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Todestag von Hannah Arendt

Hannah Arendt ist am 4. Dezember 1975 in New York gestorben. In der Ansprache anläßlich der öffentlichen Gedenkfeier der Universität Basel zum Tode von Karl Jaspers am 4. März 1969 sagte sie:

"Es kommt darauf an, dass derer, die diese Sprache hören und verstehen, nicht weniger werden."
Arendt, Hannah, Karl Jaspers, und Hans Saner: Briefwechsel 1926 - 1969. Herausgegeben von Lotte Köhler. München Zürich: Piper, 1993, S. 719

Dies wünscht man sich für Hannah Arendt auch. Vor allem möge das Verstehen sie davor bewahren, dass man ihr Denken akademisiert. In der Einleitung zu der Texsammlung "Menschen in finsteren Zeiten", in der sie einige Literaten, Dichter und Denker porträtiert, von Gotthold Ephraim Lessing über Rosa Luxemburg bis zu Martin Heidegger und Walter Benjamin, schreibt sie über die Motivation, die sie zu diesen Personenskizzen veranlasst hat:

"Die Überzeugung, dass wir selbst dann, wenn die Zeiten am dunkelsten sind, das Recht haben, auf etwas Erhellung zu hoffen, und dass solche Erhellung weniger von Theorien und Begriffen als von jenem unsicheren, flackernden und oft schwachen Licht ausgehen könnte, welche einige Männer und Frauen unter beinahe allen Umständen in ihrem Leben und ihren Werken anzünden und über der ihnen auf der Erde gegebenen Lebenszeit leuchten lassen (...)." 
Arendt, Hannah, und Hannah Arendt. Menschen in finsteren Zeiten. Herausgegeben von Ursula Ludz. 2. Aufl., 4.-5. Tsd. München: Piper, 1989, S. 16. f.

Unzweifelhaft hat Hannah Arendt in ihren Werken Lichter angezündet, man muss sie nur lesen. 

4. Dezember 2022 

Körper

Es ist noch Dunkel, die Sonne wird erst in 2 Stunden aufgehen. Gleich fahre ich ins Krankenhaus, Operation. Wird schon alles gut gehen, sage ich mir. Vor mir auf meinem Schreibtisch steht eine Postkarte, Motiv "Studie zweier Esel" von Johan Christian Dahl. Die beiden Esel sind von vorne zu sehen, schauen jedoch nicht den Betrachter an, sondern gucken gottergeben und etwas mürrisch auf den Boden. Ich mache ein Handy-Foto für den nachoperativen Trost. Mir fällt das Buch "Schornstein" von Jan Faktor ein. Die medizinische Behandlung als Quell für Pein und Galgenhumor:

“Der Anblick meines nach außen plötzlich geöffneten Blutreislaufs und der Fußbodenkorona aus vielen feinen Minitröpfchen verschlug mir die Sprache.”
Jan Faktor: Schornstein, Köln 2006, S. 147

Der ‘Held’ der Geschichte wartet im Behandlungszimmer auf seine Dialyse und auf den Arzt, der ihm die Nadel in die Vene stechen muß. Der Arzt entpuppt sich als völlig unfähig. Nach mehrern Versuchen trifft er schließlich eine Vene, vergißt aber, die Schlauchklemme zu öffnen; Resultat s.o. Die Situation wird mit einer unwiderstehlichen Komik geschildet: Trennung zwischen dem Körper- und dem Sprecher-Ich - wenn etwas auseinanderflällt, was landläufig zueinander finden sollte, stellt sich das Gegenteil von Erhabenheit ein.

24. November 2022

Der russische Weg in die souveräne Destruktivität - Teil 2

Ukrainische Wahl

Freiheit mag für viele nicht nur ein schwieriger, sondern auch ‚süßlicher‘ Begriff sein, der scheinbar mehr verspricht, als er -insbesondere heutzutage – halten kann. Wird Politik nicht von einer oligarchischen Schicht von Berufspolitikern bestimmt, von mächtigen Wirtschaftsinteressen, von Funktionseliten usw.? Aber vielleicht hat man sich zu sehr an einen durch Souveränität verzerrten Freiheitsbegriff gewöhnt, in dem die Grundlagen des Handelns und der Freiheit schon definiert sein müssen, bevor man von Freiheit sprechen will. Daher die immer wiederkehrende Idee der basisdemokratischen Abstimmungen, in der die die Essenz des Individuums in den politischen Prozess unmittelbar einfließen soll (was ungefähr dem Versuch gleichkommt, sich selbst zu therapieren, indem man permanent mit sich selbst spricht). Aber unser Handeln ist (selbst für uns selbst) immer vermittelt, ist medial durchwoben, ist immer auch ein Stück weit unserer Kontrolle entzogen. (Daher ist Freiheit an sich gefährdet, immer kurz davor von einer ‚sicheren‘ Wahrheit verschlungen zu werden. Und in ihrem ‚Sein‘ ist sie, ob dessen was sie sich erhandelt, niemals frei von Irrungen).

Nichtsdestotrotz ist Freiheit mit Handeln verknüpft, was selbst bei einem so einfachen Handlungsakt wie einer Wahl (zu einer Regierung) zum Tragen kommt, sofern es sich um eine freie Wahl handelt und sofern unzählige Handlungsmomente natürlich in den Debatten, Kontroversen und Konflikten vor der Wahl realisiert werden. So weist Thilo Sarrazin in der Zeitschrift Tumult – diese einer unkritischen Ukraine-Position unverdächtig – darauf hin, dass die Sowjetunion 1991 in einem von allen Sowjetrepubliken unterzeichneten Vertragswerk aufgelöst wurde, die Unterzeichner-Staaten vollständig souveräne Subjekte des Völkerrechts wurden und dass in der Ukraine parallel dazu bei einer Volkabstimmung zur Unabhängigkeit 90 Prozent der Abstimmenden, bei einer Wahlbeteiligung von 84 %, für die Unabhängigkeit stimmten (in Luhansk 83 %, in Oblast Donezk 77 % und auf der Krim 54 %). Auch alle nachfolgenden ukrainischen Präsidenten wurden direkt gewählt (siehe Thilo Sarrazin: Bemerkungen zum Ukraine-Krieg, in: Tumult. Vierteljahresschrift für Konsensstörung, Herbst 2022, S. 8-13).

Das heißt wiederum nicht, dass Korruption in der Ukraine kein wirklich großes Problem ist und dass es auch dort keine oligarchische Strukturen gibt. Und beides droht in ihrer undemokratischen Souveränität den Handlungs- und Gesetzesraum zu unterwandern. Nichtdestotrotz hat sich in der Ukraine ein Handlungs- und Freiheitsraum entfaltet, der neue Möglichkeiten geschaffen und neu Perspektiven eröffnen konnte. So sorgte zum Beispiel der jetzige Präsident Wolodymyr Selenskyj nach seinem Amtsantritt dafür, dass mit Hilfe des Parlamentes ein Lobbygesetz verabschiedet wurde, das den Einfluss der Oligarchen offenlegte und etwas beschnitt (siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Wolodymyr_Selenskyj ). 

