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Frühlingsgefühle

"Das Leben war, wie es war, und es ist geworden, wie es geworden ist. Schließlich konnte man nicht zurückgehen und es irgendwo reparieren. Das Lebenselend."
Lars Gustaffson: Nachmittag eines Fliesenlegers; München 1993; S. 55

30. April 2018

Das Ding im Streit

Es gibt Tage, da möchte ich den ganzen Zivilisationsmüll einfach hinter mir lassen. Ich gehe auf die Suche nach einer entschlackten Ruhe, die nicht müde, sondern aufmerksam macht und mich gelassen durch den Tag trägt. Nehme ich ein Buch zur Hand, stellen sich solche Momente zuweilen ein. Die Dinge beruhigen sich, manchmal nur für kurze Zeit, bevor ein Überschuss oder ein Mangel wieder Bewegung in die Sache bringt. Und dann suche ich nach einem Buch, das genau diese Bewegung durchdenkt, sie von einer anderen Seite beleuchtet und neu austariert. Kein Geheimnis auch, dass man sich oftmals von fremden Weltzugängen mehr verspricht, als von den schon bekannten. (begleitet von der Ahnung, dass die Frage des Zugangs und die Frage des Denkens mitten in die hier verhandelte Problematik führt). Vielleicht gab es mal eine Zeit, in der der Begriff der 'erbaulichen Lektüre' diesen Sachverhalt ironiefrei zum Ausdruck bringen konnte.

Zweifelsohne versprechen von Zeit zu Zeit die fernöstlichen Zugangsweisen und Lektüren mehr Verheißungen als westliche Praktiken: Lieber Yoga als Bodybuilding, lieber Meditation als Gehirnjogging, lieber ein "Buch vom Tee" als ein Buch zu den Grundlagen der Chemie. So führt Kakuzo Okakura in seinem Teebuch den Leser nicht zur Fülle der (Tee-)Welt, sondern verweilt zum Beispiel bei dem taoistischen Gedanken der Raumgebung, der das Wesentliche nicht im physischen Vorhandensein eines Dinges zu fassen sucht.

"Der Nutzen eines Wasserkrugs liege im Hohlraum, der mit Wasser gefüllt werden kann, nicht in der Form des Kruges und auch nicht im Material, aus dem der Krug hergestellt ist."
Kakuzo Okakura: Das Buch vom Tee; Köln, 2011 (1906); S. 40

Nun geht es hier zunächst um einen Nutzen und um den Hohlraum des Kruges, aber weiter gedacht auch um den Horizont einer Leere und Offenheit. Der in Deutschland lehrende Philosoph Byung-Chul Han spricht in seinem Buch "Philosophie des Zen-Buddhismus" von der Leere als einen unsichtbaren Atemraum der Formen. Bekanntlich setzt das abendländische Denken hingegen mehr auf die Anwesenheit, auf die Präsenz und Geschlossenheit der Dinge. Das Wirkliche ist gerade jenes, was sich als Substanz jeder Veränderung entzieht oder auch jeder Veränderung als Unveränderliches zu Grunde liegt.
Nicht von ungefähr hat sich auch Martin Heidegger, einer der Anti-Präsenzdenker schlechthin, mit dem Ding auseinandergesetzt, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass er in Bezug auf seine 'Motivwahl' von einem östlichen Denken inspiriert wurde. Denn in seinem berühmten Ding-Aufsatz von 1951 geht es zunächst, man ahnt es schon, um den Krug:

"Doch was ist ein Ding? (...) Ein Ding ist der Krug? Was ist der Krug?"
Heidegger, Martin: Das Ding, in: Vorträge und Aufsätze; Pfullingen 1954 (1951), S. 164

Für Heidegger reduziert der Sprachgerbrauch der abendländischen Metaphysik das Ding und damit auch den Krug, auf etwas, das "überhaupt und irgendwie ist", d.h. auf das Seiende. Dagegen spinnt Heidegger in einer poetische-denkerischen Weise das Ding, konkret hier den Krug, in ein Bezugs- und Bedeutungsgeflecht ein, legt Bedeutungsschichten an und frei, durchaus auch anknüpfend an die weiter oben zitierte Teestelle:

"Die Leere ist das Fassende des Gefäßes."
Heidegger, Martin: Das Ding, in: Vorträge und Aufsätze; Pfullingen 1954 , S. 167

Und weiter heißt es bei ihm:
"Im Schenken des Gusses west das Fassen des Gefäßes."
Heidegger, Martin: Das Ding, in: Vorträge und Aufsätze; Pfullingen 1954 (1951), S. 170

Das Geschenk des Gusses versammelt dabei Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen, wobei die Zusammegehörigkeit dieser Momente die Einheit der Vier, das Geviert vereignet.

