____schwingungsbreite__________________________________

    
 

Ein anderer Ausgang?!

Ach, wie schön könnte das Leben sein, wenn die Welt doch schöner wäre. Die Welt hat durchaus schöne Seite, wer könnte dies bestreiten. Und manchmal kann man sich die Welt auch schön denken, oder sie sich schön sehen und hören. Vielleicht muss man sie sich manchmal auch schön trinken. Doch in grossen Krisenzeiten helfen diese Ideen nicht wirklich; das mit dem Trinken vielleicht ein bißchen. Von heute aus betrachtet kommen mir die letzten 20-30 Jahre wie eine grosse Atempause vor, die sich nun ihrem Ende zuneigt. Die Geschichte fängt wieder an, mit aller Macht wild um sich zu schlagen. Dies wirkt umso eigenartiger, als dass auch zuvor, in der 2-WK-Nachkriegsordnung, die Zeit an vielen Stellen still zu stehen schien. Mit den Atomwaffen wurden nicht nur das gegnerische System abgeschreckt, sondern ein wenig auch der Zeitenfluss, so könnte man meinen (Ein Politologe titelte nach '89 furchtsam ereignis-ahnend, aber folgerichtig: "Der Tunnel am Ende des Lichts"). Eine Illusion, denn genug passiert ist nach '45 allemal. Der Schrecken hat viele Gesichter und beizukommen ist ihm scheinbar nicht.

Auch wenn der Schrecken ubiquitär sein sollte und sich sehr oft das Leid hinzugesellt, man also schreckenstechnisch nur selten mit dem Schrecken davon kommt, sind die Schauplätze des Schreckens zeitlich und räumlich durchaus zu verorten. Sie bringen oftmals ihre eigene leidvolle Färbung mit sich, was insofern einen kleinen Trost zu spenden vermag, als dass sie das Erinnern ermöglichen. Und vor dem Schrecken ist manchmal die Ahnung, in der sich Zukünftiges in der Gegenwart ankündigt. Eine sich bewahrheitende Ahnung bringt mehr Kausalität mit sich, als ihr zusteht. 'Es hätte auch ganz anders kommen können', hat dann eine sehr blasse Färbung. Trotzdem frappiert es ungemein, wenn Sätze aus der Vergangenheit herüberwehen, die für die Gegenwart geschrieben sein könnten, wie zum Beispiel in Erich Kästners Faber von 1931:

"Und jetzt sitzen wir wieder im Wartesaal, und wieder heißt er Europa! Und wieder wissen wir nicht, was geschehen wird. Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende." 
Erich Kästner: Fabian: die Geschichte eines Moralisten. 5. Auflage 2020. Zürich: Atrium Verlag, 2020; S. 68

Wir sitzen wieder und wieder im gleichen Wartesaal, das wirklich provisorische Leben kündigt sich an, aber die Geschichte wird bestimmt einen anderen Ausgang nehmen, so wie sie es immer tut, wenn die Zeit sich durch sie bewegt. Allein, als eine Verheißung taugt dieser Gedanke wenig.

30. Juni 2022

Deprimierender Anfang

Ganz sicher gibt es unzählige Themengebiete, die in Frage kommen, wenn man mal über etwas wirklich Deprimierendes schreiben möchte. Unser Verhältnis zu den Tieren gehört auf jeden Fall dazu, wenn auch nicht vollumfänglich. Das Tier ist auch unser Freund, unser Begleiter, unser Beschützer, also vielfach ein Glücks- und Sicherheitsspender - aber natürlich auch eine Nahrungsquelle, die im Zuge der Industrialisierung der Lebensmittelerzeugung nicht nur erbarmungslos ausgebeutet, sondern selbst vollständig der industriellen Herstellung unterworfen wird. Wir alle wissen, dass diese Produktionsweise äußerst selten mit dem Tierwohl in Übereinstimmung zu bringen ist. Zunächst ist schon die reine Masse der getöteten Tiere verstörend, wenn man kurz darüber nachdenkt.

So wurden in Deutschland zum Beispiel im Jahre 2020 53 Millionen Schweine geschlachtet (siehe u.a. : https://www.landwirtschaft.de/landwirtschaftliche-produkte/wie-werden-unsere-lebensmittel-erzeugt/tierische-produkte/schweinefleisch/). Mathematisch gesehen wurden in jeder Sekunde 1,68 Schweinen das Leben ausgehaucht, so diese pneumatische Metapher in vielen Fällen auch nur den Hauch einer Chance hätte, mit der Realität zu korrespondieren. Während das postmortale verkaufsgerechte Zerstückeln der Tiere schmerzfrei abläuft, ist der vorhergehende Tötungsakt nicht immer empfindungsfrei beziehungsweise lebensfern.

In der ausgezeichneten Reihe 'Naturkunden', in denen in kleinen, wundervoll aufgemachten, bebilderten und fadengehefteten Büchern Tiere und Pflanze porträtiert werden, stellt der Kulturwissenschaftler Thomas Macho in seinem Schweine-Essay nüchtern fest: 

"Immer wieder geraten etwa Schweine lebend und bei Bewußtsein in die Brühanlagen, 2013 erlitten nach Presseberichten eine halbe Million Schweine diese Tortur." 117
Thomas H. Macho: Schweine: ein Portrait. Naturkunden, No 17. Berlin: MSB, Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, 2015, S 117

In unserer Kultur ist Tod und Leiden ein beliebtes Thema der Verdrängung, so dass man den Tieren zu Ehren sagen könnte, dass auch sie in diesen Vorgang integral mit eingebunden sind. In den meisten Fällen, in denen fleischverzehrende Menschen aufrichtig über die unhaltbaren Zustände der industriellen Tierhaltung reden, kann man nicht einmal von kognitiver Dissonanz ausgehen, da in Bezug auf tierische Nahrung Denken und Handeln so schön und komplett auseinanderfallen, wie das Fleisch vom Knochen, nachdem das Tier gekocht wurde (Zu diesem Themenkomplex gibt es einige Bücher. Zum Beispiel: Jonathan Safran Foer: Tiere essen. Frankfurt am Main: Fischer, 2019.)

Generell ist es kein Geheimnis, dass unsere Lebensweise, insbesondere die der Industriestaaten, auch wenn sie sich Dienstleistungs- und Wissensgesellschaften nennen, den anderen Lebewesen (und natürlich auch der Flora) nicht gut tut. Nach kurzer Suche weiß man folgendes: 

- Von geschätzten fünf bis neun Millionen Tierarten verschwinden jährlich zwischen 11.000 bis 58.000 (https://www.landsiedel-seminare.de/weltretter/artensterben.php). 