Wo ein freiheitlicher Handlungsraum mit dem Gesetzesraum und mit den Gesetzen zusammenspielt, mithin eine demokratisch politische Nation entstanden ist, sind die Ermächtigungstendenzen jedweder Souveränität zurückgedrängt worden. Dies betrifft sowohl die Exekutive als auch alle Instanzen, die ihre Ansprüche auf die politische Macht durch eine geschichtliche, göttliche oder auch wissenschaftliche Wahrheit geltend machen wollen. Sicherlich kann auch ein (religiöser, autokratischer, oder diktatorischer) Staat durch einen Gesetzesrahmen, der nicht demokratisch legitimiert ist, die Willkür einhegen. So mag zum Beispiel die Scharia der Anarchie einen Riegel vorschieben, indem sie gleichermaßen die "vertikalen" wie "horizontalen" Beziehungen jedes Menschen regelt. Es gibt Vorgaben dafür, wie sich die Menschen in der Gesellschaft und in der Familie zu verhalten haben (Straf- und Eherecht). Darüber hinaus wird auch die Gottesverehrung reglementiert, so dass alle Lebensbereiche in Bahnen verlaufen müssen, die der individuellen Spontanität ebenso wie einer übergeordneten Willkür entzogen sind, was die religiös legitimierte Souveränität nicht daran hindert, mit aller Härte gegen jene vorzugehen, die sich dieser ‚Anordnung‘ aus welchen Gründen auch immer wiedersetzen (Unter demokratischen Gesichtspunkten hat das Gesetz natürlich etwas verbindliches, kann aber keine überzeitliche Wahrheit für sich beanspruchen. Insofern ist es interessant, dass im Judentum die ‚Heiligkeit des Textes und der Gesetze‘ dadurch relativiert wird, dass man sie interpretieren muss. D.h., Gottes Wort wirkt hier nicht unmittelbar und es gibt auch keine Instanz, die eine wahre Interpretation für sich exklusiv beanspruchen könnte. Auch vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass die Ukraine mit Wolodymyr Selenskyj nicht nur einen Präsidenten hat, der ein Jurastudium abgeschlossen, der als Schauspieler, Moderator, Drehbuchautor und Produzent mit dem Bereich der ‚Erscheinungen‘ zu tun hat, im Unterschied zu der Sphäre der Essenzen und Wahrheiten, und der schließlich eine jüdische Herkunft hat). 

Die russische Wahrheit

Es bedarf keiner großen analytischen Anstrengung, um festzustellen, dass das Russland unter Putin weder freiheitlich noch rechtsstaatlich verfasst ist. Wer politisch kein opportunes Verhalten an den Tag legt, dem wird ein Prozess gemacht, der diesen Namen nicht verdient. Karl Schlögel spricht davon, dass im dritten Imperium von Putin, das auf das Russische und Sowjetische folgt, ein Totalitarismus neuen Typs entstanden sei, welcher auf Mythen, Zensur und Hassrede aufbaut. Es verbinden sich Ideen der nationalen Größe und einer geschichtlichen Mission, die zur ideologischen Stabilisierung der Verhältnisse beitragen, mit jenen Praktiken der Willkür, die all jenes – oft gewaltsam – beseitigen, was dieser Idee, oder besser, dem ideologisch unterfütterten Machterhalt im Wege steht. An anderer Stelle und mit Bezug auf den stalinistischen Terror der 30er Jahre und auf die analytischen Möglichkeiten der Literatur hinweisend, hier von Michail Bulgakow ‚Der Meister und Margarita‘, schreibt Schlögel:

"Der 'magische Realismus' Bulgakows öffnet den Raum für Beschreibungsmöglichkeiten, die den Geschichtswissenschaften weitgehend verwehrt sind: eine Geschichte der Verwirrung und Auflösung alles Festen, ein Raum des Phantastischen, das keineswegs irreal oder surreal ist - des Realphantastischen."
Schlögel, Karl. Terror und Traum: Moskau 1937. München: Hanser, 2008, S. 35 

Der stalinistische Terror, der Millionen von unschuldigen Menschen das Leben kostete und der selbst die innersten Machtzirkel der Partei permanent durchpflügte, von den Moskauer Prozessen (1936 – 1938) bis hin zu den ‚Aufräumarbeiten‘ im Politbüro während des Weltkriegs und danach, verdeutlicht sehr anschaulich, was passiert, wenn eine ideologische Wahrheit ungebremst und ungehindert von Regeln und Gesetzen sich ins Werk setzen will. Der dafür benutzte Begriff der ‚Bewegung‘ deutet an, dass hier nicht nur eine Dynamik am Werk ist, die jeden ‚Rückschlag‘ mit einer weiteren Beschleunigung beantwortet, sondern dass alle haltenden und gesetzten Momente schlicht überflüssig (gemacht) werden. Schon in der Oktoberrevolution von 1917 wurde von der jungen revolutionären Szene all jene Tugenden und Praktiken aussortiert, die dem revolutionären Furor entgegenstanden, als da wären: Bildung, Kultur, Recht und Rechtsstaatlichkeit, wobei auch im vorrevolutionären Russland die Beschäftigung mit Rechtsfragen und Rechtsräumen nicht ausgeprägt war (siehe auch: Karl Schlögel (Hrsg.): Wegzeichen: zur Krise der russischen Intelligenz ; Frankfurt am Main: Eichborn, 1990).

In diesem Sinn steht Putin auf dem festen Grund einer unguten Tradition, die er mit Modifikationen und Mischungen neuer und alter ideologischer Versatzstücke fortschreibt. Sicherlich muss man sich abgewöhnen, im ‚Realphantastischen‘ den Zauber einer anderen, schöneren und aufregenderen Wirklichkeit mitzuhören, um den Begriff sinnvoll zu verwenden. Aber trifft er – bereinigt um seinen märchenhaften Zauber - nicht sehr genau unsere Wirklichkeitswahrnehmung im Jahre 2022, wo in Europa wieder Krieg geführt wird, wo Sirenen in ukrainischen Großstädten, die vor nicht allzu langer Zeit als spannendes Touristenziel galten, vor Luftangriffen warnen, wo Zivilisten durch russische Soldaten erschossen und verscharrt werden. Und – um eines unserer hauseigenen realphantastischen Momente zu benennen -, wo wir uns Sorgen darum machen, ob nicht auch wir im kommenden Winter frieren werden. Wenn es also so ist, dass die russische Geschichte politisch gesehen von einer monadischen Souveränität durchsetzt ist, in der das Zusammenspiel von Handeln und Gesetz / Recht keinen Raum entfalten konnte und kann, worüber soll man dann in einem Krieg, indem es um diese Fragen, Fragen der Freiheit, der Selbstbestimmung, der Rechtsordnung geht, verhandeln?

