, findet eine symbolische Wiederholung statt, die eine Anknüpfung an das schon Gewesene und immer schon Geteilte verlangt. Und selbst in der stumpfsinnigsten Wiederholung, in der scheinbar alles beim Alten bleibt, sorgt ein neuer Kontext dafür, dass andere Möglichkeiten sich zeigen, dass andere Möglichkeiten verdrängt oder unterdrückt werden müssen, auch wenn dies nur auf einer subkutanen Ebene geschehen mag.
Kurzum, keine Wiederholung ohne Verschiebung: selbst in der geringfügigsten Wiederholung kann sich etwas Großes ereignen, sind neue Verbindungen zu finden, können sich tektonische Verschiebungen anbahnen; und selbst – oder gerade - die beste Tradition ist kein starres Verharren, sondern ein fortgesetzter An- und Umbau.
Um auf den Anfang zurückzukommen, auf die 2 und ihre Verbindung zur Wiederholung: Gerade weil die 2 keine Ursprungszahl ist, also nicht die Verheißung des vergangenen oder zukünftigen Einen verkörpert und ebenso wenig eine Versöhnungszahl ist, die eine schnelle Synthese verspricht, ist sie als Zahl des Konflikts und der sich verschiebenden Wiederholung doch eine, mit der sich etwas ereignet und fortschreibt.
30. November 2019
Nicht scheint vertrauter als das Politische, denn überall werden wir mit politischen Fragen konfrontiert. Und die Welt sorgt zuverlässig dafür, dass der Stoff, aus dem unsere politischen Angelegenheiten bestehen, nicht auszugehen droht. Hochpolitische Zeiten also. Dennoch: zuweilen verschwindet das Politische, wie bei einem gut geübten Taschenspielertrick, einfach zwischendrin. Oftmals wird dieser Trick gar nicht bemerkt, erstaunlicher Weise auch von jenen Personen, die ihn in aller Öffentlichkeit aufführen. Hier zwei Beispiele, die deshalb so schlagend sind, weil sei aus entgegen gesetzten politischen Spektren stammen. Zunächst der Bundesvorsitzende der Freien Demokratischen Partei (FDP), Christan Lindner, der mit Blick auf die "Fridays for Future"-Bewegung am 10. März 2019 twitterte:
"Ich finde politisches Engagement von Schülerinnen und Schülern toll. Von Kindern und Jugendlichen kann man aber nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen. Das ist eine Sache für Profis."
Dafür hat Herr Lindner sehr viel Kritik einstecken müssen, obwohl die Motivation für diesen Tweet meines Erachtens durchaus einen politischen Kern hat, da er auf die moralische Überformung politischer Angelegenheiten reagiert. Statt aber darauf zu verweisen, dass politische Fragen nicht durch hyper-moralische Standpunkte gelöst und adressiert werden können, wählt Lindner den anderen a-politischen Fluchtweg und verweist auf die Kraft der Funktionslogik. Denn wo etwas mit Wissen angegangen werden kann, da braucht niemand mehr irgendetwas zu entscheiden, sondern kann sich auf die Wahrheit der Experten verlassen. In gleicher Weise spricht Lindner auch die jüngere Generation auf seiner Website mit folgenden Slogan an: "Wir bewerben uns nicht als Eure Erziehungsberechtigten, sondern als Eure Problemlöser". Verlangen politische Fragen und andere identitätsaffizierende Angelegenheiten lediglich nach einem Problemlösungsauftrag und einem entsprechenden Experten?
Nun ist es einfach, sich über jene Leute lustig zu machen, die scheinbar eine Gebrauchsanleitung für unser gemeinsames Leben gefunden haben, wenn nicht auf der "anderen" Seite, also auf jener, die meint, dass politische Angelegenheiten sich mit einer einwandfreien (zumeist linken) Moral (und guten Willen) prima lösen lassen, dieselbe Funktionslogik im Schatten einer zuweilen unzuverlässigen Mehrheitsmeinung in Anschlag gebracht wird.
Die deutsche Kapitänin Carola Rackete, eine ausgewiesene Seenotretterin von Mittelmeer-Migranten, also zweifelsohne im obersten Regal des derzeitigen Angebots an moralischen Zurüstungen zu finden, sagte in einem Interview-Fragebogen der ZEIT vom 3. September 2019 auf die Frage, ob es richtig sei, politische Entscheidungen zu treffen, auch wenn man weiß, dass die Mehrheit der Bürger dagegen ist:
"Nur, wenn die Bürger nicht über das nötige Wissen verfügen. Im Idealfall werden die politischen Entscheidungen ja von Menschen getroffen, die sich in ihrem Gebiet auskennen oder zumindest beraten lassen."
Vermutlich ist Frau Rackete viel bürgerlicher als sie denkt und Herr Lindner viel unpolitischer als er ahnt.