- Täglich werden ca. 150 wildlebende Tier- und Pflanzenarten von der Erde eliminiert (https://www.aktiontier.org/artikel/artenvielfalt-und-artensterben).

- Dazu sind ein Viertel der Säugetierarten, jede achte Vogelart, mehr als 30 Prozent der Haie und Rochen sowie 40 Prozent der Amphibienarten bedroht, vermeldet der WWF (https://www.wwf.de/themen-projekte/artensterben).

Der Mensch zerstört seine eigenen Lebensgrundlagen, heißt es dann. Oder: Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen. Auch wenn das Unbehagen an der eigenen Dummheit meines Erachtens nicht ausreichend sein wird, um ein wirkliches Umdenken zu befördern, ist es doch ein Anfang. In diesem Sinne kann man vielleicht folgende Geschichte lesen, die in einem weiteren Naturkunden-Buch, diesmal von Lothar Franz über Nashörner, wiedergegeben wird:

"So waren auch bald die Rhinozerosse aus vielen Teilen ihres angestammten Nashornlandes verschwunden: Ein einziger Jäger, John Alexander Hunter, schoss mehr als 1600 von ihnen, allein zwischen August 1944 und November 1946 erlegte er 996 Rhinozerosse - im Auftrag der kenianischen Regierung, die das Kamba-Land urbar zu machen wünschte. Später stellte sich heraus, dass Nutzpflanzen hier gar nicht gediehen - die Ausrottung der Rhinozerosse also überflüssig war."
Lothar Frenz: Nashörner: ein Portrait. Naturkunden, No. 36. Berlin: MSB Matthes & Seitz, 2017, S. 69

31. Mai 2022 

Motor der Geschichte

"Ja, Gewalt ist der Motor der Geschichte, das ist nichts Neues, das gilt für unsere Zeit ebenso wie für Hegels Zeit. Trotzdem frage ich mich, was sie bewirken soll." 
Michel Houellebecq: Vernichten. Köln: DuMont, 2022, S. 475

Wahrscheinlich ist es eine sehr moderne Vorstellung, dass die menschliche Geschichte eine Art Gefährt, dass sich nach vorne bewegt. Und dass diese Geschichte von einem Automatismus angetrieben wird, der sich wiederum durch rohe Energie speist. Im nachhegelschen Zeitalter wissen wir jedoch nicht mehr, wohin wir fahren. Vielleicht wird dieser Zustand solange andauern, bis wir bereit sind zu akzeptieren, dass wir nicht mehr angetrieben werden müssen, dass wir Energie nicht in Bewegung umsetzen müssen, dass unsere Geschichte keine Richtung ha - denn ist Gewalt nicht der unebdingte Richtungswille -, was nicht heißt, dass Geschichte sinnlos wäre, ganz im Gegenteil. 

30. April 2022

Dem Zufall begegnen

Nicht zufällig ist vieles im Leben zufällig. Ob Assoziationsketten auch dazu gehören? Ich erinnerte mich, dass es ein Paul Auster-Buch gibt, das den Zufall im Namen trägt und in dem ich einige Stellen markiert hatte. Und natürlich spielt der Zufall in diesem Buch eine Rolle, so auch bei dem Protagonisten der Geschichte:

"Einige Wochen las er fast nichts. Dann nahm er eines Abends Ende November ein Buch von William Faulkner in die Hand (Schall und Wahn), schlug es irgendwo auf und stieß mitten in einem Satz auf folgende Worte: <<... bis er eines Tages im tiefsten Überdruss alles auf eine Karte setzt ...>>."
Paul Auster: Die Musik des Zufalls: Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1992, S. 237

Daraufhin habe ich auch das Faulkner-Buch aufgeschlagen, es gibt in ihm keine Markierungen, um Folgendes zu lesen:

"Die Schatten auf der Straße waren so reglos, als wären sie mit einer Schablone aufgezeichnet, mit den schrägen Stiften der Sonne." 
William Faulkner: Schall und Wahn: Roman ; mit einer Genealogie der Familie Compson. Diogenes-Taschenbuch. Zürich, 2008, S. 123

Kann man gleich eine schöne Metaphernwelt aufmachen: Wir alle sind Schatten – oder mehr platonisch: das, was wir als wirkliche Welt wahrnehmen, sind nur die Schatten der Dinge (und hatte ich nicht letztens einen aufschlussreichen Text gelesen – von wem nur? –, in dem es um die verdrehte Rezeption dieser Schatttengeschichte ging? Vielleicht finde ich ihn zufällig wieder).

Wir alle leben in Zufälligkeiten. Zufälligkeiten der Vergangenheiten, der Gegenwart und der Zukunft. Unsere Herkunft ist kein Resultat einer Abstimmung, unsere Zukunft größtenteils ungewiss und die Gegenwart ereignet sich in eigenartigen Windungen. Es bedarf schon großer metaphysischer Anstrengungen und / oder großer verschwörungstheoretischer Windungen, aber konvertiert nicht beides, um diesen Zufall negieren zu können. Ein Beispiel:

"Die Beobachtung der Welt zwingt uns, von einem Kosmos zu sprechen und jegliche Zufälligkeit auszuschließen. (...) Wenn der Kosmos aber eine geordnete Einheit darstellt, dann muss auch überall die gleiche Gesetzmäßigkeit herrschen, im Großen wie im Kleinen, wie oben, so unten."
Thorwald Dethlefsen:Schicksal als Chance: das Urwissen zur Vollkommenheit des Menschen. München: Goldmann, 2006, S. 34

Sollte es keinen Zufall geben, so hat das Schicksal entschieden, mich nicht an dieser Erkenntnis teilhaben zu lassen – also in aller Notwendigkeit. Aber vielleicht hat das Schicksal mir auch damit eine Chance gegeben. Was also bedeutet der Zufall? Robert Anton Wilson schlägt zur Erforschung des Denkens das folgende Experiment vor:

"1. Denken Sie so intensiv wie möglich an ein normales 10-Pfennig-(Cent sb)-Stück und stellen Sie sich vor, sie würden eine solche Münze auf der Straße finden. Jedesmal wenn Sie spazierengehen, suchen Sie auf der Strasse nach ihr und versuchen Sie auch weiter, ihr Bild stets vor Augen zu haben. Warten Sie ab, wie lange sie brauchen, um ein solches 10-Pfennig-Stück zu finden." 
Robert Anton Wilson: Der neue Prometheus: Die Evolution unserer Intelligenz. Kreuzlingen München: Hugendubel, 2003, S. 23

Er schlägt dann 2. vor, den Fund durch eine selektive Wahrnehmung zu erklären und weiter zu suchen. 3. Soll man sich von der Hypothese leiten lassen, dass das Gehirn alles beeinflusst und dann ebenfalls weitersuchen. 4. soll man die Zeit messen, die zum Auffinden des Geldstückes benötigt wird, und zwar sowohl nach der zweiten als auch nach der dritten ‚Methode‘. 5. Soll man ähnliche Experimente ausführen und beide Theorien vergleichen: selektive Wahrnehmung (Kontrolle) versus Kontrolle durch das Gehirn (Psychokinese).