Noch mehr Realphantastisches

Hätte der Westen all dies verhindern können? Der Verzicht auf eine Nato-Ost-Erweiterung hätte die Lage wahrscheinlich nicht verbessert, vielleicht bestimmte Konflikte schon frühzeitiger forciert. Die Ursache des Krieges und die Verantwortung für den Krieg liegen allein in Russland. Aber vielleicht gab es im ‚Westen‘ nach 1989 auch realphantastischen Momente, insofern der proklamierte Siegeszug des Liberalismus dazu führte, dass man wirtschaftspolitische Beschränkungen und Eingrenzungen als Relikte einer alten Zeit betrachtete. Auch hier wurde etwas in Bewegung gesetzt, eine Dynamik entfaltet, die zwar immer noch durch einen gesetzlichen Rahmen begrenzt wurde, aber zu fantastischen ökonomischen Volten führte, von denen die Finanzkrise im Jahre 2008 vielleicht das deutlichste Zeichen war. Welche Gefahren zum Beispiel von den neuen digitalen Plattformökonomien, die aufs engste mit der Finanzökonomie verwoben sind, ausgehen, kann noch gar nicht ermessen werden. Die von Joseph Vogl hierzu im Jahre 2021 vorgelegte Studie konnte mit ihrer von Pessimismus gefärbten Schlusssentenz nicht ahnen, wie komisch-tragisch die Wirklichkeit sich ganz anders verwirklichen würde, als gedacht:

„Auch wenn es keine Enden und keine pure Ausweglosigkeiten in der Geschichte gibt, muss man wohl konzedieren, dass die Feindseligkeit aller gegen alle nicht nur zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell, sondern zu einem überaus zukunftsfähigen Gemeinschaftsgefühl geworden ist. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es das Ferment einer neuen Vorkriegszeit liefern wird.“
Joseph Vogl: Kapital und Ressentiment: eine kurze Theorie der Gegenwart. München: C.H. Beck, 2021, S. 182

Dass ein politischer Freiheitsraum nicht umstandslos mit einem entgrenzten Wirtschaftsraum kompatibel ist, spürten insbesondere jene osteuropäischen Länder schon zu jenem Zeitpunkt, als sie ihre Freiheit erstritten, so Polen, oder machtvoll ergriffen haben. Etwas von dieser schmerzhaften Konflikthaftigkeit und von den damit verbundenen Effekten ist selbst noch in jener Propagandarede zu hören, die Putin am 30.09.2022 gehalten hat:

„Als die Sowjetunion zusammenbrach, beschloss der Westen, dass die Welt und wir und alle sich dauerhaft seinem Diktat unterwerfen sollten. 1991 dachte der Westen, Russland würde sich nach solchen Erschütterungen nie wieder erheben und von selbst in sich zusammenfallen. Das wäre auch fast passiert. Wir erinnern uns an die furchtbaren 1990er Jahre, an Hunger, Kälte und Hoffnungslosigkeit. Aber Russland blieb aufrecht, wurde lebendig, wurde stärker und nahm seinen rechtmässigen Platz in der Welt ein.“

Wladimir Putin (https://weltwoche.ch/daily/der-westen-behauptet-seit-jahrhunderten-dass-er-anderen-nationen-freiheit-und-demokratie-bringt-nichts-koennte-weiter-von-der-wahrheit-entfernt-sein-rede-von-putin-in-moskau)

Das kann weder eine Entschuldigung noch eine Erklärung für den von Putin entfesselten Krieg sein. Doch sollte es uns an jene Realphantasmen erinnern, mit denen wir meinen, die Welt unbegrenzt in Bewegung setzen zu können.

31. Oktober 2022 

Der russische Weg in die souveräne Destruktivität - Teil 1

Wie konnte es dazu kommen?

Wie konnte es zum Ukraine-Krieg kommen? Wie konnte es dazu kommen, dass Russland, entgegen der Einschätzung fast aller Politiker und Experten, die ganze Ukraine überfallen und mit Krieg und Gewalt überzogen hat? Nachher ist man immer schlauer. Im Nachhinein nimmt man die zahlreichen Zeichen, die auf ein solches Vorgehen hindeuteten, deutlicher – oder überhaupt– wahr und er- und verklärt sie nicht zu Marginalien. Ein Zeichen sind beispielsweise die Berichte von Anna Politkowskaja, in diesem Kontext in den Medien auch öfters erwähnt. Sie verbrachte mehrere Monate seit dem Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges im September 1999 in der Kaukasus-Republik (Ein weiteres Zeichen: am 7. Oktober 2006 wurde sie in Moskau erschossen).

Auch in diesem Krieg wurde von russischer Seite von einer „Antiterror-Operation“ gesprochen. Dabei stand ein fast 100.000 Mann starkes föderales Truppenkontingent einer 600.000 Menschen zählenden Bevölkerung Tschetscheniens und „2.000“ Rebellen gegenüber. Nach drei Kriegsjahren wurde trotz einer Ankündigung zur Beendigung des Krieges dieser einfach weitergeführt.

„Die Säuberungen gehen weiter, der Menschenhandel mit lebender und toter Ware ist zur wichtigsten ‚Kampfmaßnahme‘ der Armeeangehörigen in Tschetschenien geworden, Tausende Familien suchen nach verschleppten Angehörigen, können bestenfalls deren Leichen freikaufen bei den ‚Verteidigern der Heimat gegen den Terrorismus‘.
Die Taktik der Bombenteppiche aus der Anfangszeit des Krieges wurde abgelöst durch eine Strategie der Vernichtung der Menschen wie am Fließband.“
Anna Politkowskaja : Tschetschenien. Die Wahrheit über den Krieg, Frankfurt/M.2008 (2002), S. 141

Nun, dass Russland also kein Hort der Freiheit, kein Garant für den Aufbau eines friedlichen Gemeinwesens, kein Helfer in Rechtsstaatsfragen war, sollte schon damals offensichtlich gewesen sein. Wie genau kann man also die Zukunft aus der Vergangenheit ableiten kann? Wäre eine solche Frage aber nicht lediglich ein Baustein einer weiteren Illusion? Hingegen: was hat uns daran gehindert, unser Denken und Handeln konsequenter an den Dingen ausgerichtet zu haben, die uns als Erfahrung zugänglich waren?

Der Einbruch des Irrationalen?

Richard Herzinger spricht in seinem Online-Essay „Das ganze Ausmaß der Gefahr“ von einem tiefen Täuschungsbedürfnis der westlichen Gesellschaften. ( https://www.perlentaucher.de/intervention/erinnerung-an-andre-glucksmann-der-seit-jahrzehnten-vor-putins-angriffskrieg-warnte.html vom 14.04.2022 ) Schon der Balkan-Krieg und auch der 11. September 2001 hätten gezeigt, dass Bedrohungen nicht wahrgenommen oder möglichst lange klein geredet worden seien. Und worauf gründet diese Verkennung? Herzingers Antwort: Verleugnung oder Beschönigung des Bösen und der (falsche) Glaube an die Humanisierungsmacht des ökonomischen und wissenschaftlichen Fortschritts. Er schreibt:

„Dass es Kräfte gibt, die dieser Logik nicht zugänglich sind und mit äußerster Gewaltbereitschaft ihre Zerstörung betreiben, hat in dieser Vorstellung keinen Platz.“

Dieses Fazit ist insofern bemerkenswert, als dass der sogenannte ökonomische und wissenschaftliche Fortschritt bekannter Maßen in sich selbst enorme Zerstörungspotentiale birgt. Es ist also nicht von vornherein abwegig oder irrational, sich dieser „Logik“ zu widersetzen. Woran soll man also den von Herzinger konstatierten Einbruch des radikal Irrationalen festmachen, wenn Wirtschaft und Wissenschaft den eigenen Rationalitätsansprüchen nicht immer genügen können. Es bleibt die Moral und ein manichäisches Weltbild: wenn das Böse als eigenständige Instanz existiert, müssen wir darauf hoffen, dass unsere Urteilsfähigkeit in moralischen Fragen funktioniert. Herzinger scheint in diese Richtung zu denken, wenn er schreibt, dass der Leitgedanke des „politischen und moralischen Handelns der demokratischen Welt (…) die Abwehr der äußersten Unmenschlichkeit sein“ muss. Was aber wiederum die Abwehr der „äußersten Unmenschlichkeit“ ist, so könnte man Herzinger, bei aller Sympathie für seinen Standpunkt, entgegenhalten, ist wiederum eine politische Frage.