"Das Ding verweilt das Geviert. Das Ding dingt Welt. Jedes Ding verweilt das Geviert in ein je Weiliges von Einfalt der Welt."
Heidegger, Martin: Das Ding, in: Vorträge und Aufsätze; Pfullingen 1954 (1951), S. 179

Im Rahmen der hier vorgenommenen (Ver-)Kürzung mögen sich die Heideggerschen Denkausschnitte wie DaDa-Philosophie ausnehmen - warum auch nicht -, so man nicht vergisst, wie präzise Heidegger - auch mit Bezug auf andere Philosophen - denkt*.

Gut, halten wir mehr proklamierend als nach-denkend fest, dass Heidegger das Ding und den Krug aus den Fängen eines präsenzbehafteten her- und vorstellenden Denkens lösen möchte, eines Denkens, das Dinge zum Stand bringt und nur die so stehenden Dinge gelten lässt (Geltung also nur für das, was der Fall ist; die Nähe zum Phallus ergibt sich nicht nur unter DaDa-Gesichtspunkten).
Die hier fast bis zur Erbaulichkeit herbeizitierten Dinge haben jedoch, wer hätte es gedacht, eine Kehrseite, die relativ früh in der Geschichte auftaucht.

"Das Weib aber trug in den Händen ihr Geschenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel versehen."
Schwab, Gustav: Sagen des klassischen Altertums; Köln 2011 (1838), S. 20

Das Weib hieß Pandora und bekanntlich entflog dem Gefäß, dem Pithos, also einem Tonkrug, eine Schar von Übeln, wo doch die Geschlechter der Menschen bis dahin übelfrei auf Erden wandeln durften (und nur, weil Promotheus Zeus hintergangen hat). 'Alles Gute kommt von oben' gilt also nur eingeschränkt, sofern in der Büchse als letzte Zutat immerhin die Hoffnung enthalten war. Das Verhältnis Götter-Sterbliche darf also keineswegs als ein permanent harmonisches verstanden werden. Zumindest kann mit Bezug auf Pandora den oben zitierten Heidegger-Satz "Im Schenken des Gusses west das Fassen des Gefäßes" nicht eine gewisse Dramatik und/oder Komik absprechen**.

Wo Zwietracht gesät wird, wo Streit ausbricht, ist es mit dem "Dingen", sozusagen das handelnde Wesen des Dings, als "versammelnd-ereignenden Verweilen", Stichwort Nähe, zumindest schwierig. Interessanter Weise gibt es in dem Ding-Aufsatz eine Passage über die Bedeutungsgeschichte der Wörter Ding, res, causa, coa, chose, thing, wo Heidegger das Ding als Angang und Angelegenheit beleuchtet, und zwar als eine Sache, die alle angeht (res publica), die öffentlich verhandelt wird, ja als ein Streitfall. Allerdings bügelt er diesen Bedeutungsstrang relativ schnell wieder ab, indem er den ursprünglich römisch erfahrenen Angang als unzureichend kennzeichnet, da das Wesen des Anwesenden verschüttet bliebe. Aber ist nicht der Streitfall, als ein Ding das angeht, nicht ebenfalls die Öffnung zu einem "(Noch-)Nicht-Seienden"? Befreit der Streitfall die Dinge nicht aus ihrer Eindimensionalität, lässt er nicht auch Verluste spüren, also den Entzug des Dings / der Dinge?