Wenn wir nicht auf unsere psychokinetischen Fähigkeiten vertrauen, so ist es die selektive Wahrnehmung, die den Zufall zwingt zu verschwinden, ihn gleichsam als Zufall auslöscht. Unser Wille zur Bedeutungsfindung, der mit der selektiven Wahrnehmung verknüpft ist, sorgt dafür, dass bestimmte Ereignisse aus den Zufallskontinuum herausgehoben und ausgegliedert werden. Wir sehen einen schwarzen Raben, danach eine schwarze Katze und es ist Freitag der dreizehnte. Am gleichen Abend stirbt eine uns vertraute Person. Kann das Zufall sein? Etwas anders liegt der Fall bei Sigmund Freud, der in seiner Untersuchung „Zur Psychopathologie des Alltaglebens“ darauf hinweist, dass viele der zufälligen Dinge, die uns widerfahren, nicht so zufällig sind, wie sie scheinen:

“Untersucht man die scheinbar willkürlich gebildete, etwa mehrstellige, wie im Scherz oder Übermut ausgesprochene Zahl, so erweist sich deren strenge Determinierung, die man wirklich nicht für möglich gehalten hat.”
Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltaglebens; Frankfurt/M: 1969 (1904); S. 190

Die scheinbare Zufälligkeit verdeckt dem Bewusstsein, dass unser Unbewusstes unermüdlich bei der Arbeit ist. Man kennt den sprichwörtlichen Freudschen Versprecher, der eine Wahrheit offenbart, die uns – im Angesicht des/der Anderen – in seiner Offenheit unangenehm ist. Demnach determiniert unser Unbewusstes uns auch dort, wo wir uns im Vollbesitz unserer Entscheidungsfreiheit wähnen oder lediglich eine bedeutungslose Zufälligkeit sehen möchten. Selbst ein Unfall kann seine zufällige Unschuld verlieren, wenn er im zum Beispiel im Dienst einer unbewussten Selbstschädigung steht. Andere Fehlleistungen ließen sich hier anschließen. Doch heißt das nicht, dass das Unbewusste die Totalität unseres Lebens determiniert. Der Zufall wird hier nur partiell in Anspruch genommen, um im Dienste einer verdeckten Macht bestimmte Konflikthaftigkeiten zu vermeiden. So könnte zumindest eine Lesart lauten. Andererseits: gibt es vielleicht einen Willen zum Sinn (s.o.), der nachträglich noch den zufälligsten Begebenheiten seinen Stempel aufzudrücken vermag. Aber die Dinge beginnen hier verwickelt zu werden. Denn ebenso wie ein scheinbar zufälliger Unfall das unbewusst herbeigeführte Resultat einer Selbstschädigung sein könnte, ist es umgekehrt nicht abwegig, wenn zum Beispiel ein wirklich zufälliger Unfall, bei dem beispielsweise Menschen zu Tode kommen, von einem Überlebenden sich selbst schuldhaft zugerechnet wird. In Bezug auf unsere Deutungsmuster gilt also: Was zufällig wirkt, ist unter Umständen gar kein Zufall, und was nach einer selbstverursachten Angelegenheit aussieht, oder einer Begebenheit, die uns adressiert, ist vielleicht ein reiner Zufall. 

Was man zumindest festhalten kann, ist die Verantwortungslosigkeit, die mit dem Zufall einhergeht. Was einem zufällig widerfährt oder was sich zufällig ereignet, ermangelt einer Ursache oder einer tieferen Bedeutung. Das gilt für die Dachpfanne, die sich zufällig löst und einen ahnungslosen Passanten auf den Kopf fällt, genauso wie für die Lottozahlen, die gezogen werden und einige Gewinner und sehr viele Verlierer hervorbringen. Dabei ist es keineswegs so, dass sich aus diesen Zufälligkeiten nichts Bedeutsames ergeben könnte – der Dachpfannenunfall oder der Lottogewinn zeigen dies. Nur schwindet die Zurechenbarkeit dieser Wirkung ins Nebulöse. Vielleicht wird man herausfinden können, dass die Dachpfanne durch einen Pfusch am Dach ins Fallen kam und die Ziehung der Lottozahlen manipuliert wurde. Das wäre die schon besagte Rückabwicklung des Zufalls, hin auf eine Ursache, auf eine Verantwortung. Aber ist der Zufall intakt, arbeitet er so nicht. Um den Zufall näher zu kommen, eignet sich allenfalls die Wahrscheinlichkeit. Trägt man genug ‚verwandte‘ Zufallsereignisse zusammen und definiert ihre Voraussetzungen, kann man den Zufall zwar nicht eliminieren, aber doch abschätzen. Unter idealen Bedingungen wird ein Münzwurf mit fünzigprozentiger Wahrscheinlichkeit die Kopfseite zum Ergebnis haben, was nichts daran ändert, dass die hundertmalige Wiederholung dieses Wurfes ganz zufällig hundertmal die Zahlseite zum Ausgang haben kann. Die Wahrscheinlichkeit lässt sich in diesem Fall auch ziemlich einfach berechnen (mit einer ähnlichen Operation wird übrigens aus einer unabsehbaren Gefahr ein kalkulierbares Risiko. Siehe: Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos. Berlin ; New York: W. de Gruyter, 1991).

Demnach ist der Zufall auch eindeutig vom Wunder abzugrenzen. Denn ein Wunder transzendiert die Möglichkeitsbedingungen unseres Seins, während der Zufall, also der säkularisierte Bruder des Wunders, nur aufgrund seiner Unwahrscheinlichkeit auf sich aufmerksam macht. Und auch hier gilt: Während das Wunder zwar ebenfalls keine wirkliche Ursache im wissenschaftlichen Sinne vorweisen kann, zwingt es uns aber ob seiner überwältigenden Außergewöhnlichkeit an eine höhere Macht zu denken, wenn nicht gar an sie zu glauben, während der Zufall nur eine auffällige Abzweigung der endlosen Abzweigungsketten des Schicksals darstellt.