Die Destruktion in uns und die Grenzen der Triebveredelung

Sigmund Freud hat sich in zwei kleineren Texten explizit mit dem Krieg auseinandergesetzt. "Zeitgemäßes über Krieg und Tod" erschien 1915, und "Warum Krieg" als eine Antwort auf einen Brief von Albert Einstein im Jahre 1933. In beiden Texten spricht er davon, dass die Kultur entscheidend dazu beiträgt, unsere ambivalente Triebstruktur in gemeinverträgliche Bahnen zu lenken. In "Zeitgemäßes über Krieg und Tod" ist es laut Freud vor allem unsere unbewußte Einstellung zum Tod, die sich in Kriegszeiten auf ungute Weise modifiziert: die Verleugnung des Todes führt dazu, dass wir uns als Helden sehen (man müsste wohl präzisieren: primär Männer sehen sich als unsterbliche Helden), die nicht an den Tod glauben; dass wir Fremde nur als Feinde begreifen; dass wir über den Tod einer geliebten Person hinwegsehen. In dem späteren Text spricht Freud dann von zweierlei Triebarten, die Zusammen- und Gegeneinander wirken. Es handelt sich, so Freud, zum einen um die erotischen Triebarten und zum anderen um den Todes- oder Destruktionstrieb. Während die ersteren produktiv die Beziehungen und die Bindungen zu den Dingen und Menschen forcieren, ist das Ziel des zweiteren von ganz anderer Art:

„Mit etwas Aufwand von Spekulation sind wir nämlich zu der Auffassung gelangt, dass dieser Trieb innerhalb jedes lebenden Wesens arbeitet und dann das Bestreben hat, es zum Zerfall zu bringen, das Lebens zum Zustand der unbelebten Materie zurückzuführen.“
Sigmund Freud: Warum Krieg?, in: Sigmund Freud: Kulturtheoretische Schriften. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1986, S. 282

Für Freud ist es offensichtlich, dass dieses Destruktions- und Aggressionsmoment nicht gänzlich zum Verschwinden gebracht werden können. Der Kulturprozess kann lediglich dafür sorgen, dass durch Erstarkung des Intellekts und durch Verinnerlichung der Agressionsneigung die Triebziele verschoben und Triebregungen eingeschränkt werden, so Freud weiter.

Peter Widmer hat in seinem Buch „Destruktion des Ichs“ versucht, dieses nicht unstrittige Freudsche Konzept mit der Lacan’schen Signifikantentheorie zu erweitern. Mit dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan geht Widmer davon aus, dass der Mensch als Sprachwesen und durch seine Versprachlichung ein strukturell unvollständiges Wesen ist und bleibt, das immer wieder mit „Mängeln“ und „Sinnlöchern“ konfrontiert wird.

„An der Stelle der Mängel treten Objekte, Bilder, Erinnerungen, Phantasien, welche die Leerstellen füllen oder gar nicht aufkommen lassen. (…) Aber die Objektbeziehungen vermögen den Mangel an Substanz, den Mangel an Sein nicht vollständig zu decken.“
Peter Widmer: Destruktion des Ichs Psychoanalytische Annäherungen an den Ursprung menschlicher Aggression. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2021, S. 249

Der Mangel an Sein kann das Einfallstor für den Destruktionstrieb sein, der dabei keineswegs irgendeine Art von Befriedigung in der Welt such, sondern den Nullpunkt des Seins, das selbst Nichts anvisiert.

„Zwei Wege stehen dabei offen: entweder alles zerstören, was Nicht-Ich ist, um das Ich hervorzuheben (…), oder das Ich untergehen lassen, um auf diese Art ins Nichts einzutauchen.“
Peter Widmer: Destruktion des Ichs Psychoanalytische Annäherungen an den Ursprung menschlicher Aggression. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2021, S. 249

Das heißt, das Böse, wenn man die Destruktionsneigung damit in Verbindung bringt, ist keineswegs eine Art von Substanz, die wir außerhalb von uns bei anderen bösen Menschen verorten können, sondern ist eine „natürliche Möglichkeit“ unseres Seins, ein Teil von uns, das unter ungünstigen Umständen eine besondere Aktualisierung erfahren kann. Nebenbei: vielleicht entspringt aus diesem Realismus auch eine besondere Freudsche Menschenfreundlichkeit, wenn er davon spricht, dass man all jenen, die sich gegenwärtig unkulturell benehmen (er schreibt dies 1915), nicht generell die Kultureignung absprechen muss (siehe: Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, in: Sigmund Freud: Kulturtheoretische Schriften. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1986, S. 46).

Aber wie hilft dieser kleine Exkurs in Bezug auf die den russischen Angriffskrieg und auf die russische Aggression weiter? Wenn es keine destruktionsfreien Formen des Zusammenlebens gibt, stehen moralische Forderungen wie zum Beispiel nach Frieden (um jeden Preis) oder nach einer Intervention zur Abwehr „äußerster Unmenschlichkeit“ immer vor der Frage, mit welchen Mitteln oder nach welchen Maßstäben gehandelt werden soll. Vor allem sind solche Diskurse oftmals mit destruktionsverleugnenden Momenten durchmischt, was wiederum dazu führt, dass ihre eigenen Artikulationen von einer untergründigen Aggression begleitet werden, die die politischen Fragen eher verdecken als befördern. Was also ist in diesem Kontext „eine“ oder „die“ politische Frage?

Die gebundene Welt

Das mit dem Jahr 1989 oftmals kolportierte Ende der Geschichte erwies sich an vielen Orten als eine massive Entortungserfahrung. Wenn Dinge sich auflösen und fraglich werden, ist die Suche nach einer neuen Ordnung und einer neuen Struktur mehr als nur eine theoretische, sie ist eine genuin politische Frage. Besteht der Sinn von Politik also darin, eine Ordnung zu schaffen? In einem Fragment aus dem Nachlass beantwortet Hannah Arendt die Frage nach dem Sinn von Politik mit dem oft zitierten Satz: „Der Sinn von Politik ist Freiheit.“ (Hannah Arendt: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass. München: Piper, 1993, S. 28).

Aber so scheinbar einfach die Antwort, so schwierig die geschichtlichen Realisierungsformen. Man denke nur an die totalitären Staatsformen, in denen das Leben der Menschen einer totalen Kontrolle unterliegt – von Freiheit keine Spur. Arendt weist darauf hin, dass schon mit Beginn der Neuzeit nicht (nur) die Freiheit, sondern die Sicherheit (des Individuums) und später die Produktivität (der Gesellschaft) in den Mittelpunkt des politischen Handelns rückte. Das heißt, die Politik kümmert sich um die lebensnotwendigen Dinge, um Produktion und Reproduktion, um Gesundheit und um die Sicherheit der Menschen. Was im klassischen Sinne die Voraussetzungen für das politische Handeln abgab, rückt nun in das Zentrum der Politik.

