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Hoffnung oder was macht Gott

In einem 1957 durchgeführten Experiment des amerikanischen Verhaltensforschers Curt Richter wurden wilde Ratten in ein Wasserbassin geworfen. Entkommen konnten die Ratten daraus nicht und so strampelten die Ratten etwa 15 Minuten und ertranken anschließend. Aufgrund der Erfahrungen mit gezähmten Ratten, denn diese schwammen bedeutend länger, wurde die Versuchsanordnung dahingehend geändert, dass man die wilden Ratten nach einigen Minuten kurz aus dem Wasser nahm, um sie anschließend wieder in das Bassin zu setzen. Das erstaunliche Resultat dieser neuen Anordnung. Die Ratten schwammen nicht nur ein paar Minuten länger, sondern strampelten nun zwischen 40 und 60 Stunden lang (was auch dazu führte, dass dieses Experiment natürlich im Umfeld der psychotherapeutischen Selbstertüchtigung auf große Resonanz stieß und auch noch stößt).

Kurzum: wie, wenn es denn einen Gott gäbe, nicht ab und an auf den Gedanken kommen, dass auch er uns mal kurz aus dem Wasser genommen hat.

29. Oktober 2017

Die unsinnige Hoffnung des Subjekts

“Unsinnig die Hoffnungen der Unverständigen.”
Demokrit: Fragment 292; in: W. Capelle: Die Vorsokratiker; Stuttgart 1968 (~ 460/459 - 371 v. Chr.), S. 464

 Als mit Hegel und später in abgewandelter Form mit Marx das Subjekt Einzug in die Geschichte hielt, schien die Trägersubstanz des Fortschritts, des geschichtlichen Fortschritts gefunden zu sein. Später stellte sich dann heraus, dass das Subjekt nicht immer den Aufgaben nachkam, die man ihm zugedacht hatte. Im Bezug auf die Arbeiterklasse hatte zum Beispiel das Sein in Form der Produktionsverhältnisse einige Implementierungsschwierigkeiten: oftmals schien das Subjekt nicht zu begreifen, wie sein Bewußtsein vom Sein determiniert werden sollte. Darauf beschäftigten sich die einschlägigen Kreise entweder mit der interessanten Frage, was eigentlich wie und durch was und wen vermittelt werden musste, damit das Subjekt zu sich zu kommen konnte oder sie wechselten, wie bei einem chaotischen Pferderennen, einfach den Wettschein und setzten fortan auf ein anderes Subjekt, das den Geschichtsverlauf in die richtige Bahn bringen sollte. Nach der Arbeiterklasse sollten es eben die Studenten (und natürlich die Studentinnen!) richten. Nachdem diese angefangen hatten verheißungsvoll zu revoltieren, erwiesen sich die meisten ihrer Ideen als nur bedingt wirklichkeitsrobust oder endeten in Gewaltverstrickungen. Danach besannen sich die subjekt-suchenden Subjekte auf die Maxime: warum in der Nähe weilen, wenn die Guten sind so fern. Die sogenannte Peripherie wurde zum Zentrum der Hoffnungen. Die Ausbeutung verläuft hier schließlich auf einer synchronen (der brutale Weltmarkt) und asynchronen Achse (die böse Kolonialzeit). Und doppelt hält bekanntlich besser. Nur die Revolutionen kamen auch hier nicht in richtig in Schwung (oder gingen nicht in die richtige Richtung). Zum Glück ist die räumliche Distanz eine große, so dass die Enttäuschung von der schönen Vorstellung überlagert werden konnte, dass da draußen in der Ferne die edlen Menschen nur auf den richtigen Augenblick warten, um uns zu zeigen, dass und wie die Geschichte voran schreitet.

 Nur hatte sich der Weltgeist scheinbar einen anderen Plan ausgedacht, um den Westen das sogenannte Subjekt der Geschichte näher zu bringen. Die 'Flüchtlinge' verließen den Schauplatz des ihnen zugedachten Wirkens und kamen als Opfer und nicht als Gestalter der Verhältnisse in den europäischen Zufluchtsraum. Nichtsdestotrotz blieb ein Stück linke Resthoffnung, hatte man es doch scheinbar mit einem unschuldigen und reinen Subjekt zu tun, das noch nicht durch den Mahlstein der westlichen Dekadenz zermürbt worden war. In diesem Sinn keimte die Hoffnung, dass das noch fremde Subjekt in der passenden Umgebung sich großartig entfalten würde. Nur zeigte sich dieses konkrete Allgemeine in seiner wirklichkeitsgesättigten Form: statt als reines Opfer zu beginnen, nahm das neue Subjekt auch einige rückschrittliche Dinge für sich in Anspruch. Das Subjekt war zum Teil auch homophob, frauenfeindlich, autoritär und gewaltbereit.