Was also kann man mit dem Zufall anfangen? Dort wo der Zufall bewusst auf den Sockel unseres Seins gehoben wird, ist Skepsis angebracht. Sehr wohl gibt es strukturelle Ungleichheiten, die das Leben und seine Möglichkeiten beziehungsweise Versagungen perpetuieren, und deren postulierte Zufälligkeit allenfalls das Feigenblatt für das Nichtstun derer ist, die es besser wissen müssten. Und wie Freud schon darlegte, ist das eigene Ich in Bezug auf solche Verschleierungstaktiken nicht weniger erfinderisch. Man muss nicht immer in die Ferne schweifen, um sich mit dem Freund Zufall aus der Verantwortung zu stehlen. 

Auf der anderen Seite ist der Zufall ein großer Zerstörer von Sinnhaftigkeiten aller Art. Das ist zuweilen schwer erträglich, weshalb zum Beispiel die schon angesprochenen Verschwörungstheorien ihre Kraft wohl weniger aus der Kohärenz und Wahrscheinlichkeit ihrer Geschichte ziehen, sondern aus dem untergründigenen, um nicht zu sagen unbewussten Widerstand, den sie den Kontingenzen des Lebens entgegenbringen können (wie all unsere imaginären Anstrengungen). In ihrer Stabilisierungsfunktion muten diese Theorien zuweilen sehr komisch an – wer könnte sich bei der Vorstellung, dass die Menschheit eigentlich von Reptiloiden beherrscht wird, ein ungläubiges Lächeln nicht verkneifen -, obgleich ihnen jeder Humor und Ironie strukturbedingt völlig abgeht. Ist doch die Ironie der dezente Hinweis auf unsere postmoderne Verfasstheit, d.h. ein Hinweis darauf, dass unsere Überzeugungen durchaus zufällig sind (siehe: Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2018).

Zu einer intelligenteren ‚Lösung‘ der Zufallsproblematik ist Friedrich Nietzsche im 19. Jahrhundert gekommen, der erst gar nicht versuchte, den Zufall in ein harmonisches Ordnungsgefüge einzugliedern und damit aus der Welt zu eskamotieren – solche geschichtlich gescheiterten Versuche wertete er als Zeichen der Schwäche: nein, bei Nietzsche läuft die Erlösung vom Zufall durch seine volle Anerkennung, durch die absolute Bejahung des Zufalls, mit der kleinen Modifikation, dass man sich zum Zufall nachträglich eine Geschichte einfallen lassen muss, die dem ganzen jenen Sinn gibt, der es mir erlaubt zu sagen: so wollte ich es, so sollte es sein.

„Und das ist all mein Dichten und Trachten, daß ich in Eins dichte und zusammentrage, was Bruchstück ist und Rätsel und grauser Zufall. 
Und wie ertrüge ich es, Mensch zu sein, wenn der Mensch nicht auch Dichter und Rätselrater und der Erlöser des Zufalls wäre!
Die Vergangenen zu erlösen und alles »Es war« umzuschaffen in ein »So wollte ich es!« – das hieße mir erst Erlösung!“
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra: ein Buch für alle und keinen. Frankfurt am Main: Insel-Verl, 1992, S. 142

Zu Recht kann man Nietzsche eine Metaphysik des Willens vorwerfen, die sich dem Zufall durch jenen anderen Zufall entgegenstemmt, den der Dezisionismus mit sich bringt. Einen Auftakt zu einer poetischen Welterschließung bietet diese Idee jedoch allemal. 

Während der Zufall destabilisierend wirken kann und die Strategien zu seiner symbolisch-imaginären Einhegung geschichtlich eine große Tradition haben, hat sein Auflösungspotenzial zugleich auch produktive Momente, kann es uns doch von der Last der Verantwortung befreien. Der Ökonom und Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat diesen Zusammenhang in seinem Buch ‚Thinking, Fast and Slow‘ insofern berührt, als dass für ihn Erfolgsgleichungen zugleich auch Zufallsvariablen enthalten.

"success = talent + luck / great success = a little more talent + a lot of luck."
Daniel Kahneman: Thinking, Fast and Slow. London: Penguin Books, 2012, S. 177

Was im Vorfeld einer Unternehmung demotivierend wirken kann - nicht meine Herkunft, mein Charakter, mein Wissen, mein Talent können den Erfolg garantieren -, ist im Falle des Scheiterns zugleich auch entlastend. Nicht ‚ich‘ bin es, der scheitert, sondern es sind auch die zufälligen Umstände (oder können es sein). Je öfter ich es im Falle des Scheiterns neu versuche, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Zufall zu meinem Glück fügt (nun wird man das Verhältnis von Talent und Zufall im Einzelfall niemals klären können. Die, die es immer schon besser wissen – und wer kann sich von einer solchen Gruppenzugehörigkeit durchgehend freisprechen -, erklären den Erfolg, ebenso wie den Krieg im Nachhinein immer lückenlos, d.h. ohne Kontingenzanteile).

Zum Schluss: Wie also den Zufall begegnen? Wenn nicht alles unter Kontrolle ist, wenn das Ganze aus grundsätzlichen Gründen nicht gänzlich unter Kontrolle zu bringen ist, dann ist mit dem Zufall zu rechnen oder besser: kann man sich auf den Zufall einlassen, etwas aus ihm machen – mit und ohne Verantwortung (dies heißt auch Entsicherung: dies ist eine Dimension, die insbesondere das linke (deutsche) politische Denken mit aller Macht auszuschließen versucht, weil unterstellt wird, dass durch diese Lücke der Teufel kommt). Dies wiederum, so scheint mir, ist auch eine Akzeptanzfrage und berührt existentielle Momente, mit durchaus tragischen Dimensionen. Auch zufällig gefunden: David Richo und die fünf Dinge, die wir nicht ändern, doch akzeptieren können:

1. Everything changes and ends.

2. Things do not always go according to plan

3. Life is not fair.

4. Pain is part of life.

5. People are not loving and loyal all the time.

David Richo: The Five Things We Cannot Change: And the Happiness We Find by Embracing Them. Boston, Mass.: Shambhala, 2006

Auch wenn dies zufällig trivial sein sollte, geht daraus doch notwendig eine Auf-gabe hervor.