Dies umso mehr, als dass zu Beginn der Neuzeit mit dem dreißigjährigen Krieg eine Krisenerfahrung gemacht wurde, in der die – religiös entfesselten - Destruktionskräfte auf breiter Ebene und über eine lange Zeit dominierten. Die Krisenantwort bestand bekanntlich nicht aus einer Freiheitsbefragung, sondern darin, die Sicherheit und die Ordnung in das Zentrum der Überlegungen zu stellen. Mit Hobbes wird der absolutistische Staat eine quasi allmächtige Instanz, die über die Einhaltung der Gesetze wacht und die Übertretungen bestraft. Zum Preis der Unterwerfung wird dem Bürger die Sicherheit und die Unversehrtheit seines Lebens garantiert.

Das Gesetz bindet hier den Souverän ebenso wie den Bürger und stiftet somit Frieden. Um wieder auf Hanna Arendt zurückzukommen: für sie ist die ‚gesetzliche Friedensstiftung‘ der Ursprung des römischen Gesetzesbegriffs („Lex“), nämlich die Lösung der Kriegsfrage durch eine Abmachung, die neue Bezüge zwischen den (ehemals feindlichen) Menschen stiftet und so die Gewalt stoppt (Siehe Arendt 1993, S. 108 ff.). Während für die Römer die Gesetze in den Bereich des Politischen fallen, ist der griechische Gesetzesbegriff anders gefasst. Der „Nomos“ ist eine prä-politische Angelegenheit, die von einem Gesetzgeber erdacht und installiert werden musste, bevor es zum eigentlichen politischen Handeln kommen konnte. Die ‚Funktion‘ des Gesetzes war deshalb auch eine andere. Es sollte verhindern, dass das politische Handeln in seiner „Maßstabslosigkeit und Unersättlichkeit“, wie Hannah Arendt schreibt, sich in immer größere und undurchsichtigere Bezugsysteme verliert, die in ihrer Flüchtigkeit keine Form der Erinnerung und Bewahrung mehr ermöglichen.
In unserem Zusammenhang ist wichtig, dass das Gesetz in dieser Form primär keine moralische Funktion hat.

„Wir sind so gewöhnt, Gesetz und Recht im Sinn der Zehn Gebote als Gebote und Verbote zu verstehen, deren einziger Sinn darin besteht, dass sie Gehorsam fordern, dass wir den ursprünglich räumlichen Charakter des Gesetzes leicht in Vergessenheit geraten lassen. Jedes Gesetz schafft vorerst einen Raum, in dem es gilt, und dieser Raum ist die Welt, in der wir uns in Freiheit bewegen können.“
Hannah Arendt: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass. München: Piper, 1993, S. 122

Handeln und Souveränität

Gehen wir für einen emphatischen Politikbegriff davon aus, dass Gesetze nicht nur die Voraussetzung für einen politischen Raum bieten, sondern selbst Teil des politischen Raumes sind und auch Teil dessen werden können, worauf sich politisches Handeln bezieht, so zum Beispiel mit der Frage der Beziehung von Recht und Gerechtigkeit. Wie wir weiter oben erwähnt haben, können die Gesetze auch eine Stabilisierungsfunktion gegen destruktive Tendenzen innerhalb eines politischen Raumes darstellen, womit sie ebenfalls eine politischen Funktion erfüllen, da sie den Bezügen der Menschen untereinander einen gemeinsamen Ankerpunkt verleihen.

Arendt betont immer wieder, dass die Welt der Bezüge aber nur durch das Zusammenspiel und ein Zusammenhandeln der Vielen entstehen kann. Das politische Handeln erschafft einen Zwischenraum, der eigentlich niemandem ‚gehört‘. Die daraus entstehende Macht kann geschwächt werden, beseitigt werden kann sie nur durch Gewalt.

Wie aber ist es nun um die Souveränität bestellt? Sie ist eine Kategorie, die mit dem politischen Handeln, so man es als ein freiheitliches Handeln auffasst, aus verschiedenen Gründen nicht eigentlich in Verbindung stehen kann. Schon rein logisch ist es so, dass ein freiheitliches Handlungsmoment nicht nach einem Plan oder einer Direktive ablaufen kann, so man die Souveränität in diesem Zusammenhang als absolute Verfügung eines sich selbst wissenden und wollenden Grundes auffasst, der sich mit einer Ablaufnotwendigkeit verwirklicht. Es wäre dann kann Handeln mehr, sondern lediglich ein Ausführen. Weiterhin ist es so, dass jedes genuine Handeln in ein unabsehbares und vielfältiges Handlungsgeflecht eingebettet ist, das von keinem (souveränen) Punkt aus zu kontrollieren ist. Und schließlich ist das Handeln selbst für den Handelnden nicht gänzlich durchsichtig. Im Handeln, im Sprechen, sagt man immer mehr oder immer weniger als man intendiert. Die Bedeutung ist immer auch ein nachträglicher Effekt, so gut man auch die Worte zuvor überlegt hat.

Insofern ist mit der Souveränität kein freiheitsstiftendes, sondern maximal ein lebenssicherndes (planendes) Moment verbunden. Wenn der Souverän, zum Beispiel in Form eines absoluten Herrschers oder eines Staates mit dem Gesetz zusammengeht, so kann das zweifelsohne eine stabilisierende und verlässliche Ordnung hervorbringen, jedoch keine per se freiheitliche. Denn das freiheitliche Handeln der Vielen spielt sich jenseits der Souveränität ab, hat allenfalls das Gesetz als freiheitsermöglichende Bedingung zur Voraussetzung. Daher ist es auch eine Verkennung, zu meinen, dass der Demos, also das Volk und der Volkswillen den Souverän verkörpert. Es gibt im eigentlichen Sinne keinen Souverän, da das Freiheitsmoment allein im ‚unsouveränen‘ Handeln aufgehoben ist, der im ‚Nomos‘ seinen Raum und seine Begrenzung findet. Daher schreibt der der französische Theoretiker Claude Lefort:

"In meinen Augen ist das Wesentliche, dass die Demokratie sich dadurch instituiert und erhält, dass sie die Grundlagen aller Gewissheit auflöst.”
Claude Lefort: Die Frage der Demokratie; in: U. Rödel (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie; Frankfurt/M. 1990 (1983); S. 296

Laut Lefort ist daher in einem demokratisch-republikanischen Raum der Platz derMacht leer oder zumindest nicht stabil und nicht auf Dauer zu besetzen. Wenn der Souverän und die Souveränität in diesem Kontext die homogene und einheitliche Grundlage der Entscheidung markiert, die zugleich mit ihrer Durchsetzungskraft und ihrem Gewaltpotential einhergeht, so ist das Gesetz die (gemeinsam errichtete) Schranke, sowohl gegen die Willkür des Einzelnen, gegen seine Destruktivität, als auch der Ermöglichungsgrund eines Raumes, in dem wir uns, wie Hannah Arendt sagt, frei bewegen können. Insofern ist das Handeln auf das Gesetz angewiesen, wie umgekehrt das Gesetz vor seiner Erstarrung dadurch bewahrt wird, dass es durch das Handeln herausgefordert und auch modifiziert wird.

Auch wenn das Begriffs-Dreieck "Handeln - Gesetz - Souveränität" sehr schematisch ist, so vermag es doch rudimentär eine Vorstellung davon zu geben, wie ein spezifischer politischer Raum (mit seiner Zeitlichkeit) diese politischen ‚Grundkoordinaten‘ einbindet, ausblendet und gewichtet und wie es damit um diesen Raum bestellt ist.