 Wenn die Hoffnung, auch die unsinnigste, tatsächlich immer zuletzt stirbt, könnte das auch daran liegen, dass sie die Wirklichkeit und die mir ihr verwobenen Tatsachen nur ungenügend zur Kenntnis nimmt. Wenn das Subjekt des Fortschritts nicht auszumachen ist, so die Logik vieler Linken, so ist es doch eine passende Gelegenheit zumindest die Rolle des Unheilverhinderers selbst zu übernehmen. Der imaginäre Restsinn dieser Hoffnung nährt sich vor allem daraus, dass man relativ undifferenziert und großzügig mit den Begriffen Populismus, Rassismus und Faschismus um sich werfen kann. Die Aufgabe der diffusen Fortschrittsverteidigung und 'Subjektrettung' entbindet von der Frage nach dem Sinn dieser Ideen. Hauptsache die eigene Eschatologie kann noch einige Schritte weiter laufen, auch wenn der Kopf schon länger fehlt.

30. September 2017

Geliebte Tradition, offene Tradition?

In seinem als prophetisch gehandelten Buch "Heerlager der Heiligen" von 1973 lässt Jean Raspail einen Oberst antreten, der in Anbetracht der Lage, d.h. der anstehenden Invasion Frankreichs durch eine Million einwanderungswillige, ausgehungerte indische Flüchtlinge, auf verlorenem Posten steht. Seinen Auftrag, die Sicherung der Grenzen, wenn nötig mit Waffengewalt, kann er aufgrund der zahlreich desertierenden Soldaten und einer allgemeinen pazifistischen Grundstimmung in der Bevölkerung, nicht umsetzen. Vor Anbruch der Morgendämmerung findet er schließlich vier Militär-Musiker, zwei Trommler und zwei Hornisten, die das Totensignal, ein militärische-musikalisches Abschiedszeremoniell spielen. Der Oberst grinst, die verbliebenen Soldaten brechen in Jubel aus, heißt es im Roman. Denn, so Raspail weiter, die, die Tradition lieben, nehmen sie nicht allzu ernst.

Und ist es nicht so: je lieber uns eine Tradition ist, umso weniger müssen wir sie verbissen und zwanghaft verteidigen. Nicht nur, weil wir um die erprobte Verlässlichkeit der darin aufgehobenen Praktiken wissen, sondern, weil es letztendlich eine kontingente Form ist, die, obwohl sie zu unserer Form geworden ist, was ihre Kontingenz relativiert, kein Anspruch auf Absolutheit stellen kann. Im Gegensatz dazu steht die buchstabengetreue und oftmals humorlose Umsetzungsgewalt aller Überschreitungsideologien. Denn hier verbindet sich der Glaube an eine heilsbringende Zukunft mit der Rest-Unsicherheit, ob die dazu notwendigen Maßnahmen tatsächlich zu jener Zukunft geleiten können. Die steigende Konsequenzbereitschaft ist sozusagen der negative Rückkoppelungseffekt einer sich entziehenden Zukunft.

Paradoxer Weise ist so jede geliebte und gelebte Tradition zukunftsoffener als die um eine bessere Zukunft bemühte Ideologie, die sich in ihre eigene Gegenwart zurück-schließt. Dies ist der eigentliche Grund, warum sich die Tradition im Gegensatz zur Ideologie nicht allzu ernst nehmen muss, was wiederum nicht heißt, dass sie um den Ernst der Lage nicht weiß.

21. August 2017

Die Reformation als energetische Aufladung des Ichs und der Aufbruch in das politische Nirvana

Allein, einsam und bloß, so west das Menschenkind auf Erden. So würde das der Protestantismus sicher nicht sagen, hat aber in seiner Hinwendung zum unmittelbaren Gottesbezug einige "Allein-Sein-Postulate" aufgestellt:

 Sola Fide (allein der Glaube)
Sola Scriptura (allein die Schrift)
Solus Christus (allein Christus)
Sola Gratia (allein die Gnade)
Soli Deo Gloria (allein Gott gehört die Ehre)