Heino Bosselmann hat das im Dezember 2021 am Ende seines Textes "Streß?" im Sezessions-Blog (böse, böse, böse) sehr poetisch so beschrieben:

"Scheinbar geht es immer um alles, eigentlich jedoch um nichts. Nur darf man diese Tragik nicht bejammern, sondern hat sie mit der Liebe zum Menschen zu tragen, gehört man doch selbst zur Gattung der Paradiesvertriebenen, die mit ihrer Natur in der Natur keine Heimat finden, und kann einerseits das Wahre, Gute und Schöne nur erfassen, wenn man andererseits gelassen in die Abgründe zu blicken vermag."
Heino Bosselmann - https://sezession.de/65008/stress

Die Formel könnte also lauten: Leben akzeptieren heißt den Zufall akzeptieren. Vielleicht – immer nur vielleicht – heißt die zufällige Begegnung mit dem Zufall: in den Abgrund schauen – und vielleicht manchmal – nur vielleicht – auch in den Himmel. 

31. März 2022

Das Gewissen am Tag des Herrn

Als junger Mensch gab es eine kurze Phase, in der ich als Messdiener Sonntags meinen Dienst versah. Heute gehe ich Sonntags nicht in die Kirche, sondern lese, so das Wetter mitspielt, meist ein Buch; öfters werfe ich auch einen Blick in verschiedene Bücher. Die Denktagebücher von Hannah Arendt sind als Zwischenlektüre dankbar. Man kann kreuz und quer blättern, die Länge der Einträge ist meist überschaubar, etwas Interessantes findet sich immer. Manchmal fügen sich Dinge, ganz zufällig (was in diesem Fall kurios ist, weil ich zunächst einen Text über den Zufall schreiben wollte). Und zwar steht dieser Zu-Fall im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche, der schon länger schwelt und in den letzten Wochen wieder verstärkt in den Medienfokus rückte. Vor allem die Unfähigkeit der Kirche sich zu einer wirklichen Aufklärung durchzuringen, ist ein großer Skandal und eine Verhöhnung der Opfer.

Inzwischen gibt es sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag zu dieser Sache ( https://de.wikipedia.org/wiki/Sexueller_Missbrauch_in_der_r%C3%B6misch-katholischen_Kirche_in_Deutschland ). Das Internetportal der katholischen Kirche informierte vor einigen Jahren über das Ausmaß des Dramas und schrieb von "insgesamt 3.677 Opfer, die von mindestens 1.670 Priestern und Ordensleuten in den Jahren von 1946 bis 2014 missbraucht wurden." ( https://www.katholisch.de/artikel/18889-spiegel-3677-falle-von-missbrauch-durch-geistliche ). Die Dunkelziffer wird hoch sein. Aber selbst wenn man die genauen Zahlen letztendlich nie erfahren wird, reichen schon diese Eckdaten, um fassungslos auf dieses Desaster und den fehlenden Aufklärungswillen zu blicken. 

Auch in Bezug auf die Ursachen des Mißbrauchs wurden Studien in Auftrag gegeben. Ergebnis: berufliche Krisen, Gefühle der Einsamkeit, soziale Isolation, eine Nähe-Distanz-Problematik, sehr selten Pädophilie (Norbert Leygraf, psychiatrische Studie im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz 2012). 2014 wurde eine weitere Studie unter Leitung von Harald Dreßing ebenfalls von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegeben. Hier kam man zu dem Schluss, dass Strukturen der katholischen Kirche den sexuellen Mißbrauch begünstigen, als da wären: klerikale Macht, Zölibat, Umgang mit Sexualität, insbesondere Homosexualität, Sakrament der Beichte (alle Angaben sind dem erwähnten Wikipedia-Eintrag entnommen: https://de.wikipedia.org/wiki/Sexueller_Missbrauch_in_der_r%C3%B6misch-katholischen_Kirche_in_Deutschland ).

Nun zu den Denktagebüchern von Hannah Arendt. Dort sind einige Einträge bezüglich des Gewissens zu finden, wobei sie sich mit dem Gewissen auch an anderer Stelle in ihrem Werk, zum Beispiel in ihrem Eichmann-Buch (1964) oder in dem Aufsatz "Über den Zusammenhang von Denken und Moral" (1971, zu finden in: Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Übungen im politischen Denken I. München, 1994) auseinandersetzt. In den Denktagebüchern, es ist ein Eintrag aus dem Jahre 1953, spricht sie davon, dass es ohne Einsamkeit kein Gewissen geben kann, "weil das Mit-mir-selbst-Übereinstimmen sich ja nur in der Zwiefalt und Zwie-tracht der Einsamkeit realisieren kann." (Hannah Arendt: Denktagebuch: 1950 bis 1973. München 2002, S. 443). Arendt weist darauf hin, dass die Maßstäbe des Gewissens nicht in der Einsamkeit gedeihen, sondern weltlicher Natur sind, wie zum Beispiel Mut und Ehre. Man könnte zum Beispiel auch die Gerechtigkeit hinzufügen. 

Indem ich mein Gewissen befrage, gleiche ich mich und meine Handlungen mit den Maßstäben ab, die in der Welt existieren. Die Maßstäbe existieren, um eine gemeinsame und sinnvolle Welt bewohnen zu können und mein Gewissen existiert (so es existiert), um meine Handlungen an diese Welt anzugleichen oder mit meinen Handlungen die Welt mit Bezug auf diese Maßstäbe besser zu machen. Wenn man so will, ist dieser Denkvollzug des Mit-mir-selbst-Übereinstimmens in zwiefältiger Auseinandersetzung das Gewissen. Der nächste Absatz im Denktagebuch lautet nun:

"Die erste Macht, welche das Gewissen aus der Welt schaffte, war die Religion, und zwar nicht wegen ihrer dogmatisch-tyrannischen Maßstäbe, sondern weil der wirkliche 'homo relegiosus' die Einsamkeit nicht kennt; er ist, sobald er allein ist, mit Gott, nicht mit sich selbst zusammen. (...) Er gehorcht Gott, nicht wie man seinem Gewissen 'gehorcht', sondern wie Menschen eben Anderen gehorchen, seien die Anderen Menschen oder Engel."
Hannah Arendt: Denktagebuch: 1950 bis 1973. München 2002, S. 444