30. September 2022

Schwingt nach (für J.-E. Berendt)

Das Pfeifen im Walde ist sprichwörtlich. Gefahr droht und das Peifen, also im weitesten Sinne eine musikalische Aktion, versucht die Situation zu entschärfen, versucht den eigenen Mut wieder zu finden. So ist Musik, wie fest oder lose diese Verbindung auch gesponnen wird, immer auch ein guter Wegbegleiter, der sich uns zugesellt, ohne dass wir genau wissen, woher er eigentlich kommt. Vermutungen:

“Der beste Beweis, dass die Musik keineswegs menschlicher Natur ist: Sie ruft nie die Vorstellung der Hölle hervor.”
E. M. Cioran: Von Tränen und Heiligen; Frankfurt/M. 1988 (1986), S. 30

So die Hölle die Ausweglosigkeit markiert, so die Musik die Möglichkeit vieler und anderer Ausgänge. Sie trägt ihren Vermittlungsraum, zumindest ein Teil dieses Raumes, praktischer Weise gleich mit. Und wo Vermittlung mitschwingt, ist es um alle Einseitigkeiten geschehen. Nicht nur ist Musik Schichtung, Differenz und Rhythmus, sondern ein Oszillieren:

"Denn es gibt in der Primärgestik aller Musik einen Dualismus von Ausfahrt und Heimkehr." 
Peter Sloterdijk: Weltfremdheit. Frankfurt am Main, 1993, S. 301

Als Jugendlicher war für mich diese Bewegung unendlich wichtig, da sie - auch in ihren trivialeren Varianten - ein anderes Leben verhieß, indem nicht nur bestehende Formen negiert wurden, sondern ein anderes Sein, wie rudimentär auch immer, eingelöst wurde:

"Die beiden ewig konkurrierenden Beschreibungen der Pop-Musik, insbesondere ihrer heroischen Momente in Gegenkultur, Punk und Rave - großes glückliches Ja und großes sarkastische Verweigerung - bilden eine Einheit: ein Nein im Modus des Ja und umgekehrt." 
Diederichsen, Diedrich. Über Pop-Musik. Kiepenheuer & Witsch, 2014, S. XIII

Mögen sich das Ja und das Nein auch kompliziert verhaken, so übersteigt die Musik diese eigenartige Dialektik doch wiederum im Sinne einer grundlegenderen Bejahung. Nicht eigentliche Bejahung dessen was ist, sondern des vielfach ge- und entfalteten Seins (der Schichtungen, Differenzen, Rhythmen, s.o.). Und weiter:

“Es gibt keine Kultur - von den Indern der Upanischaden bis zu den Juden der Psalmen, von den Babylonieren bis zu den Azteken, von den Ägyptern bis zu den Japanern, von den Sufis bis zu den Balinesen -, die nicht weiß und erfahren hat: Musik ist ein Lobgesang.”
Joachim-Ernst Berendt: Das Dritte Ohr. Vom Hören der Welt; Reinbek 2004 (1985); S. 368

Und es gibt ganz wenige Bücher, die mich in Bezug auf ein Thema mit solcher Sachkenntnis, Freundlichkeit und Leidenschaft adressiert haben, wie dieses Buch von Joachim-Ernst Berendt. Zur Person: Berendt wäre vor gut einem Monat 100 Jahre alt geworden (* 20. Juli 1922 in Berlin-Weißensee; † 4. Februar 2000 in Hamburg). Als Musikjournalist und Musikproduzent hat er sich nach dem Krieg nicht nur in Deutschland für die Vermittlung und Förderung der Jazz-Musik verdient gemacht. Insbesondere sein 1953 veröffentlichtes Jazzbuch wurde ein großer Erfolg. Und schon in den Zitat-Widmungen zu Beginn des Buches wird seine eigene Denkungsart sichtbar: "Man lernt nichts kennen, außer man liebt es. Goethe / Du mußt lieben, um spielen zu können. Luis Armstrong / Der wichtigste Beitrag, den du für die Tradition leisten kannst, ist, deine eigene Musik machen - eine neue Musik. Anthony Davis / In der Musik gibt es etwa, das mehr ist als Melodie, mehr als Harmonie: die Musik. Guiseppe Verdi".

Und ganz sicherlich hat diese Denkungsart und dieser Ton wiederum mit seiner Hinwendung zu den philosophischen und spirituellen Dimensionen der Musik zu tun, mit denen er sich später auseinandersetzte. Anfang der 80er Jahre sendete der Südwestfunk das zweiteilige Radio-Feature „Nada Brahma. Die Welt ist Klang“, aus dem auch das gleichnamige Buch entstand. Einige Jahre später erschien von Berendt „Das Dritte Ohr. Vom Hören der Welt“, aus dem schon weiter oben zitiert wurde und in dem das Hören in seiner zentralen Bedeutung für unseren Weltbezug entfaltet wird. Dabei arbeitet Behrendt nicht nur die existentiellen, sondern auch die (gesellschafts-) politischen Implikationen heraus, die mit dem Hören verbunden sind. Exemplarisch dafür, mag das folgende Zitat stehen. 

“Und die Aggressivität, die die Psychologen als Folge der Überbetonung des Sehsinns beobachtet haben, gewinnt ihr wahres Gewicht in Bezug auf das, was sie für unsere Zivilisation bedeutet, erst dann, wenn gleichzeitig die entsprechenden Ergebnisse für den Hörsinn beachtet werden: Rezeptivität, Milde, Feminität, Verständnis, Zurückhaltung, Aufnahmefähigkeit, Offenheit, Toleranz.”
Joachim-Ernst Berendt: Das Dritte Ohr. Vom Hören der Welt; Reinbek 2004 (1985); S. 56

Der Spiegel brachte am Tag von Berendts Tod, also am 04.02.2000, unter der Überschrift „Jazzpapst Joachim-Ernst Berendt ist tot“, die Meldung: „Berendt, der Wegbereiter des Jazz in Deutschland, ist in Hamburg bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Berendt war Autor des meist verkauften Jazzbuches der Welt und 1945 Mitbegründer des Südwestfunks.“

Die besondere und tragische Pointe dieses bemerkenswerten Lebens wird hingegen in dem Wikipedia-Eintrag zu seiner Person nachgereicht:

„Auf dem Weg zu einer Vorstellung seines Buches „Es gibt keinen Weg. Nur gehen.“ überquerte er trotz des roten Ampelsignals eine Straße.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Joachim-Ernst_Berendt Stand 21.08.2022

Aber vielleicht war es im eigentlichen Sinne kein Unfall, sondern die tragische Veranschaulichung seiner Einsicht, dass wir an den zugespitzten visuellen und technischen Imperativen unseres Zeitalters Schaden nehmen werden. Hingegen lautet sein Plädoyer für eine keineswegs esoterische Spiritualität, die Schwingungs- und Rhythmuspotentiale des Universums und des Menschen ernst zu nehmen (also das Universum als Musikinstrument, das Individuum als Manifestation des Universums zu begreifen). So wir umgekehrt aufhören, auf das zu hören, was mit uns in einer schwingenden Beziehung steht, werden wir implodieren oder überrollt. *

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* Es ist ermutigend, dass auch in dem rationalitäts- und fundierungsverliebten Fachgebiet der Soziologie inzwischen an diese Gedanken angeknüpft werden kann und einige Lockerungsübungen möglich sind. Siehe zum Beispiel: Hartmut Rosa: Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin, 2016

23. August 2022  

Auto, Tausch und Tod

Als junger Mensch, ich war vielleicht neunzehn oder zwanzig, die Szene spielt also in den 8oer Jahren, kann ich mich an einen Besuch bei einem Freund erinnern, ich würde sagen: damals mein bester oder besser, mein interessantester Freund, der mir ein Buch zeigte, das er kürzliche gekauft hatte: Jean Baudrillard, Titel „Der symbolische Tausch und der Tod.“ Das Buch hatte einen grauen Einband, kein Hardcover, der wiederum aus gröberen, d.h. ungestrichenen festeren Papier bestand. Es hatte etwas Raues, Direktes, Ursprüngliches. Ich habe noch ein kleines Rimbaud-Buch, Seiten-Sprünge von 1986, ebenfalls bei Matthes & Seitz verlegt, das die gleiche Einband-Qualität aufweist.