31. Oktober 2019
Wenn „Entfremdung“ den Punkt markiert, der besagt, dass ich nicht das lebe, was ich eigentlich bin, „Entfremdung“ in diesem Sinne also auf eine Substanz oder einen Kern des Ichs verweist, auf mein wirkliches Ich-Sein, so könnte man doch fragen, ob es nicht einen Entfremdungsbegriff geben könnte, der nicht auf eine „präkonstituierten Kern“ rekurriert. Vielleicht würde man zuvor fragen, was so falsch an der Vorstellung einer Ich-Subtanz ist, die mein eigentliches Ich ausmacht? Empirisch gesehen, scheint es, zumindest bei der überwältigenden Mehrheit der Menschen, nicht so zu sein, als dass man diese Ich-Substanz einfach finden könnte. Oder, was das Problem nur verschiebt: einige behaupten, sie hätten sich – ihr Ich – gefunden, schaffen es aber nicht, dieses Ich der Welt (und sich) zu zeigen und es in die Welt zu bringen.
Aber vielleicht kann man andersherum fragen: wo bin Ich, wenn ich denke? Wo ist mein Ich, wenn ich zum Beispiel versuche zu meditieren und Abstand zu nehmen von Gedanken, die nicht nur vorbei ziehen, sondern mich besetzen (bin ich das?). In diesem Kontext scheint das (mein) Ich immer von (meinen?) Gedanken in Haft genommen, überflutet zu werden. Das Ziel der Meditation ist demnach auch nicht, das „Ich“ mit einem bestimmten Inhalt zu „versorgen“, sondern zu entleeren. Dem „Ich“ scheint es durchaus gut zu tun, wenn „Ich“ mal nicht von (meinen?) Gedanken durchsetzt bin. Sind wir hier also auf einen „Kern“ gestoßen und wenn ja, was soll dieser Kern sein.
Auch wenn man den Sinn solcher Meditationstechniken nicht bestreiten mag, wird der ein oder andere auf das „reflexives Ich“, als die eigentliche Instanz unseres Ich-Seins hinweisen. Nicht die vorbeiflanierenden und sich einnistenden Gedanken sollen demnach unser Ich ausmachen, sondern der korrigierende Bezug auf unser Denken, der Eingriff in den „Denkstrom“. Aber auch hier könnte man zurückfragen, ob dieser „Eingriff“ (wann und warum?), nicht genau so unkontrolliert strömend dahin läuft, wie die zu reflektierenden Gedanken selbst. Koppelt man die reflexive „Ichleistung“ an das „Wollen“, wird die Sache lediglich verschoben (das „Ich“ eine Funtkion unseres Wollens; das Wollen eine Funktion des Ichs, aber welchen „Ichs“?). Und schließlich kann man in unendlicher Regression danach fragen, welches „Ich“ den reflexiven Gedanken wiederum reflektiert usw.
Aber, um noch eine weitere Schraubendrehung hinzuzufügen: was wäre, wenn nicht die Reflexion, sondern der Impuls zur Reflektion die eigentliche Leistung des „Ichs“ ausmachen würde. Nun gut, aber würde diese Leistung nicht quasi im Rücken des „Ichs“ nach undurchsichtigen Regeln ablaufen. Was wäre die Reflexion, als souveränes Nachdenken über das eigene Denken, noch wert? Und verhält es sich nicht ganz oftmals so, dass wir ein ziemlich klares Wissen über einige unserer intimsten Ich-Dinge besitzen (vielleicht auch als ein Resultat der Reflexion), ohne dass wir, also unser Ich, daraus abgeleitet vernünftigen Handlungen in Gang setzen können (ungesund essen, zuviel Alkohol trinken, rauchen, zu wenig Bewegung usw.).
Eine ähnliche Frage beschäftigte schon Sigmund Freud, als er ausgehend von der Prämisse, dass Menschen nach dem Lustprinzip handeln, und dieses Prinzip lediglich aus Gründen der Abwägung und mit Rücksicht auf die Realität aufschieben können und wollen, mit dem Phänomen konfrontiert wurde, dass Menschen freiwillig offenbar Unlust bereitende Dinge wiederholen, ohne dass ein von Außen gesetzter Zwang (moralischer, monetärer etc. Art), ohne dass also die Gravitation der Realität eine erkennbare Rolle dabei spielen würde.
Bekanntlich ist es für Freud – auch jenseits des Lustprinzips - so, dass das Unbewusste den Kern unseres Wesens ausmacht. Unser Ich, zumindest die Teile die maßgeblich für unser Sein verantwortlich sind, sind nicht direkt zugänglich. Die Träume, die Fehlleistungen, die Witze sagen mehr über unser eigenstes Ich und unser Sein aus, als wir zugeben wollen und können. Bekanntlich sah Freud darin die dritte der drei großen narzisstischen Kränkungen der Menschheit. Neben der kosmologischen Kränkung (Erde nicht Mittelpunkt des Weltalls – Kopernikus) und der biologischen Kränkung (Mensch ist Produkt der Evolution - Darwin), tritt nun die dritte große Kränkung hinzu, die laut Freud besagt, dass das der Mensch nicht Herr im eigenen Haus sei. Kurzum, in den wichtigen Dingen des Lebens ist es das Unbewusste, was unser Ich strukturiert: Was uns ausmacht, uns singulär macht, welche Ideale wir anstreben, was uns krank macht, ist oftmals nicht unter unserer Kontrolle, sondern wird durch das Unbewußte strukturiert.