Die von Arendt hier beschriebene Abschaffung des Gewissens muss und kann nicht als Gewissenlosigkeit im Sinne der Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen verstanden werden. Es geht ihr um die Unstrittigkeit des Gehorchens, das von Arendt scheinbar als eine Art Weisungsbefugnis verstanden wird. Wenn Gott mir befiehlt, weder an andere Götter zu glauben, noch zu töten, noch zu stehlen usw., so bedarf dies keiner weiteren Gewissensbefragung. Ganz im Gegenteil werden solche Handlungsweisen als moralisch hochwertig geschätzt. Und gibt es nicht wiederum unzählige Beispiele, in denen Priester zum Teil unter Einsatz ihres eigenen Lebens anderen Menschen geholfen haben?* Nichtdestotrotz steht Arendt ‚extern‘ legitimierten Handlungsnormen, z.B. auch solchen, die aus einer Funktionslogik oder einer Ideologie folgen, und seien sie auch noch so gut gemeint, skeptisch gegenüber. Ohne das Arendt diesen Gedanken an dieser Stelle weiter ausführt, folgt er doch aus ihrem politischen Denken, das man in diesem Zusammenhang vielleicht wie folgt fortschreiben kann: wenn die Welt strittig ist und ich ein Teil dieser Welt bin, dann muss sich diese „Welt-Strittigkeit“ auch in meinem Inneren öffnen, gerade wenn es um mich in der Welt oder um die Welt, die um herum ist, schlecht bestellt ist. Trotzdem hat der liebe Gott von seinen Priestern nicht verlangt, Schutzbefohlene sexuell und emotional zu mißbrauchen. 

Sicher nicht; was passiert aber, wenn in einem religiösen Kontext die eigene Innerlichkeit und die eigene Körperlichkeit mit ihren Ansprüchen, Sehnsüchten und Zweifeln mit einer Welt in Berührung kommen, die nicht allumfassend mit vorgezeichneten Geboten versehen ist. Hier scheint mir der arendtsche „Welt-Gedanke“ insofern interessant, als dass man mit Blick auf den Mißbrauchsskandal vermuten könnte, dass sich das priesterliche Denken auch hier nicht an weltlichen Maßstäben orientiert hat, um mit sich selbst in Zwietracht zu geraten. Vielmehr liegt es nahe, dass die eigene 'Not' mit Gott bilateral verhandelt und die Schuld des eigenen Handeln Gottes Gnade anvertraut wurde.** Religiös gedacht ist Gott mir immer schon voraus und kennt nicht nur meine Handlung, sondern auch meine Intention und meine Schwäche. Er kann nicht nur Strafen, sondern auch Verzeihen. So gesehen, handelt es sich um eine eigenartige priesterliche Zwiesprache mit Gott. Denn Gott ist dabei zugleich in der Position des Zeugens, des Richters, des Vergebers und des Trösters. Insofern kann man ihm weder folgen, noch gehorchen, noch widersprechen, weil hier kein Maßstab existiert, der Orientierung böte. Man begibt sich in Gottes Hand. Während das Gewissen auf die Welt mit ihren - wie auch immer gearteten - Maßstäben rekurriert, steht Gottes Urteil über meine Handlungen aus, solange ich lebe, bis ich sterbe. 

Weiterhin fördert das Zusammenspiel von Entweltlichung, die im Zölibat in Bezug auf den Körper bewußt vorangetrieben wird (zusammen mit der restlichen Sexualmoral), und den aus dieser Entweltlichung folgenden übergriffigen Handlungen vermutungsweise nicht die Sensibilität für die Verletzlichkeit der anderen Person und stärkt auch nicht das Gefühl für die Fragilität der Welt. Und wenn in letzter Konsequenz nach christlicher ‚Logik‘ nur Gott zu einer gerechten Strafe ‚fähig und befugt‘ ist, verliert auch die weltliche Gerichtsbarkeit und die weltliche Strafe als ‚welt-erhaltende‘ Instanz ihren Wert. 

Soweit ich sehe, ist Arendt später nicht nochmals auf die ‚religiöse Gewissenslosigkeit‘ zurückgekommen. Man kann nur darüber spekulieren, warum sie diese These nicht aufgegriffen hat. Skandalbefürchtungen, theoretische Zweifel? Wie das Zitat zeigt, hat Arendt die religiöse Gewissenslosigkeit mit dem Gehorchen begründet. Man könnte, wie hier versucht, noch andere Aspekte hinzuziehen, wie zum Beispiel den göttlichen Gnadenaspekt, mit dem sich die weltliche Seite eines Unrechtes leichter überspringen lässt. Sicherlich gibt es auch einen Unterschied zwischen dem Judentum und dem Christentum. Letzteres hat mit dem Liebesgebot die ‚religiöse Gewissenslosigkeit‘ einerseits entschärft, andererseits durch die transzendentale Rückkopplung aber auch die Tür für eine maßstabslose Innerlichkeit geöffnet.***

Was man sagen kann, ist, dass Arendt dem Dreiklang von ‚Denken - Einsamkeit - Weltbezug‘ den Vorzug vor der Trias ‚Glauben - Zweisamkeitstranszendenz - Gottesbezug‘ gegeben hat. Zumindest den Opfern wäre mit einer Besinnung der Kirche auf die weltlichen Gegebenheiten und auf das weltliche Gewissen (im eigentlichen Sinne ein politisches Gewissen) mehr geholfen, als mit der impliziten Annahme der noch ausstehenden göttliche Gerechtigkeit. Oder um Arendt zu paraphrasieren: mehr Denken, weniger glauben - mehr handeln, weniger beten.

-----------------------------------------

* Die einschlägigen Bibelstellen zur Beziehung: Gott <> weltliche Macht sind bekannt und fordern nicht unbedingt zur Einmischung in weltliche Angelegenheiten auf: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ (Joh. 18, 36). "Da sprach Jesus zu ihnen: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!" (Mark. 12, 17). Aber ‚die‘ Kirche hat dazu auch verschiedene Antworten gegeben.

** Bestimmt gibt es unter den ‚gefallenen‘ Priestern genügend Zyniker sowie (selbst)gerechte Sadisten, für die der Gottesaspekt nicht ‚zählt‘. Während der gottesgläubige und in ‚Not‘ geratene Priester mit seinem Unrecht sich zwar noch weiter von der Welt entfernt, aber mit seiner Schuld von Gott gesehen wird, haben die ersteren sich von Gott und der Welt verabschiedet. Letzteres nennen manche auch das Böse.

*** Im Unterschied zu einer ‚Immanenz-Ideologie‘, die in ihrer Buchstäblichkeit und Konsequenzhaftigkeit kein Halten kennt, hat die Religion mit ihren Vertikalbezügen und ihren ethischen Ansprüchen zweifelsohne nicht das Ziel der systematischen Vernichtung ihrer ‚Gegner‘. Trotz aller ‚Kreuzzüge‘ und ‚Inquisitionen‘ ist dieser Unterschied kein marginaler.