(Nebenbei: darin die berühmten Worte „ES DENKT MICH. (…) ICH ist ein ANDERER.“ 
Arthur Rimbaud: Seiten-Sprünge. Debatte 26. München: Matthes & Seitz, 1986.S. 24

In diesem Zusammenhang, der sich noch gar nicht hergestellt hat, auch schön: 
„Kapitalisten Könige Parlamente: Krepiert!
Gewalt, Gesetz Geschichte: Kratzt ab!
Das steht uns zu: Blut! Blut!
Die Flamme des Goldes!“
Ebda, S. 73 – Ja, die Jugend!)

Vielleicht irre ich auch, was den Einband angeht. Der Titel sollte jedoch über die Jahre fest im Gedächtnis verankert bleiben, obwohl ich damals gar nicht wußte, was in dem Buch verhandelt wird. Ich habe es erst viele Jahre später gelesen. Aber der Titel „Der symbolische Tausch und der Tod.“ war eine poetische Chiffre, eine noch ausstehende Verheißung für ein umfassendes, wenn auch esoterisches Seinsverständnis (Die französische Originalausgabe von 1976 heißt übrigens"L'échange symbolique et la mort"). Ich bin heute der Meinung, dass Baudrillard mit vielen seiner theoretischen und politischen Ausführungen neben der Spur liegt. Aber wie mir scheint, hat ein zentrales Motiv seines Denkens, das in dem besagten Titel auch schon angelegt ist, weiterhin Gültigkeit. Nämlich die Abkehr von einem linken ökonomischen Determinismus (1976!) hin zu einem Denken, das - nennen wir es hier der Einfachheit halber - das ‚undenkbare Andere‘ zum Anstoß für ein ‚anderes Sein‘ nimmt. 

“Und die Naivität des (liberalen oder revolutionären) humanistischen Denkens liegt darin, nicht zu sehen, dass seine Ablehnung des Todes im Grunde die gleiche wie die des Systems ist: die Ablehnung von etwas, was dem Wertgesetz entgeht.”
Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod; Berlin 2005 (1976), S. 273

Daher bleibt umgekehrt auf symbolischer Ebene der Tausch, auch wenn er reale Dinge - wie zum Beispiel beim Schenken - mitumfasst, immer ein ‚paradoxer‘ Tausch, weil man keine Werte austauscht, die nach einem Wertesystem in Beziehung gesetzt werden können, sondern im Grunde genommen etwas teilt, das niemand besitzt und für das es keinen Maßstab gibt, den man sich aneignen könnte. Vielleicht könnte man sagen: Der symbolische Tausch ist eine Teilung von etwas, das es nicht ‚gibt‘, uns aber (oder deshalb) affiziert. Das hat etwas – im freudschen Sinne – Unheimliches, ganz im Gegensatz zur Kommunikation, in der wiederum versucht wird, das Wertgesetz auf symbolischer Ebene einzuführen, indem die ‚Information‘ zur Wert-Einheit wird, die bruchlos vom Sender zum Empfänger und wieder zurück transferiert werden kann (In gleicher Weise tauschen / schenken wir heute keine Dinge mehr, sondern begleichen Außenstände, die immer im richtigen Verhältnis zueinander stehen müssen; aber so einfach ist das auch nicht). 

In diesem Sinn kommt man dem Tod (und dem Sein) immer dort näher, wo der Tausch, das Geschäft, die Transaktion nicht aufgeht. Daraus lassen sich zahlreiche Schlussfolgerungen ziehen, zum Beispiel - sehr witzig - , dass der Kunstmarkt der Tod der Kunst ist. An den Rändern des Lebens spielt das Leben mit den größten Einsätzen. Deshalb sind Drogen und ihr Konsum ein äußerst sensibles Thema, weil man mit ihnen in die Tektonik ganzer Gesellschaften eingreift (das Handels- und Konsumverbot, das für zahlreiche Drogen gilt, führt – unschwer ist diese Wendung zu erahnen - zur Wiederkehr des Verdrängten, dergestalt, dass Drogenanbau und die Distribution eine äußerst große Schattenökonomie bilden, die durch umfassende Gewalt sich auszeichnet. Und vielleicht ist auch hier die Gewalt ein Zeichen dafür, dass es keine ‚reine‘ Ökonomie geben kann). Im Eskapismus, in der Bewusstseinserweiterung und im körperlichen, geistigen oder finanziellen Ruin teilen uns Drogen mit, dass es keine normale Lebensökonomie gibt.

"Jeder Drogenkonsum beruht auf einem Gegengeschäft. Wer sich darauf einlässt, der bietet eine selbstverständliche Funktion seines Körpers - vorausgesetzt alles dort befindet sich in einem guten Zustand -, um eine außergewöhnliche Fähigkeit einzutauschen. Ein gutes Hautbild beispielsweise kann zum Tauschobjekt werden, eine unproblematische Leberfunktion, ein zuverlässiges Gedächtnis. Möglicherweise auch Lebenszeit. Unter Umständen das Leben selbst." 
Alexander Wendt: Kristall: eine Reise in die Drogenwelt des 21. Jahrhunderts. Tropen Sachbuch. Stuttgart: Tropen, 2019. S. 9

Das Gegengeschäft, das wir mit den Drogen eingehen, geht oftmals nicht auf. Wir bekommen immer mehr oder immer weniger von dem, was wir wollen, that’s life. Dennoch: das Drogenproblem der Moderne besteht nicht aus den Drogen – Wie Alexander Wendt anmerkt, stammen fast alle Drogen der Moderne aus der Schweiz oder Deutschland, weil: „Nirgends stand zwischen 1860 und 1930 die Wissenschaft der Chemie höher.“ Ebda, S: 65 -, sondern darin – so könnte eine These lauten –, dass wir mit den Drogen den Tod (und das Leben) nicht teilen, sondern uns durch die Drogen oftmals arbeits- und freizeittechnisch optimieren wollen: die Inwerksetzung eines ökonomisch grundierten Exzesses: drogeninduzierte Todesverdrängung.