"Frau Marthe
:
Seht ihr den Krug, ihr wertgeschätzten Herren?
Seht ihr den Krug?
Adam:
O ja, wir sehen ihn.
Frau Marthe:
Nichts seht ihr, mit Verlaub, die Scherben seht ihr;
(...)"
Kleist, Heinrich von: Der zerbrochne Krug; 1811, Siebenter Auftritt

"Der zerbrochene Krug" von Heinrich Kleist dreht sich bekanntlich um Begierde, Korruption, Hochmut, Erpressung, Recht und Gerechtigkeit. Der zerbrochene Krug kann vor allem als Anspielung auf die mögliche verlorene Unschuld der Protagonistin Eve verstanden werden (fußend auf der damals gängigen Analogie zwischen dem Krug und der Gebärmutter). Daneben hat der Krug noch eine buchstäbliche, nun im zerbrochenen Zustand nicht mehr sichtbare Geschichte zu erzählen, die von Eves Mutter Marthe ausführlich geschildert wird, nämliche die der niederländischen Provinzen.

So "sind" die Dinge auch: Geschichte ist immer auch Verlust-Geschichte (wobei der Verlust die Nähe zu dem Ding durchaus befördern kann) und Gerechtigkeit immer auch ein Ding im Kommen. Genauso wie die Ruhe.

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* Wer's nicht glaubt, möge Heidegger lesen. Byung-Chul Han, der dies sicherlich gründlich getan hat, kommt am Ende seiner Auseinandersetzung über die Leere zu der Vermutung, dass trotz der Parallelen zwischen Zen und Heidegger in dieser Frage, letzterer doch einen metaphysischen Haftgrund oder besser Hafthimmel beibehält. Die Welt, so Byung-Chul Han, ist bei Heidegger nicht wirklich leer, da sie noch auf Gott verwiese, also um eine verborgene theologische Achse kreisen würde. Das dafür hinzugezogene Zitat stammt allerdings, für den Leser nicht kenntlich, aus dem Aufsatz "... dicheterisch wohnet der Mensch ...". In dem Ding-Aufsatz spricht Heidegger von den Göttlichen und den Sterblichen, nutzt also in beiden Fällen den Plural. Davon abgesehen müssten man an dieser Stelle wahrscheinlich den Fragen der Begegnung, des Anspruchs und des Zuspruchs nachgehen.

** Zumindest erwähnenswert in diesem Zusammenhang, ist quasi die Umkehrung der Gottesfrage im Namen des Kruges. Allerdings entsteht dadurch weniger ein prometheushaftes Aufbegehren - Ich dich ehren? Wofür? -, sondern eine mehr melancholisch eingefärbte lose-lose-Situation:

"Was wirst du tun Gott, wenn ich sterbe?
Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?)
Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?)

Bin dein Gewand und dein Gewerbe,
mit mir verlierst du deinen Sinn.
(...)
Was wirst du tun, Gott? Ich bin bange. "

Rilke, Rainer Maria: Als du mich einst gefunden hast. Die schönsten Gedichte; Köln 2016 (1899), S. 43

29. März 2018

Der Sprung in der Schüssel

Einen Sprung in der Schüssel zu haben, heißt zunächst, dass man nicht ganz dicht, also etwas verrückt ist, man die Dinge nicht auf adäquate Weise begreifen, sich nicht adäquat zu Dingen verhalten kann. Weiterhin, dass das richtige "Funktionieren" zumindest fraglich wird, denn schließlich kann der Sprung dazu führen, dass das Ganze vollständig zerbricht und unbrauchbar wird. Richtiges Verhalten in der Welt und auch das Weltverstehen selbst scheinen, so man den Gedanken fortspinnt, in der Sprung-Schüssel-Perspektive eine Konsistenz vorauszusetzen, in der die feinen Haarrisse, die die Wirklichkeit unseren Seins-Oberflächen hinzufügt, nicht als produktive Kräfte vorgesehen sind.

Die Kinderlogik, die niemals eine Logik ist, läuft natürlich ganz anders. Astrid Lindgren zeigt dies exemplarisch in der Michel-Geschichte aus Lönneberga, in der Michel seinen Kopf in die Suppenschüssel steckt, in dem Bestreben, an die letzten Reste der Suppe zu gelangen, dann mit seinem Kopf stecken bleibt und die Schüssel schließlich, um die Ordnung der Dinge und einen freien Kopf wiederherzustellen, zerbrochen werden muss.