26. Februar 2022

Obdachlos und mit Liebe ins neue Jahr

Ich lese die ‚Subtile Jagden‘ von Ernst Jünger. Als ein entomologisches Buch kündet es nicht nur von kleinen Käfern, also davon, dass „Bugs“ nicht nur Fehler in einem Computerprogramm sind, sondern auch von anderen Zeiten, anderen Orten und vergessenen Begriffen - zum Beispiel vom Marterl; dies ist ein kleines religiöses Denkmal am Wegesrand, ein Pfeiler aus Holz oder Stein, das ein gemaltes oder skulpturales Andachtsbild als Erinnerung an ein Unglück zeigt.

Ich frage mich, ob in unserer an Unglück nicht armen Zeit ein solches Marterl noch Sinn ergibt. Als Memento Mori und Demutszeichen am Wegesrand spendet das Marterl im Rahmen seiner religiösen Möglichkeiten Trost und Hoffnung. Hingegen sind unsere Ansprüche an die Unglücksbewältigung von anderer Art. Wir suchen und finden Ursachen, Wahrscheinlichkeitsverteilungen und andere Zurechenbarkeiten. Wir bauen nicht auf Sand. Bekanntlich ist letzteres eine Sentenz aus dem neuen Testament. ‚Vom Hausbau‘ sind die dazugehörigen Sätze überschrieben:

„Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, fiel es doch nicht ein; denn es war auf Fels gegründet. Und wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf Sand baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, da fiel es ein und sein Fall war groß.“
Mt 7,24–26, Lutherbibel 2017

Ein ordentliches Fundament ist also von Vorteil. Ansonsten kann ein Haus unter ungünstigen Witterungsbedingungen einstürzen. Durch die Baustoffrevolution in der Mitte des 18. Jahrhunderts, es wurde der moderne Beton entwickelt, konnten nach und nach stabile Betonfundamente zum Einsatz kommen. Die Häuser besaßen in gewisser Weise nun ihren eigenen Fels. Und überhaupt ermöglichten Beton, neue Baustoffe und neue Techniken die Loslösung des Bauens von den Maßstäben, die einstmals die Baumaterie vorgaben. Wo Sand war, soll Beton werden. Für Martin Mosebach kann es an der Hässlichkeit moderner Stadtarchitekturen keinen Zweifel geben, wobei er diese auch auf die fast beliebige Formbarkeit von Betonwerken zurückführt. Sein Fazit ist ernüchternd.

„Meine Ratlosigkeit in der Frage, was mit unseren Städten geschehen soll, kommt aus der Überzeugung, dass ihre Zerstörung sich irreversiblen industriellen, ökonomischen und politischen Prozessen verdankt, die zu gigantischen Verlusten geführt haben, ohne dass ihr ästhetischer Gewinn sich mir schon andeutete.“
Martin Mosebach: Als das Reisen noch geholfen hat: von Büchern und Orten. München: C. Hanser, 2011; S. 48 f. > In dem Kapitel „Arme neue Stadt“

Die Schönheit moderner Städte ruht wahrscheinlich nicht nur im Auge des Betrachters, sondern liegt, wenn man Mosebach folgen möchte, größtenteils ganz außerhalb der Wahrnehmung. Moderne städtische Wohnblöcke scheinen in der Tat oftmals auf das funktional Notwendige, baustofftechnisch Günstigste und ästhetisch Rudimentärste heruntergebrochen worden zu sein, während die repräsentativen Großbauten einer Leistungsschau einer Formgebungsolympiade gleichkommen, ohne das ersichtlich wird, welche Stätte sie den Menschen und welchen Platz sie der gemeinsamen Welt einräumen. Jedoch: die kulturpessimistische Übertreibung schreibt sich immer leicht, ohne sich an ihr eigenes Staunen zu erinnern. Zeichnet nicht das Dach der Elbphilharmonie die Wellenbewegung des hafendurchquerenden Flusses nach, verdeutlichen die tanzenden Türme am Beginn der Reeperbahn nicht, dass die Verhältnisse auf St. Pauli nicht immer der Vorstadtnorm entsprechen, um zwei hanseatische Beispiel aufzugreifen?

Aber die oben zitierten neutestamentarischen Zeilen zum Hausbau galten nicht dem angehenden Hausbesitzer, sondern natürlich dem Gläubigen. Sein ‚Haus auf Fels gebaut‘ hat derjenige, der nicht an Äußerlichkeiten hängt, an Weissagungen, Dämonenaustreibungen und Machttaten, sondern den Willen des Herrn befolgt und sodann an seinen Früchten zu erkennen ist. Love is all you need, also christliche Liebe. Wir befinden uns auf einem metaphysischen Weg. Am Ende des Weges, so richtig be- und gegangen – und man muss dem Christentum absolut zugutehalten, dass die Gefahr einer Glaubensformalisierung und vorschnellen Glaubensgewissheit immer wieder thematisiert wird – gibt es eine Belohnung, genannt das ‚Himmlische Jerusalem‘:

„Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“
Die Offenbarung des Johannes, Offb 21,2-4, Lutherbibel 1984

Die „Hütte Gottes“ hört sich nicht nach einem Betonbau an. Aber ich weiß natürlich nicht, was Gott als Baumeister seinen Gefolgsleuten bieten wird. Neutestamentarisch bleibt als Empfehlung und Verheißung festzuhalten: glaubenstechnisch felsenhaft, erlösungstechnisch gottes-hütten-wohngemeinschafts-mäßig. Das alte Testament hingegen hat mit seiner bekanntesten biblischen Architektur-Erzählung noch anderes im Sinn. Gemeinhin wird der Turmbau zu Babel so interpretiert, dass die Menschen die Macht Gottes herausgefordert haben. Damit droht der Menschheit Größenwahn.

„Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder.“
Genesis / 1. Mose 11,1-4 Lutherbibel 1984

Die linguistisch damals noch monokulturell aufgestellte Menschheit verfällt auf die Idee, eine vertikal-architektonische Spitzenleistung zu vollbringen, um mit Gott auf Augenhöhe kommunizieren zu können - Gott-Mensch > Mensch-Gott. Aber was ist ein Monolith schon wert, wenn gleich daneben ein zweiter erscheint?

„Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe!“
Genesis / 1. Mose 11,6-7 Lutherbibel 1984

Gott erschuf also die Pluralität, hier die Sprachenvielfalt, um die Allmachtsansprüche der Menschen zu begrenzen. Dies ist zweifelsohne ein anti-phallischer Impuls, hat doch jeder Turm auch eine erigierte Seite oder Spitze. Gott hat in Babel also seine feminine Seite ausgespielt, was allerdings auch zeigen würde, dass diese Seite keineswegs immer destruktionsfrei arbeitet.