 Unschwer ist dabei zu erkennen, wie durch Umgehung bis dahin gängiger Vermittlungsinstanzen, primär der römisch-katholischen Kirche, der Gottesbezug fast bis auf die Knochen frei geschabt wird. Kein Ablassbrief, kein Priester, kein Pabst kann dir bei deinem Seelenheile helfen, heißt es von nun an in der reformatorischen Kehre. Alles Äußerliche wird sich entledigt, die Liturgie entschlackt, der Prunk der Kirchen asketisiert, bis der nackte Mensch in sinnlicher Genügsamkeit allenfalls in die nun übersetzte Bibel schauen kann, fortan bemüht, in seinem Glauben auf die Gnade Gottes zu vertrauen. Diese neue Innigkeit zwischen Erde und Himmel, in früheren Zeiten ein Privileg der mystisch inspirierten Gestalten des Katholizismus, führt einerseits zu größeren Energieaufladungen in Glaubensdingen, bringt aber andererseits die Gefahr des unmittelbaren Kurzschlusses mit sich. Auch der Aspekt der Bedürftigkeit erfährt eine gegenstrebige Fügung. Während auf der einen Seite keinerlei Autorität meine Beziehung zu Gott konfigurieren kann und darf, bin ich auf der anderen Seite umso mehr der transzendenten Macht ausgeliefert. Die neue Nähe zu Gott ist immer auch ein Welt- und Souveränitätsverzicht für das eigene Ego.

 Von nun an kann es eine Wette werden - und wie Max Weber erkannte, hat dies im weitesten Sinne dann irgendwann später auch mit Geld zu tun -, wie nah ich Gott kommen kann. Ich muss nur radikal genug der Welt den Rücken kehren und meine christliche Lebensführung radikalisieren, um die Chancen - vielleicht - tatsächlich zu erhöhen. Vom Pietismus bis zu den Zeugen Jehovas wurde dieser Weg immer wieder mit Überzeugung beschritten. Wie heißt es bei Johannes 18,36: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt."

 Aber wie jede Münze, die zum Einsatz kommt, hat auch diese eine Rückseite, auf der geschrieben steht: wenn ich mir in transzendenten Dingen die Abdankung jedweder Autorität genehmige, was hindert mich daran in weltlichen Dingen die Souveränitätsfrage zu stellen, nun mit umgekehrten Vorzeichen. Denn wenn das Band, das die beiden Körper des Königs - den weltlichen und göttlichen - einst zusammenhielt, scheinbar endgültig durchschnitten ist, wem gehört dann meine weltliche Stimme. Im ersten Schritt nicht Rom, sondern meinem lokalen Fürsten und im zweiten meinem Volk und meiner Nation. Die Einsamkeit des Glaubens-Ichs, so man dieses Ego nicht zur Lobpreisung Gottes radikal vereinsamen will, kompensiert sein transzendentales Ausgeliefertsein durch die Hinwendung zur Macht und zur Gemeinschaft. Wenn mein Ich dem lieben Gott gehört, dann muss das Wir bitte schön unter uns bleiben. Fast scheint es so, als ob der Protestantismus die Immanenz der bestehenden Verhältnisse geradezu heraufbeschwört. Die Geltung des Faktischen soll daher von allen Einflüssen beschützt und bereinigt werden, die nicht der gemeinsamen Souveränität unterliegen. Die ästhetische Urteilskraft gilt hier ebenso wenig wie der Zwischenraum des gemeinsamen politischen Handelns. Im Zweifelsfall ist der Status Quo die bessere Wahl, die Entscheidung zum Staatskirchentum demnach folgerichtig. Der Einwand, dass protestantische Christen für ihre Überzeugungen gestorben sind, auch explizit in Gegnerschaft zum politischen System, verkennt, so bewunderns- und ehrenwert diese Haltung im Einzelfall gewesen ist und aktuell auch sein mag, dass dieser Widerstand meist aus der Gegenwehr zur Übergriffigkeit des Systems auf den persönlichen Glaubenskern entstanden ist und nicht aus genuin politischen Motiven.

 Wenn der heutige Protestantismus seinen Staatkonformismus und seine Staatstreue politisch konterkarieren möchte, ohne wiederum auf das einsame Glaubens-Ich rekurrieren zu wollen, so bleibt in Ermangelung einer Idee des Politischen nur der Rückgriff auf einen faden universellen Moralismus. Es steht zu befürchten, dass damit auch der produktivere Kernbestand der Reformation, sozusagen die energetische Aufladung des Ichs - sola fide, sola gratia -, langsam dahinschwindet. Demnach heißt es dann nicht nur: wie weiter mit der Welt, sondern auch: wie weiter mit Gott?

31. Juli 2017

Schmutzige Mischung

"Nämlich diejenigen, die sich auf rechte Art mit der Philosophie befassen, mögen wohl, ohne dass es freilich die anderen merken, nach gar nichts anderm streben, als nur zu sterben und tot zu sein."
Platon: Phaidon; in Platon: Sämtliche Werke I, Heidelberg 1982, S. 739

 Ein Topos der abendländischen Geschichte ist zweifelsohne die Dualität von Leib und Seele, wobei der letzteren von Platon die Attribute der Unsterblichkeit, Vernünftigkeit, Unauflöslichkeit zugeschrieben werden und für den Leib lediglich das Beiwerk der Unvernünftigkeit, Vergänglichkeit und Vielgestaltigkeit bleibt. Die Operation der Philosophen besteht also in der vorzeitigen Vertiefung und Trennung, sozusagen nicht nur zu Leb-, sondern auch zu Leibzeiten, dessen, was sich mit dem Tod, so die platonische Logik, sowieso vollziehen wird. Bis zum Freudschen Todestrieb, der laut Freud das Jenseits des Lustprinzips darstellt, zieht sich dieser Dualismus durch die Jahrhunderte.