Was zunächst wie eine Entmachtung des mit vielen Hoffnungen verbundenen aufklärerischen, souveränen Subjekts aussieht (was es ist), hat aber auch einen eröffnenden Aspekt, der deutlicher wird, wenn man sich zunächst einmal die eine gängige Trivial- und Minimalversion der Freudschen Theorie vor Augen führt. Demnach ist es der Druck des Sozialen, der die Triebe kanalisiert und unterdrückt, so dass es zur Verdrängung oder Sublimierung kommt. Die Frage stellt sich, ob das Ich an die Welt oder die Welt an das Ich angepasst werden soll (Die Idee der „Ichstärkung“ der Individualpsychologie lässt sich hier unschwer wieder finden). Aber damit wäre man wieder bei einem substantialistischen und sehr einfachen Model des menschlichen Ichs, bei dem die Gesellschaft gegen die individuellen Triebe und unser kolonisiertes Ich mit seinen Trieben gegen die Versagung bzw für die Sublimierung kämpft.
Aber nicht erst seit der Fort- und Umschreibung der Freudschen Analyse durch den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan dürfte erahnbar sein, dass die Freudsche Psychoanalyse komplexer und das Unbewusste vertrackter ist, als eben skizziert. Um hier die allerschnellste Abkürzung zu nehmen: zwischen Ich und der Welt (besser: den Dingen, der Realität) vermittelt immer schon ein Drittes - nennen wir es in Anlehnung an Lacan das Symbolische -, das insofern nicht ein Hinzukommendes ist, als dass es das Ich und die Welt überhaupt erst erscheinen lässt (oder immer schon erschienen lassen hat).
In der Lacanschen Version der Subjektwerdung verkennt das Ich dummer Weise gleich zum Zeitpunkt seines Erscheinens, dass sein „Ich“ nicht etwas Vorgängiges ist, sondern sich nur in Abhängigkeit von etwas hat bilden können. Dieses „Versehen“ wird das „Ich“ im weiteren Verlauf seines Lebens kultivieren, was auch insofern folgerichtig ist, als dass eine stabiles Ich und eine stabile Realität notwendig sind, um zu (über)leben (zumindest erweist es sich weitgehend als Vorteil). Wenn es ein verkennendes und, um es vorwegzunehmen, ein verdrängendes, verwerfendes und ein verleugnendes Ich gibt, muss es dann nicht jenseits davon noch ein „wahres Ich“ geben? Und was hat das alles mit dem Unbewussten, der Resonanz und der Freiheit zu tun?
29. September 2019
Tocotronic - Die Verdammten (2018)
Der Song "Die Verdammten" von Tocotronic (aus dem Album "Unendlichkeit" von 2018) vermittelt etwas für die Band durchaus Untypisches: nämlich den Lob- und Abgesang auf ein konkretes Stück Sein - auf die Schmerztablette Ibuprofen. Untypisch deshalb, weil ansonsten bei Tocotronic und dem Sänger Dirk von Lowtzow textlich die große Kunst der verschwurbelten Tiefsinnigkeit gepflegt wird, was sich etwas denunziatorisch anhört, aber keineswegs so gemeint ist; ich sag mal einschränkend: nicht ganz so gemeint ist. Schließlich muss man die aufgeladenen und schweren deutschen Begriffe ja erstmal auf eine coole Art und Weise und zudem zeilenweise aneinanderreihen, ohne dass es sich einerseits pathetisch platt anhört oder andererseits ins Triviale versinkt (Zum Beispiel der Song "Ich würd's dir sagen", gleiches Album. Dort tauchen in folgender Reihenfolge folgende Wörter / Wortpaare auf: "tiefster Nacht, Sternenkind, Begehren, Mondlicht, dunkle Gefühle, Höhle, dunkle Stunde, Wind tobt, alles schwer, sterbe, Leben leer". Ist das große Lyrik? Ich würd's dir sagen, wenn es so wär.)
Kurzum, die Kunst der tiefsinnigen Oberflächlichkeit ist bestimmt keine leichte, auch wenn es sich zuweilen wie eine in die Erwachsenenwelt überführte Schülerlyrik anhören mag. Nicht aber so bei den "Verdammten". Hier wird eine kleine Schmerzgeschichte erzählt, die morgens im Badezimmer beginnt, über das Morsesignal der Zahnbürste bis hin zur (Kaffee)Tasse führt und eine rhythmische Erlösung in Form des Refrains bietet. Dabei kommt der Song leichtfüssig daher, als fast flockige Ode an die pharmazeutisch induzierte Leidensreduzierung und Kohärenzvermehrung, die jedoch, ohne Ambivalenz geht's nicht, zugleich das Eingeständnis der eigenen Schwäche, das Angewiesensein auf Hilfe implizieren.Die Verdammten, mit Anklängen zu den Verbannten, sind verdammt, weil der Rückgriff auf sie die eigene Souveränität untergräbt und die Abhängigkeit erhöht (sie zu Bekannten macht). So spiegelt sich im kleinen Konkreten, weil es eine gute Konkretion ist, schlussendlich doch das große Ganze.