Der göttliche Eingriff ist der Menschheit zuträglich, wird aus der Monovertikalität nun die horizontal gegliederte Sprachen- und Weltenvielfalt samt verschiedenen Bau- und Wohnformen. Aber das ist natürlich keine abstrakte Sache. „Zur Welt kommen -Zur Sprache kommen“, so lautet ein Buchtitel von Peter Sloterdijk. Heißt auch: kaum auf der Welt, schon bahnt sich die Welt-Sprachverklammerung mit ihren Möglichkeiten und Untersagungen an. Der Sprach-Stoff, mit dem wir uns in der Welt einrichten bzw. von dem wir eingerichtet werden, der uns trägt, formt, transformiert, mit dem wir formen und transformieren, ist zwar überall verfügbar - wo aber liegt die Verfügungsmacht? Diese Frage hat bezüglich der Wohnideen und der Bauausführung sicherlich erhebliche Relevanz.

Trotz der Babel-Geschichte träumte ein Teil der Menschheit natürlich weiter. Und zwar von einem finalen Bau- und Wohnwerk, das den Verwirrungs- und Zerstreuungspotenzialen der realen und vielfältigen Welt etwas entgegenzusetzten hatte. Das Haus des Seins sollte fugenlos im Geist erblühen. Mit den Dynamisierungstendenzen der Moderne wurden alte Wohnideen verworfen. Nun sollte radikal neu gebaut werden, der Himmel auf Erden sollte erreichbar sein.

Bekanntlich kam man im 20 Jahrhundert der Hölle näher als dem Himmel. Unter anderem zog Jacques Derrida, Begründer der Dekonstruktion, Sohn einer sephardisch-jüdischen Familie, daraus Konsequenzen. Statt weiter Aufbau- und Neubauideen zu ersinnen, nahm er die göttlichen Babel-Geschichte ernst: Dekonstruktion. Nun galt es, den göttlichen Zerstreuungsfunken in all den Geisteswerken zu finden. Statt nach vorne/oben ging es nun horizontal zurück. Und siehe da: die Fundamente all dieser verheißungsvollen Denkgebäude genügten ihren eigenen Ansprüchen nicht. Der Abbau-Befund lautete: jedes Fundament ist in sich selbst brüchig, weil es auf anderen und älteren Fundamenten ruht, die es weder ersetzten noch zuschütten kann. Für das Bauen gilt: es gibt und gab kein jungfräuliches Bauland, wir stehen auf geschichteten Fundamenten, leben in schon gebauten Häusern, die teilweise einstürzen und unsere gesammelte Einrichtung erneut zerstreuen. In jedem Fundament wohnt ein Stück Babel. Peter Sloterdijk schreibt daher mit Bezug auf Derrida:

„Er (Derrida, SB) schien der Annahme zuzuneigen, wonach Menschen, symbolisch gesprochen, immer zum Wohnen in Altbauten verurteilt sind - und mehr noch immerzu Spukschlösser bewohnen, selbst wenn sie der Meinung sind, in den neutralen Gebäuden der Gegenwart zu residieren.“
Peter Sloterdijk: Derrida, ein Ägypter: über das Problem der jüdischen Pyramide. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007, S. 42

Man kann diesen Gedanken noch radikalisieren: stehen wir damit nicht immer auf ungesichertem Terrain und befinden uns in einsturzgefährdeten Gebäuden? Jeder Einsturz ein Ereignis und umgekehrt. Die menschliche Ereignisgeschichte als Katastrophenabfolge? Dies wäre ernüchternd, glauben wir in Baufragen, bewußt oder unbewußt, dass - symbolisch gesprochen - eine ‚feste Burg‘ sein wird. Alle Menschen haben einen konstruktiven Zug mit Blick auf eine zeitausgreifende Stabilität. Was hilft?

Man kann auf das ‚Himmlische Jerusalem‘ hoffen und dabei hoffentlich nicht vergessen, dass die Liebe in und zur Welt darüber nicht verloren geht. Gibt es eine Liebe beim und zum Bauen und Wohnen? Martin Heidegger hat in den 50er Jahren darauf hingewiesen, dass unser Aufenthalt als Sterbliche auf der Erde, der auch den Himmel und das Göttliche umfasst, mit dem Schonen, Bewahren und Pflegen zusammenhängt. Das hört sich zunächst wie ein konservativer Leitfaden zur Bewahrung unserer – waren diese jemals natürlich – Lebensgrundlagen an, was heutzutage auch bei linksökologischen Aktivisten*innnen hoch im Kurs stehen dürfte. Etwas weniger zugänglich ist hingegen diese Wohnaufenthalts-Anmerkung:

„Die eigentliche Not des Wohnens beruht darin, daß die Sterblichen das Wesen des Wohnens immer erst wieder suchen, daß sie das Wohnen erst lernen müssen. Wie, wenn die Heimatlosigkeit des Menschen darin bestünde, daß der Mensch die eigentliche Wohnungsnot noch gar nicht als die Not bedenkt?“
Heidegger, Martin: Bauen Wohnen Denken (1951), in: Gesamtausgabe - Band 7 - Vorträge und Aufsätze. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1976, S. 163

Wenn wir das Wohnen „immer erst wieder“ lernen müssen, dann scheint es keine Bauform zu geben, die für uns fertig ‚ist‘. Der Weg zum richtigen Wohnen ist demnach ein Suchen, kein Machen. Die Idee liegt nahe, zunächst mit den vorhandenen Bausubstanzen und Baustoffen (der Sand, der langsam verloren geht) sorgsam umzugehen. Weiterhin: wer sucht, sucht auch nach Antworten. Was aber, wenn eine Antwort nur vor dem Horizont einer Not auftauchen kann, die als Not nicht in der Logik des Problemlösens gedacht wird. Was, wenn das Problemlösen im eigentlichen Sinne auf keine Antwort angewiesen ist, weil sie den Mechanismus des Lösens schon ‚weiß‘. Das hieße, auf eine andere Antwort zu vertrauen, vertrauen darauf, dass wir eine Antwort von ‚woanders‘ empfangen werden. Wirkliches Warten wäre schon ein ‚Fortschritt‘. Und in Baufragen ist Warten inzwischen nicht unüblich. Bis dahin schauen wir in Liebe nach oben und sehen, wenn wir Glück haben: die Sterne.

30. Januar 2022