Um von der Kinderlogik zur Lyrik-Logik zu wechseln, mag man sich an die kleine Schwester der Schüssel, an die Schale erinnern, von der es bei C. F. Meyer in Bezug auf den römischen Brunnen heißt: "Und jede nimmt und gibt zugleich / Und strömt und ruht." Hier ist es die fast dialektisch zu nennende Überflussmetapher, die dem Dichtigkeitsdiktum weniger entgegengesetzt wird, denn die Schale ist an und in sich intakt, ohne Sprung, als dass sie das Letztere transzendiert. Eine Schale - zumindest als Teil eines größeren Ganzen, hier eines Brunnens - kann nicht selbstgenügsam sein, da sie von oben gespeist wird und den Überfluss nach unten abgibt (Es sei hier als Nebengedanke daran erinnert, dass dies, sofern man an die Schalenhaftigkeit des Menschen denkt, nicht nur ein geistiges Prinzip ist, sondern auch ein physiologisches. In diesem Zusammenhang sei weiterhin auf die erste Strophe des Rainer Maria Rilke-Gedichts hingewiesen: "Träume, die in deinen Tiefen wallen, / aus dem Dunkel lass sie alle los. / Wie Fontänen sind sie, und sie fallen / lichter und in Liederintervallen / ihren Schalen wieder in den Schoß.").

Um auf den Sprung in der Schüssel zurückzukommen und zu einem Menschen, der zweifelsohne nach landläufiger Meinung einen Schüsselsprung hatte, widmen wir uns kurz Benoît Joseph Labre, einem Pilger und Mystiker, der im 18. Jahrhundert gelebt hat und unter ärmlichsten und erbärmlichsten Umständen sieben Jahre durch Europa pilgerte, um schließlich in Rom zu landen, wo er weitere sechs Jahre in äußerster Armut und Frömmigkeit verbrachte und schließlich völlig entkräftet und verwahrlost starb. Walter Nigg schreibt über die Pilgerjahre von Labre in seinem 'Pilgerbuch':

"Nur einen Napf trug er bei sich, worin er sich gelegentlich an einer Klosterpforte ein wenig Suppe holte; doch am Rand des Holztellers hatte er ein Stück herausgebrochen, damit man ihn nicht mehr vollständig füllen und ihm nicht mehr geben konnte, als er unbedingt zum Leben brauchte."
Walter Nigg: Der Pilgers Wiederkehr; Zürich 1992 (1954); S 102

Der gewollte "Sprung in der Schüssel", also die tellerzentrierte Abbruchunternehmung, ist hier eine große Demutsgeste, eine Form der Selbstkasteiung. Und darin war das Christentum immer gut, in dieser Weltabgewandtheit, hart am Rande der Weltnegierung, die schließlich die intime Nähe zu Gott herstellen sollte. Der Sprung ist hier wahrlich auch eine Art des Hinüberspringens in eine heile Welt, womit der Mut zur Lücke und zum Sprung arg relativiert wird. Schließlich macht der liebe Gott, so könnte man meinen, am Ende alles wieder Ganz (allerdings muss man dem Christentum den Gedanken an den Sprung und das Sprungrisiko - Stichwort Nadelöhr - als Immanenz-Resistenz zugutehalten).

Eine letzte Schüssseldrehung führt ins ferne Japan, wo der Teeismus, also die Verehrung des Tees und der Teezeremonie, "im Wesentlich die Anbetung des Unvollkommenen" ist, wie Kakuzo Okakura 1906 schrieb, "ein behutsamer Versuch, in diesem unmöglichen Etwas, das wir Leben nennen, das Mögliche zu erreichen." Die Schale, die wir in den Händen halten, ist selbst der Sprung, das Mögliche im Unmöglichen, das Sein vor dem Abgrund. Die Dinge - und wir mit ihnen - sind und waren immer mehr als nur Objekte - oder Subjekte. Eine Teeschale?

"Doch wenn man bedenkt, wie klein die Schale menschlicher Freuden eigentlich ist, wie rasch sie von Tränen gefüllt, wie leicht sie in unserem unstillbaren Durst nach Unendlichkeit bis auf den letzten Tropfen geleert wird, dann haben wir uns nichts vorzuwerfen, wenn wir um die Teeschale so viel Aufhebens machen."
Kakuzo Okakura: Das Buch vom Tee; Köln, 2011 (1906); S. 8f.

27. Februar 2018

Die Wege des Herrn ...