 Warum aber etwas denkerisch vertiefend Trennen, wenn dieses Etwas sowieso unausweichlich ist, könnte man fragen. Wo liegt die Motivation, wo das Versprechen dieser philosophischen Tat? Kurzum: in der Souveränität einer Grenzziehung, die aus der Schwelle des Todes eine Linie macht, der man sich nicht nur nähern, sondern die man auch besitzergreifend überschreiten kann. Jede Meta-Physik ist auch Trans-Physik, Raumnahme im Namen der eigenen Unsterblichkeit.

 Paradoxer Weise 'funktioniert' diese Metaphysik in einer bestimmten Weise tatsächlich und zeitigt tatsächliche Effekte. In jeder Wiederholung, deren Verschiebung wir übersehen wollen - denn keine Wiederholung ohne Verschiebung -, zeigt sich in uns der Metaphysiker. Der Drang zur Wiederholung, zur Schließung und Eindeutigkeit macht uns zu Verbündeten nicht eigentlich des Todes, sondern des Leblosen, macht uns zu lebenden, zuweilen mächtigen Toten (ohne dass wir es merken, um mit Platon zu sprechen). Aber, irritierend genug, es kann Genuss darin liegen (und, wie könnte man es verdrängen, Leid daraus resultieren). Dies zu übersehen, hieße etwas blauäugig auf eine reine Ethik der Öffnung zu setzen. Leben bleibt eine schmutzige Mischung und der Tod eine Schwelle.

30. Juni 2017

Musik die berührt

Es ist naheliegend, Musik auch als eine Repräsentation von Affekten und Emotionen zu beschreiben, gerade weil man die Sinngehalte nicht aus der Musik herauslesen kann, in ihr aber zweifelsohne etwas mitgeteilt wird. Als Repräsentation, so die Logik weiter, kann sie beim Zuhörer wiederum das evozieren, was ihr als Affekt zugrunde lag. So ensteht zornige, wehmütige, freudige Musik, die wiederum von ihren Zuhörern verstanden wird, weil diese Hörer mit der Grundstimmung der Musik schon vorgängig vertraut sind, könnte man weiter argumentieren. Die Fraglichkeiten eines solchen "expressiven Modells" fangen schon (oder bekanntlich) bei der Frage der Re-Päsentation an, also damit, ob nicht jedwede Repräsentation das Repräsentierte nicht unweigerlich mitformt, da das 'Ausgangsmaterial' bzw. der Ursprung in seiner Reinheit oder Unberührtheit gar nicht existieren kann, sondern durch die 'Vermittlung' erst mit-entsteht (zumindest als geteiltes Phänomen). Folgen wir einer anderen Spur. Könnte man nicht fragen, ob nicht in gewisser Weise umgekehrt das 'Subjekt' "zuallererst die rhythmische Einfaltung/Entfaltung eines Umschlags zwischen 'drinnen' und 'draußen' wäre", wie Jean Luc Nancy in dem kleinen Buch "Zum Gehör" vorschlägt und zwar "vor jeder Möglichkeit einer (...) präsentierbaren Figur", wie er weiter hervorhebt. Nun ist der Rhythmus nur ein Teil der Musik und wird, so Nancy weiter, durch die Klangfarbe begleitet. Beide wiederum umreißen nach Nancy "die matrizielle Konstitution der Resonanz". Im weitesten Sinne wäre die 'Musik' (Rhythmus und Klangfarbe/Timbre) die Bedingung dafür, dass etwas in uns wiederhallen kann. Wir finden in der Musik etwas, das wir niemals hatten oder besaßen, weil es (Rhyhtmus / Timbre) uns mitkonstituierte und immer wieder neu erschafft, unterhalb der Bedeutung und oberhalb der Bedeutungslosigkeit. Für unser Sein ist das Stottern und Lallen, das Singen und Klopfen, viel grundlegender als der sinnvolle Satz. Und vielleicht ist Musik deshalb so eng mit den Affekten verknüpft, weil in ihr das Spiel der Entbindung und Einbindung (von Innen und Außen / von Energien und Bahnungen) ein Spiel ist, das nicht unter der Last einer zu repräsentierenden Wirklichkeit ächzt.

31 Mai 2017