Der Stoff, aus dem einige bemerkenswerte Science Fiction-Romane sind, handelt von Drogen, die so perfekt sein sollen, dass der Tod (als schlechtes Hautbild, schlechtes Gedächtnis, schlechte Leberfunktion) nicht wiederkommt. Klassiker wie "Schöne neue Welt" (1932) von Aldous Huxley oder "Der futurologische Kongreß" (1971) von Stanisław Lem, um nur zwei berühmte Bücher zu nennen, sind hier einschlägig. In gewisser Weise handelt auch Christoph Höhtkers Roman „Schlachthof und Ordnung“ von einer solchen Droge. Ihr Name lautet Marazepam und sie wird im Roman als Marom R. durch den Pharmakonzern Winston Pharma and Medical Care Deutschland Ltd. vertrieben. Die Wirkung ist so erstaunlich, dass die Konsumenten sogar Dankesbriefe an den Konzern schreiben: 

"Marom R hat mich abgedichtet, meinen Kopf uneinnehmbar gemacht. Ich bin friedlich und frei, und ich habe Lust, Dinge zu tun. Ich bin aktiv und abends aber schlafe ich wie ein Stein. (...) Es ist, als hätte Marom in mir eine wärmende, unauslöschliche Flamme entzündet; manchmal glaube ich sogar, Marom selber ist diese Flamme." 
Christoph Höhtker: Schlachthof und Ordnung: Roman. Zürich: weissbooks.w, 2020. S. 52 f.

Hört sich gut an, auch wenn sich herausstellt, dass der – eigentlich nicht notwendige (sic) – Entzug sich schwierig gestaltet. Die Droge scheint den Tod abzuweisen, ihn fast zum Verschwinden zu bringen. Doch dieser kehrt an anderer Stelle wieder: es gibt Schusswechsel, Familiendramen, Tote.

Auch einer der Protagonisten des Buches, Patrick Esnèr, hat zum Tod eine innige Beziehung. Er arbeitet für einen französischen Schlachtkonzern als Pressesprecher. Nach außen verkauft er das Produkt, das geschlachtete Tier, und den Prozess des Schlachtens professionell und weist auf die Fortschritte für das Tierwohls hin. Nach der Arbeit lässt er seinen Lebensfrust in sadistischer Weise an den Schweinen aus, indem er ihnen vor der Schlachtung die Nasen abschneidet. Zudem ist er unzufriedenes Mitglied in der sozialistischen Partei und möchte perspektivisch als Manager bei dem schon erwähnten Marazepam-Pharmakonzern einsteigen. Folgende Stelle ist gleich auf den Anfangsseiten des Buches zu finden, auch wenn sie für den weiteren Verlauf der Handlung nicht besonders wichtig ist (aber wer weiß das schon):

"Patrick Esnèr hatte es eilig. Mit langen Schritten eilte der Dreiundvierzigjährige über den windigen Firmenparkplatz, ließ bereits aus zwanzig Metern Entfernung per Fernbedienung die Türschlösser aufspringen und warf sich kurz darauf mit einem energischen Schwung in den mattschwarzen, schon etwas angejahrten, jedoch weiterhin relativ zuverlässigen und zeitgemäßen sowie relativ bis völlig unerheblichen Citroen DXC E-Wavecross."
Christoph Höhtker: Schlachthof und Ordnung: Roman. Zürich: weissbooks.w, 2020.S. 24

Die Erwähnung eines Automobils, zumal eines bestimmten Automobils, ist in einem Roman natürlich überterminiert, könnte man vermuten (ich kann mich an Paul Auster-Romane erinnern, wo der ‚Held‘ zum Beispiel einen Saab fährt; oder der Nachwende-Roman von Lutz Seiler “Stern 111“, wo ein „Schiguli“ eine wichtige Rolle spielt usw.). Ein Automobil verkörpert schon durch seinen Wortsinn - übersetzt ‚Selbstbeweger‘ - ein Fortschritts- und meist auch ein Freiheitsmonent; man denke an die vielen Roadmovies. Obwohl in dem Höhtker-Roman Autos durchaus eine Rolle spielen, wird im obigen Zitat explizit auf die völlige Unerheblichkeit des Automobils der Marke Citroen hingewiesen. Die Attribute zuverlässig und zeitgemäß lassen den Puls nicht höherschlagen. Wenn man den zwei Jahre später erschienen neuesten Roman von Michel Houellebecq liest, der im Wahljahr 2027 spielt, könnte man fast meinen, dass hier eine Antwort auf die von Höhtker ausgerufene Mediokratisierung der französischen Automarke gegeben wird.

"Größtenteils vom Staat refinanziert, der damit de facto die nahezu vollständige Kontrolle übernommen hatte, hatte sich der Automobilkonzern darangemacht, die Luxusklasse zurückzuerobern, und sich dabei auf eine einzige seiner Marken konzentriert: Citroen."
Michel Houellebecq: Vernichten. Köln: DuMont, 2022. S. 36

„Vernichten“ ist ein für Houellebecqsche Verhältnisse sehr melancholischer Roman, in der schließlich sogar die zwischenzeitlich sehr brüchige Ehe des Hauptakteurs zu einer guten Form findet, die Eheleute also wieder zueinander finden, auch wenn der Tod des Mannes dieser Wiedervereinigung ein zu frühes Ende setzt. Wie überhaupt der Roman, auch wenn er nicht zu den Besten im Houellebecqschen Oeuvre gehört, nicht nur den Respekt für das Alter und die damit einhergehenden meist unangenehmen Metamorphosen anmahnt, sondern auch die Spiritualität und die Transzendenzbemühungen als ernsthafte Lebensoptionen aufgreift.

Und ist nicht auch die Fiktion des Aufstiegs von Citroen als die weltweit führenden Auto-Luxusmarke in mehrfacher Hinsicht eine Wiederauferstehung, wo doch Citroen in der realen Welt inzwischen in den niederländischen Stellantis-Konzern eingegliedert wurde, zu dem u.a. auch Chrysler, Dodge, Fiat und Opel gehören. Vielleicht berührt mich dieser Roman-Hinweis auch nur deshalb, weil ich selbst einen gebrauchten Citroën C5 Tourer fahre, der sich dadurch auszeichnet, dass es die letzte Citroen-Baureihe ist, die noch hydropneumatisch gefedert wird. Die Druckspeicher für die Federung / Dämpfung sehen dabei aus, wie gestauchte kleine Wok-Töpfe mit einem Deckel, denen man am Boden noch einen kleinen Standzylinder verpasst hat. Wenn man die Motorhaube öffnet, scheint es fast so, als wären sie die Torwächter zur Fahrgastzelle.

Noch eine letzte Wendung, bevor der Text, der sich bis hierhin fast automatisch entwickelt und bewegt hat, zu Ende geht. Mit einer pneumatischen Federung fährt es sich natürlich bequem (Vielleicht auch daher der Werbe-Slogan „Nichts bewegt Sie wie ein Citroen“, der allerdings noch eine andere Bedeutung bekommt, wenn man die Werkstattrechnungen begleichen muss. Auch interessant ist der fast schon existentialistische Slogan aus den 50er Jahren: „Du vin, du pain, du Citroën.“). Aber das Pneuma hat natürlich auch eine lange philosophische und theologische Geschichte. Es ist nicht nur der (Heilige) Geist, der sanft Geist, sondern auch der entflammende Geist, der wiederum das Zerstörerische und das Böse in sich zu bergen vermag (zu Geist, pneuma, spiritus und ruah siehe auch: Jacques Derrida: Vom Geist: Heidegger und die Frage. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988.). Die beiden herbeizitierten Bücher, auch wenn das Auto dort als belangloses Gebrauchs- oder Luxusgut eingeführt wird, heißen schließlich „Schlachthof und Ordnung“ und „Vernichten“. Literatur ist immer auch Pneumologie und diese wiederum ist niemals harmlos. Genauso wenig wie der Tausch und der Tod – und so soll es sein. 

28. Juli 2022