... sind unergründlich. So auch hier. Ich mag Bücher, diese kleinen Universen, die sich in immer neue Dimensionen auffalten. Und so kommt es, dass neben den vorhandenen Büchern, relativ vielen Büchern, weitere neue Bücher hinzukommen. Jedes Buch ein neues Versprechen auf neue Entdeckungen, auf neue Leseerlebnisse. Natürlich hält die Lesegeschwindigkeit dem Erwerbstempo nicht stand, so dass die Leseoptionen sich stetig vermehren und der Regalplatz stetig schrumpft. Oftmals bleibt es bei den ersten paar Seiten, die man zu Ehren des neuen Buches liest, um es dann für Tage, Monate, manchmal Jahre beiseite zu legen. Und erst der Tod wird bezeugen, wie viele Bücher schließlich zu Lebzeiten nicht aus ihrer Einsamkeit erlöst worden sind. Die ersten Seiten also ... Lászlo F. Földényi "Melancholie", Lew Schestow die "Apotheose der Grundlosigkeit", beide bei Mathes & Seitz verlegt.

Bei Schestow lese ich: "Sind aber unabgeschlossene, unordentliche, chaotische Erwägungen, die nicht durch den Verstand gerichtet sind, die widersprüchlich sind wie das Leben selbst - sind sie nicht unserer Seele näher als irgendwelche, womöglich gewaltige Systeme, deren Schöpfer sich weniger um das Verständnis der Wirklichkeit bemühen als vielmehr darum, sie 'einzuvernehmen'." Schestow, Lew: Apotheose der Grundlosigkeit; Berlin 2015, S. 12
Wenig später bei Földényi stoße ich auf eine fast komplementäre Textpassage, in der es heißt: "(...) doch muss das Wort, um wahrhaft Bedeutsamkeit und Bedeutung zu erlangen, mit seinen eigenen Ausgeliefertsein rechnen, seiner eigenen Zerbrechlichkeit gerecht werden." Földényi, Lászlo F.: Melancholie; Berlin 2004 (1984), S. 10

Die unabgeschlossene, unordentliche Erwägung und das zerbrechliche, ausgelieferte Wort berühren uns, unseren Bedeutungshorizont und unsere Seele, nicht trotz, sondern wegen ihrer Unvollkommenheit und Fragilität. So haben mich nicht nur die ersten Textseiten beschenkt, sondern auch das zufällige Zusammenspiel dieser beiden Anfänge. Und dann denke ich an 'die Wege des Herrn' und mir geht auf, dass in diesem Zusammenhang nichts falscher sein könnte, als der ordnende Herr, der für uns die Dinge, wie undurchschaubar auch immer, zu einem Ziel zusammenfügt. Fernab der Erlösung ist das Geschenk unsere Offenheit für un-wegbare Unvollkommenheiten. Alle Bücher werden niemals ausgelesen.

30. Januar  2018

Mein Gott

Letztes Jahr schrieb ich zu dieser Zeit: "Und alle sagen, schreiben, denken: was für ein schrecklich-wirres Jahr dieses 2016 doch war." Es geht mir mit 2017 nicht anders. Wahrscheinlich wird man sich an diese Jahresendeinschätzung gewöhnen, wie man sich an den schleichenden Klimawandel gewöhnt. Die Extreme nehmen zu, ohne dass ein entscheidender Wendepunkt absehbar wäre. Und weil Alles so durcheinander ist und Alles sowieso viel zu viel ist, wendet man sich der Unterhaltung zu in der Hoffnung, dass dieser kleine Eskapismus ein bisschen Frieden und innere Ruhe bringt. Die von diversen Sendern produzierten Serien erfreuen sich vermutlich auch deshalb einer so großen Beliebtheit, weil sie sich in ihrer epischen Breite teilweise wie das richtige Leben anfühlen, nur scheinbar sortierter, spannender, freudiger, tragischer und, entscheidend, abschaltbarer.

Zuweilen schwappt dann doch etwas Existenz aus dem fiktionalen Setting hinüber in unsere Realität; so in der 2017 produzierten Western-Netflix-Serie 'Godless', die sich über 7 Episoden erstreckt und 1884 in dem Städtchen La Belle in Colorado spielt. Dort herrscht ein massiver Frauenüberschuss, da bei einem Minenunfall ein Großteil der Männer umgekommen ist. Die eigentliche westerntypische Gut-versus-Böse-Geschichte spielt sich jedoch zwischen dem Gang-Leader Frank Griffin (einarmig) und seinem Ziehsohn Roy Goode ab, der sich schließlich vom gewaltsamen Gang-Leben abwendet und von Griffin gejagt wird. Unterschlupf findet er bei einer Witwe, die eine eigene Farm besitzt und diese mit ihrem halb-indianischen Sohn mehr schlecht als recht bewirtschaftet. Das Drama nimmt seinen Lauf.

Der Titel der Serie ist westerntypisch, geht es in Westernfilmen auch immer um das Recht des Stärkeren, um die Unbarmherzigkeit der Gewalt, um die bedingungslose Rache, die allenfalls durch eine alt-testamentarische Gerechtigkeitsvorstellung - das Auge um Auge, Zahn um Zahn - eingerahmt wird. Aber eigentlich hätte diese Serie statt Godless auch Fatherless heißen können, ist es doch weniger die transzendentale Bodenlosigkeit, als vielmehr die ubiquitäre Vaterlosigkeit, die beunruhigend vor Augen geführt wird. Und das in einem Genre, das sich primär und traditionell um Männer und Männlichkeit, um Macht und Stärke kümmert. Stattdessen sehen wir, dass ein Großteil der Väter abwesend oder tot ist. Die verbliebenen Söhne und Männer sind physisch und/oder psychisch angeschlagen: Der Sheriff kann kaum sehen, der gute Held, Roy, wurde von einer Frau angeschossen und beherrscht nicht einmal die Kulturtechnik des Lesens, und der vaterlose 'halb-indianische' Teenager kann, mit seiner Mutter auf einer Ranch lebend, nicht einmal reiten.

Zunächst bleibt als einzige richtige Männer- und auch Vaterfigur, obwohl er im physischen Sinne gar nicht Vater ist, der Gang-Leader Griffin. Dieser hat allerdings einen Arm verloren, ist also in gewisser Weise als Revolverhand halb-kastriert, verkörpert aber nichtsdestotrotz den bösen Mann. Böse ist er paradoxer Weise auch deshalb, weil für ihn die familiär gefasst Loyalität höher steht, als alle Arten der Gerechtigkeit, der Vergebung oder der Liebe. Andererseits entwickelt sein 'Gegenspieler' und Ziehsohn Roy, obwohl zunächst selbst als Waise aufgewachsen, gerade im Umgang mit dem halb-indianischen Teenager (und Halbwaisen) durchaus genuine Vaterqualitäten. In einer der ergreifendsten Szene der Serie versucht er besagtem Teenager das Reiten beizubringen. Dabei zeigt sich, dass seine Autorität zwar mit Können und Wissen zu tun hat, aber auch von einer Macht getragen wird, die weniger zwingt, als dass sie anspornt und ermutigt und welche die richtige Mitte zwischen An- und Zuspruch findet. Der vaterlose Mann verschafft also dem Waisen-Teenager einen weiteren, neuen Zugang zur Welt, während er  gleichzeitig von der Mutter des Teenagers im Lesen unterrichtet wird - auch ein Weltzugang.

Was dies mit unserer heutigen Welt zu tun hat? Wie mir scheint, geht das Zeitalter der "Vaterschaft" zu Ende. Nicht richtig klar ist, was kommen wird. Wir schauen weiter.

30. Dezember 2017

Zögern

Ein Unbehagen an den dekonstruktiven Lektüren entsteht zuweilen durch das Missverständnis, dass man die aufgezeigten Öffnungen unter einer Dynamisierungsprämisse stellt. Dinge sollen bewegt und geändert werden. Dabei bahnen sich die Unterbrechungen, und das zeigt nicht zuletzt der Aufschub, das Zaudern, das Zögern, gemeinhin Zeichen der Unsicherheit und Unentschlossenheit, bahnen sich also die Unterbrechungen von Zwangsläufigkeiten nicht durch einen entschlossenen Dezisionismus den Weg. Das Inne-Halten, das nicht im voraus seine eigene Schließung in die Zukunft entwirft, was wiederum die eigentliche Bewegungswut als Implementierungswahrheit heraufbeschwört, wird gemeinhin als ein vor-politisches Moment, als ein Zeichen der politischen Schwäche gesehen. Vielleicht müsste man sagen, dass im politischen Raum der Streit, weit davon entfernt nur den Dissens zu verkörpern, diese 'Aufgabe' übernimmt. Der Streit ist auch das Zögern im Angesicht scheinbarer Zwangsläufigkeiten. 

30. November 2017